Wilhelmsburg. Autorin Carolin George hat sich für Sie auf den Weg gemacht. Heute führt der überraschende Pfad durch Hamburger Naturschutzgebiet

Der beste Platz, in Hamburg eine Tür durch die Luft fliegen zu sehen, ist eine Bank auf dem Moorwerder Hauptdeich. Und so fängt dieser Spaziergang eventuell schon mit einer Pause an, bevor er überhaupt begonnen hat.

Wer den Bus an der Haltestelle „Heuckenlock“ verlässt, findet sich nicht nur schwuppdiwupp in einem der überraschendsten Naturschutzgebiete Hamburgs wieder, sondern muss sich eben auch entscheiden: laufen oder sitzen – um auf den Seeadler zu warten.

Insgesamt gibt es 37 Naturschutzgebiete in Hamburg

„Da ist sie“, sagt Benedikt Domin und zeigt auf die Bank, die gleich oben auf dem Deich liegt, wenn man der Straße ein paar Dutzend Meter folgt und auf die Krone läuft. „Wer sich hier eine halbe Stunde hinsetzt, die Bäume gegenüber beobachtet und in den Himmel blickt, wird einen Seeadler sehen. Jedenfalls mit sehr sehr hoher Wahrscheinlichkeit.“ Benedikt Domin muss es wissen: Er arbeitet bei der Gesellschaft für ökologische Planung. Der Verein betreut 14 der insgesamt 37 Hamburger Naturschutzgebiete, darunter das Heuckenlock. Und genau dort, an der Bunthäuser Spitze, hat der Verein auch seinen Sitz.

Benedikt Domin auf der Bank am Deich im Naturschutzgebiet.
Benedikt Domin auf der Bank am Deich im Naturschutzgebiet. © Carolin George

Das Seeadlerpaar kennt Domin daher sehr genau. In seinem Horst in den Bäumen an der Süderelbe, vom Moorwerder Hauptdeich in Blickrichtung Neuland, zieht es gerade zwei Junge groß, ist also häufig auf Nahrungssuche und in der Nähe. Zu erkennen ist der majestätische Flieger an dem weißen Schwanz, dem hellen, wenngleich nicht weißen Kopf sowie dem leuchtend gelben Schnabel. Jeder, der schon einen dieser Vögel gesehen hat, wird auf die Frage hin, ob man sich denn wirklich sicher sein könne, ob der entdeckte Flieger wirklich ein Seeadler gewesen ist, sagen: „Wenn du einen Seeadler gesehen hast, dann weißt du, dass es ein Seeadler war.“

Wenn Sie dennoch nicht sicher sind, wenn Sie auf der Bank auf dem Deich sitzen und auf den Raubvogel warten, dann hilft Ihnen vielleicht ein Vergleich weiter, den kürzlich eine Holländerin gegenüber der Autorin beim Gespräch über den Riesenvogel zog: „Das ist, als wenn eine Tür durch die Luft fliegt.“ Benedikt Domin lacht, wenn er diese Anekdote hört. Und sagt ganz nüchtern: „Das stimmt ja auch. Schließlich hat ein Seeadler eine Flügelspannbreite von bis zu 2,50 Metern.“

Seine Biografie überrascht, denn Biologe oder Landschaftsplaner ist er nicht – sondern Einzelhandelskaufmann. Aufgewachsen in Kirchdorf, hat ihn die Natur aber schon als Kind fasziniert, und neben der Ausbildung und anschließender langjähriger Arbeit im Baumarkt steht er bereits seit zwölf Jahren mit einem Bein in dem Naturschutzverein. Er begann ehrenamtlich im Seeadlerschutz, später kamen Gebietsbetreuung und Gruppenführungen dazu. Bald macht er sein Teilzeit-Hobby sogar ganz zum Beruf: Der 30-Jährige wird einer der neuen Ranger der Hamburger Behörde für Umwelt, Klima, Energie und Agrarwirtschaft. Zu seinen Aufgaben gehört dann unter anderem, in allen Hamburger Naturschutzgebieten dafür zu sorgen, dass die Besucher und Besucherinnen sich an die Regeln halten, die in diesen Zonen gelten.

Etliche Spaziergänger seien abseits der Wege unterwegs

Eines ist dem Naturschützer, der regelmäßig Gruppen durch das Heuckenlock führt, nämlich besonders wichtig: „Ich möchte nicht nur zeigen, wie schön es hier ist. Ich möchte die Menschen auch dafür sensibilisieren, dass wir alle etwas dafür tun müssen, dass es so schön bleibt und sorgsam damit umgehen.“

Das tun eben längst nicht alle. Etliche Spaziergänger seien abseits der Wege unterwegs, Domin hat schon Badewannen und Klaviere auf dem Sand gefunden, „für Filmaufnahmen, ob privat oder gewerblich“. Wie oft er schon beleidigt, bedroht oder bespuckt wurde, wenn er Menschen auf ihr (Fehl-)Verhalten ansprach, das hat er nicht gezählt. „Ich setze dann auf Aufklärung. Sage den Leuten, dass wir alle in einem Boot sitzen.“ Doch wenn gar nichts hilft, dann wird der zukünftige Ranger auch ein Bußgeld für die Ordnungswidrigkeit verhängen dürfen.

An der Süßwassertideaue gedeihen viele selten Arten.
An der Süßwassertideaue gedeihen viele selten Arten. © Carolin George

Das Heuckenlock fasziniert den Kirchdorfer, weil es immer wieder anders aussieht. Das Besondere an der Fläche: Sie liegt außendeichs, ist also den Gezeiten der Elbe ausgesetzt. „Das Gebiet steht häufiger unter Wasser, dadurch verändert es sich ständig. Das macht es so spannend.“ Und lässt hier Arten leben, die anderswo nicht vorkommen: zum Beispiel den berühmten Schierlings-Wasserfenchel und die Wiebelsschmiele. Berühmt, weil die beiden Arten weltweit nur noch hier in der Süßwassertideaue wachsen: Denn die Gräser brauchen die Verbindung von Süßwasser und Gezeiten – und diese Verbindung ist selten. An vielen anderen Abschnitten der Elbe gibt es solche Auwälder wegen Flussbegradigungen, Vertiefungen, Eindeichungen sowie Uferbefestigungen gar nicht mehr. Und elbaufwärts von Geesthacht gibt es zwar Süßwasser, aber durch die Staustufe eben keine Gezeiten mehr.

Im Lebensraum Tideauwald gibt es viele Raritäten zu entdecken

Dann sind hier noch Raritäten wie Blaukehlchen und Eisvogel häufig auf Nahrungssuche. Apropos Eis: Zurzeit sieht es auf einigen Wegen aus, als habe es geschneit. Die Weiden blühen nämlich, und ihre weißen Blüten wirken auf dem Boden wie Flocken. Je nachdem, wie tief Sie einsteigen in das Gebiet – das heißt wie südlich Sie kommen, wird auch irgendwann das Hintergrundrauschen der Autobahn verstummen. Dann rauschen nur noch die Weiden und das Schilf.

Letzteres wächst hier besonders hoch: bis zu 3,50 Meter. Warum? Weil das Wasser der Elbe viele Nährstoffe mit sich führt – und die Pflanzen im Heuckenlock damit düngt. Eine weitere Konsequenz des Lebensraums Tideauwald ist entlang des Weges (von dem es nur einen einzigen gibt im Naturschutzgebiet) zu sehen: Zwei mächtige Pappeln liegen rechts und links des Pfades, umgekippt bei den Winterstürmen im Februar. „Die Pappeln brauchen keine tiefen Wurzeln auszubilden, weil sich das Wasser und die benötigten Nährstoffe so nah an der Oberfläche befinden“, erklärt Benedikt Domin. „Der Nachteil an den flachen Wurzeln ist: Ihnen fehlt der Halt.“ So sind die beiden Bäume nun ein eindrucksvolles Anschauungsobjekt für die Natur im Auwald, der hier, im Heuckenlock, noch einem Urwald gleicht.

Tipps, Anreise und Service:

  • Das Naturschutzgebiet Heuckenlock liegt am Moorwerder Hauptdeich auf dem südöstlichen Ende der Wilhelmsburger Elbinsel. An ihrem Zipfel, der Bunthäuser Spitze, teilt sich die Elbe in Norderelbe und Süderelbe.
  • Der Einstieg ins Naturschutzgebiet liegt wenige Hundert Meter von der Bushaltestelle „Heuckenlock“ (Linie 351, fährt vom S-Bahnhof Wilhelmsburg aus) entfernt. Es führt lediglich ein Weg durch das Gebiet. Das Informationshaus Elbe-Tideauenzentrum der Gesellschaft für ökologische Planung liegt nahe der Bushaltestelle „Freiluftschule Moorwerder“ (Linie 351). Es ist an Wochenenden von 11 bis 18 Uhr geöffnet und verfügt über ein Café. Dort gibt es auch Parkplätze.
  • Zum Leuchtturm, dem Leuchtfeuer Bunthaus, sind es von der Haltestelle „Heuckenlock“ zu Fuß etwa 45 Minuten (2,5 Kilometer) durch das Naturschutzgebiet, von der „Freiluftschule Moorwerder“ circa 15 Minuten (800 Meter). Wer für den „Langen Tag der Stadtnatur“ an diesem Wochenende keinen Platz mehr für eine Gruppenführung bekommt, kann jederzeit eine eigene Führung bei der Gesellschaft für ökologische Planung buchen: Sie kostet
    30 Euro pro Gruppe.
  • Am Sonnabend, 13. August, bietet der Verein außerdem eine Schiffstour „Die Obere Tideelbe von Hamburg bis zur Staustufe Geesthacht“ an. Mehr Informationen finden sich im Internet unter www.goep.hamburg (ohne .de)