Hamburg. In keiner anderen Stadt gibt es alljährlich eine große Werkschau des Bauens. Wo die Lektüre jetzt Anstoß zu Debatten liefert.
Wie schnell sich wieder ein Jahr dem Ende entgegenneigt, zeigen die Lebkuchen im Supermarkt, die Glühweinbuden auf den Straßen – und das Architektur-Jahrbuch in den Buchläden. Inzwischen zum 35. Mal erscheint das Werk der Hamburgischen Architektenkammer – eine Anthologie, die in Deutschland einmalig ist und zweierlei zeigt: Über Hamburgs Architektur gibt es nicht nur viel zu erzählen, viele Hamburger wollen das auch lesen. Das Geheimnis des Erfolges liegt in der Mischung des Buches: Es geht eben nicht nur um die Bauwerke des Jahres, sondern auch um die Menschen dahinter, um aktuelle Fragen des Bauens und der Stadtentwicklung insgesamt.
Architektur in Hamburg: Neues Jahrbuch ist Zeitdokument der Stadt
„Das Jahrbuch ist ein Zeitdokument“, sagt Claas Gefroi, der 1997 – damals noch als Student – zur Redaktion stieß. „Wir sind Chronisten dessen, was passiert.“ Wer durch die Jahrgänge blättert, sieht die Veränderung. „Die Zeiten der großen Leuchtturmprojekte in Hamburg sind vorerst vorbei, inzwischen wird kleinteiliger gebaut und geplant, was der Stadt gut tut.“ Allein die Hälfte der porträtierten Vorhaben befassten sich mit dem Bauen im Bestand. „Wir bauen die Städte nicht mehr neu, wir entwickeln sie weiter.“
Eine der wenigen großen Quartiersentwicklungen hat es auf den Titel geschafft – das Burstah-Quartier, Stadtreparatur im besten Sinne am Ort des früheren Allianz-Hochhauses. Das Jahrbuch konstatiert, in dem Ensemble zwischen Hahntrapp und Nikolaifelet wird „der einstige Geist des Großen Burstah wieder lebendig, wenn auch in zeitgenössischen Formen transportiert“. Insgesamt präsentiert das Buch 20 Vorhaben, ausgewählt von einer Jury, die aus der Redaktion und dem Beirat besteht. „Jedes Jahr werden zwischen 120 und 150 Projekte eingereicht. Wir sind aber auch in der Stadt unterwegs und gehen auf die Büros zu. Das Jahrbuch soll ein Schaufenster dessen sein, was entsteht.“
Architektur-Jahrbuch beschreibt Hamburger Neubauquartiere wie kleine Perlen
In diesem Schaufenster stehen dann auch sehr unterschiedliche Werke, etwa der Umbau der Kirche St. Maximilian Kolbe (genannt die „Klorolle“) von LH Architekten, das Montblanc-Haus in Lurup, der Umbau eines Reihenhauses von Werner Kallmorgen durch Kawahara Krause Architects oder das spektakuläre Reetdach-Ferienhaus von Hadi Teherani. Zu Recht wird auch das Pergolenviertel in Winterhude ein weiteres Mal gefeiert – „kaum ein Wohngebiet erreicht in Deutschland eine gleichzeitig so einheitliche wie in ihren Details vielfältige stadträumliche Erscheinung“.
Zugleich legt das Jahrbuch den Finger in die Wunden – im „Hamburger Feuilleton“ geht es meinungsstark und faktenreich um Wege und Irrwege des Bauens. „Das Jahrbuch will Anstoß zu Debatten geben“, sagt Gefroi. Und das darf durchaus kontrovers sein: Der Stadtforscher Dieter Läpple (siehe Interview) befasst sich in seiner 18-seitigen Streitschrift mit der Stadt und dem Hafen und formuliert in seinem Text „Wann findet Hamburg den Mut, sich von dem Primat des Hafens zu verabschieden“ die These, der Hafen sei vom „Kraftmotor“ zur „Kraftfessel“ geworden. Texte wie diese sind es, die dem Buch regelmäßig Käufer und Leser außerhalb der Architekturklientel erschließen.
Architektur-Jahrbuch zeigt Abschied vom Wachstumsmythos
Auf nur vier Seiten, aber ebenso meinungsstark beschreibt Ullrich Schwarz Anfang und Ende des Sozialen Wohnungsbaus und räumt mit dem Wachstumsmythos auf: „Seit einiger Zeit verzeichnen die großen Städte keinen Einwohnerzuwachs mehr, sondern verlieren Bewohner an das Umland. Die Demografie – zumindest der sogenannten Biodeutschen – zeigt außerdem auf Dauer auch nicht gerade nach oben. Und die Zuwanderer … sind in der Regel auch keine Kandidaten für die Zwanzig-Euro-Wohnungen… Welche Hilfe wäre hier der teure Neubau?“
Lesenswert ist zudem, was der Bauexperte Dietmar Walberg zum Klimaschutz im Wohnungsbau schreibt: 90 Prozent der Gebäude des Jahres 2045, in dem die Republik klimaneutral sein soll, stehen bereits. Die sogenannten Effizienzhäuser oder Passivhäuser sind für ihn keine Lösung, „entspringen sie doch dem Technikverständnis eines fossilen Zeitalters“, getreu dem Motto „koste es, was es wolle.“ Der Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft für zeitgemäßes Bauen sieht die Lösung eher im Quartiersansatz und einer konsequenten Umstellung der Versorgung auf erneuerbare Energien.
- Immobilien Hamburg: Wohnungsmangel in Hamburg: Der GAU am Bau
- Immobilien: Hamburger Unternehmen Saga ist der Aldi des Wohnens
- Immobilien Hamburg: Der Wohnungsbau wird zu Scholz‘ Achillesferse
Bereits jetzt macht sich die Redaktion – Ullrich Schwarz, Dirk Meyhöfer und Claas Gefroi – an die Arbeit für das kommende Jahrbuch. Gefroi ist schon als Scout in der Stadt unterwegs. „Bei der Arbeit für das aktuelle Jahrbuch haben wir die Flaute am Bau noch nicht gespürt, ich fürchte aber, sie wird sich im nächsten Jahrbuch niederschlagen. Die Baukrise wird zu einem großen Problem vor allem für die Architekten und Büros, die sich mit Wohnungsbau befassen.“
Noch andere Dinge treiben den 55-Jährigen um. „Der Berufsstand des Architekturkritikers verschwindet, auch für freischaffende Autoren wird es wirtschaftlich immer schwieriger. Man kann es der Kammer deshlab gar nicht hoch genug anrechnen, dass sie diese Auseinandersetzung mit Architektur und Stadtplanung weiter ermöglicht.“ Nicht nur da ist Hamburg einzigartig.