Serie: Die schönsten Wanderungen in der Region. Carolin George hat sich für Sie auf den Weg gemacht. Heute: barrierefrei in Niederhaverbeck.

Die Rentierflechte ist nicht nur ein faszinierendes Gewächs. Sie ist auch ausgesprochen praktisch, wenn man nach der Farbe Hellgrün sucht. Die nämlich ist ansonsten recht selten hier zwischen Wacholder und Calluna. „Da kommt die Rentierflechte gerade recht“, sagt Daniela Grothues-Vervat und lacht. Das Farben-Such-Spiel ist Teil eines ganz besonderen Angebots in Niederhaverbeck: Spaziergänge für Menschen mit Demenz – auf dem einzigen barrierefreien Wanderweg der nördlichen Lüneburger Heide. Was für viele schön ist an den naturnahen Pfaden in der Gegend, ist für Menschen mit Rollator oder Rolli, oder die sich einfach nicht mehr ganz sicher auf den Beinen fühlen, oft der Grund, nicht mehr in der Heide spazieren zu gehen – respektive spazieren gehen zu können.

Naturerlebnis auch für Demente und Menschen mit Bewegungseinschränkungen

„Die sandigen Wege, die Wurzeln: All das sind Stolperfallen“, sagt Daniela Grothues-Vervat. Die zertifizierte Natur- und Landschaftsführerin zeigt seit vier Jahren hauptberuflich Gästen ihre Wahlheimat – sie ist vor sechs Jahren von Hamburg-Farmsen nach Asendorf gezogen. Zuerst zu Fuß oder auf dem Fahrrad, das übliche Angebot für Gruppen eben. Doch spätestens, als ihre Mutter nicht mehr so konnte wie sie wollte, da merkte die 45-Jährige: Naturnah ist zwar wunderbar – aber nicht für jeden etwas. An der Haverbeeke in Niederhaverbeck hat die Stiftung Naturschutzpark Lüneburger Heide bereits vor Jahren einen Wanderweg barrierefrei gestaltet: Eine eigens aufgetragene Schicht aus sehr feinem Schotter sorgt für eine ebene Fläche – für sicheren Tritt ohne Stolperfallen, für sanftes Rollen der Räder.

Weite Bögen, wassergebundene Decke, kaum Steigungen: Das macht den Rundweg im Tal der Haverbeeke so angenehm zu gehen.
Weite Bögen, wassergebundene Decke, kaum Steigungen: Das macht den Rundweg im Tal der Haverbeeke so angenehm zu gehen. © Carolin George | Carolin George

Richtig Klick gemacht hat es bei der selbstständigen Gästeführerin dann, als sie ihre Mutter gemeinsam mit einigen Freundinnen zu einem Ausflug mit Rollator eingeladen hatte. „Beim anschließenden Klönschnack im Gasthaus kamen die Damen aus dem Schnattern gar nicht mehr heraus“, erzählt sie. „Das hat mir gezeigt, wie aktivierend das Naturerleben ist.“

Voriges Jahr hat sie sich bei der Alfred Toepfer Akademie für Naturschutz im Bereich Naturerleben für Menschen mit (und ohne) Demenz fortgebildet. Jetzt arbeitet sie unter anderem mit Seniorenheimen zusammen, bietet öffentliche genauso wie private Führungen für Gruppen für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen an. Bei diesen Spaziergängen geht es vor allem darum, die Natur mit allen Sinnen zu erleben.

„Wir sehen uns Kleinigkeiten genau an.“

„Wir sehen uns Kleinigkeiten ganz genau an, wir fühlen und riechen. Natürlich nur, wenn die Teilnehmenden wollen“, sagt Grothues-Vervat. „Und wir suchen Farben.“ Ähnlich wie bei Spielen für Kinder in der Natur gehen die Spaziergänger in der Umgebung auf die Suche nach den Tönen, die die Gruppenleiterin ihnen auf Farbkarten zeigt. „Anschließend setzen wir uns alle an einen Tisch und malen mit den gefundenen Gegenständen ein Bild.“

Gefunden heißt hier natürlich tatsächlich gefunden: Die Dinge müssen bereits vom Strauch oder Baum gefallen sein, um mitgenommen zu werden und am Wegesrand liegen – wir befinden uns schließlich im Naturschutzgebiet, dem ältesten Niedersachsens, by the way.

Und davon zeigt der Weg entlang der Haverbeeke tatsächlich das volle Heide-Programm: In weit geschwungenen Bögen geht es entlang von Totholz, Birken, Besenheide und eben auch dem kleinen Flüsschen durch die so typische hügelige Heidelandschaft – gleichwohl ohne große Steigungen oder Neigungen.

Alle 200 Meter liegen Rastmöglichkeiten entlang des Weges, manchmal auch mit Tisch.
Alle 200 Meter liegen Rastmöglichkeiten entlang des Weges, manchmal auch mit Tisch. © Carolin George | Carolin George

Eine Flechte, die aussieht wie das Geweih eines Rentiers

Und ganz nebenbei erzählt Daniela Grothues-Vervat von all den Zusammenhängen aus der Natur, die sie so faszinieren wie die Rentierflechte. „Die Flechte sieht aus wie das Geweih eines Rentiers“, sagt sie. „Es gibt sie hier schon seit über 100.000 Jahren, also mit den klimatischen Folgen der Saale-Eiszeit. Das ist die Zeit, die der Gegend hier ihre Form gegeben hat.“ Noch spannender aber findet sie die Geschichten, die man sich in der Heide von den Binsengewächsen am Wasser erzählt. Denn in den Halmen liegt ein Mark, das die Frauen früher ausgeschält und zu Kerzendochten gedreht haben. „Und beim Gespräch währenddessen entstand wohl so manche Binsenweisheit.“ Oder der Wacholder. „Das ist wirklich mein Lieblingsphänomen“, sagt die freundlich dreinblickende Frau und bleibt an einem Kandidaten stehen. „Wenn sich der Samen eines anderen Gewächses sich durch Wind oder Vogelschiss im Wacholder fallen lässt, wächst diese Pflanze im Schutz des Strauches auf. Als Ammenbaum versorgt er den Zögling sogar mit Nährstoffen, zieht ihn auf“, erzählt sie. „Und wenn der Zögling dann größer ist als der Wacholder, stirbt der.“ Und dann sind da noch die alten Bräuche: Die früheren Heidebauern legten stets Wacholderzweige unter den Boden eines Schnuckenstalls, um die bösen Geister zu vertreiben. Heute noch werden seine Beeren – die streng genommen Zapfen sind – genutzt, um Hustensaft oder Salbe herzustellen. Und wer es weiß, steckt sich bei einer Wanderung gern einmal ein, zwei der blauen (das heißt reifen) Beeren in den Mund.

Warum die Wacholderbeere auch „Heide-Tic-Tac“ heißt

„In der Beere stecken ätherische Öle“, erklärt die Naturführerin. „Ein bisschen kauen, in ein Taschentuch ausspucken – und der Atem ist wieder frisch. Deshalb heißt die Wacholderbeere auch Heide-Tic-Tac.“

Der Rundweg ist perfekt ausgeschildert, verlaufen unmöglich.
Der Rundweg ist perfekt ausgeschildert, verlaufen unmöglich. © Carolin George | Carolin George

Wenn sie Menschen mit Demenz durch das Tal führt, dann merkt sie immer wieder, wie die Umgebung sie aufmerksamer werden lässt. „Viele kennen die Heide von früher“, sagt Grothues-Vervat. „Sie erinnern sich, hier schon einmal gewesen zu sein. Sie erleben die Natur als geschützten Raum und blühen richtiggehend auf.“ Und wenn sie nicht mit Demenzerkrankten durch die Heide bummelt, dann am liebsten bei Vollmond oder frühmorgens an Mittsommer: durch das Büsenbachtal oder die Fischbeker Heide.

Startpunkt ist am Gasthof Menke in Nie-derhaverbeck. Für Menschen mit Beeinträchtigungen gibt es dort Parkplätze, für Menschen ohne den Wanderparkplatz in Niederhaverbeck. Der Ort ist außerdem per Buslinie 156 der KVG zu erreichen sowie zwischen 15. Juli und 15. Oktober mit dem Heide-Shuttle.

Die ganze Runde ist 3,6 Kilometer lang, die Abkürzung 1,25 Kilometer. Sie ist sehr gut ausgeschildert und zählt seit diesem Jahr zu den zwölf „Heideschleifen“ entlang des Heidschnuckenweges. (www.heideschleifen.de)

Das Hotel Gasthof Menke verfügt über behindertenfreundliche Zimmer, die Terrasse ist barrierefrei zu erreichen. Außerdem gibt es in einem kleinen Außengebäude eine behindertenfreundliche Toilette, die ganzjährig geöffnet ist. Ein weiteres Behinderten-WC befindet sich am Restaurant Landhaus Haverbeckhof.

Wer eine Führung von Daniela Grothues-Vervat mitmachen möchte, erreicht sie unter der Telefonnummer 0171/198 79 13. Die nächste öffentliche Tour für Menschen mit Demenz ist während der Heideblüte am 23. August, doch sie bietet auch Führungen auf Anfrage an.