Hamburg. Wir wollen mehr bauen, günstig bauen – und klimafreundlich. Wie das gelingen kann, weiß der Bauexperte Dietmar Walberg .
Es ist die Quadratur des Kreises – mindestens: Denn die Vorgaben sind nicht nur extrem schwer unter einen Hut zu bringen, sie widersprechen sich sogar: Die Bundesregierung möchte jährlich 400.000 neue Wohnungen bauen, diese sollen zugleich kostengünstig sein und strengsten Klimaanforderungen genügen. Denn Deutschland will bis 2045 klimaneutral werden. Wenn einer weiß, wie dieses Kunststück gelingen kann, ist das Dietmar Walberg, Leiter des renommierten Bauforschungsinstituts „ARGE für zeitgemäßes Bauen“ aus Kiel. In einer Studie für den Wohnungsbautag hat er nun die Lage analysiert. Immerhin – Walberg hält das vermeintlich Unmögliche für möglich. „Es kann funktionieren, wenn wir tatsächlich alle Register ziehen“, sagt der 59-Jährige. Ganz billig wird es aber nicht: Der Baufachmann hat ein Preisschild an das Ziel geklebt und ist im Billionenbereich angekommen.
„Wir reden bis 2045 über Investitionen zwischen 2,6 und 3,6 Billionen Euro nur für die energetischen Maßnahmen.“ Eine Summe, die selbst die Wiedervereinigung zum Schnäppchen macht. Walberg rechnet vor: Im Moment fließen deutschlandweit pro Jahr 285 Milliarden in Wohngebäude, 88 Milliarden in den Neubau und knapp 197 Milliarden in den Bestand, also in Modernisierung, Instandhaltung, Erneuerung. Davon werden jährlich 50 Milliarden Euro in energetische Sanierungen investiert. Steigen Modernisierungsrate und Anforderungen wie politisch gewünscht, dürfte sich diese Summe verdrei- bis vervierfachen. Bis 2045 summieren sich diese Zahlen damit auf 3,6 Billionen Euro – ohne Inflation. Das ist mehr als die gesamte Wirtschaftsleistung der Bundesrepublik im vergangenen Jahr.
Stadtentwicklung: Mehr bauen, günstig und klimafreundlich - wie geht das?
Gebäude klimaneutral zu machen ist so aufwendig wie teuer: „Wenn man in der Industrie eine Tonne CO2 einsparen will, investiert man zwischen 10 und 130 Euro pro Tonne eingesparte CO2; im Wohnungsbau kostet die eingesparte Tonne hingegen zwischen 850 und 2500 Euro. Das ist ein Vielfaches und liegt an den teuren Einzelmaßnahmen.“ Das beginnt mit der Dämmung des Gebäudes und geht über die Umstellung der Heizung bis zur Wasseraufbereitung. „Die Gebäudeeffizienz ist der größte Kostenblock, den wir haben“, sagt Walberg. Er warnt davor, alle Häuser in Supereffizienzgebäude zu verwandeln. „Das werden wir nicht schaffen. Es ist weder von der Kapazität noch vom vorhandenen Material möglich.“ Der Baufachmann empfiehlt: „Erst wenn wir den Wohnraumbedarf Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre durch Neubau annähernd gedeckt haben, werden wir parallel mehr modernisieren können.“
Ohnehin ist der Experte ein Kritiker des Dichtens und Dämmens: „Ein Passivhaus hat mit Klimaschutz nichts zu tun. Das ist ein intelligentes Marketingkonzept des letzten Jahrhunderts. Damals ist man der Meinung gewesen, mit besonders vielen Maßnahmen, extremer Dämmung und einer entsprechenden Lüftungsanlage mit Wärmerückgewinnung ein Maximum an Energieeinsparung zu erzielen.“ In der Realität verbrauchen diese Gebäude mehr als prognostiziert, weil der Mensch sich anders verhält als vorhergesagt. Kalkuliert wurde mit einer Raumtemperatur im Wohnzimmer von 20 Grad, in Wahrheit aber betrage diese 21,7 Grad. „Und je älter wir werden, desto wärmer wollen wir es haben.“
Es geht um CO-Effizienz
Es gehe nicht darum, die Häuser immer weiter zu dämmen, sondern um CO2-Effizienz. Das Effizienzhaus 70 biete einen guten Standard, sagt Walberg. Hinter diesen Bezeichnungen verbirgt sich der Energiebedarf: Effizienzhaus 70 bedeutet, dass ein Gebäude theoretisch 70 Prozent der Energie eines Standard-Neubaus verbraucht. „Alles unter dem Effizienzhaus 70 ist unwirtschaftlich. Ein Effizienzhaus 55 oder ein Passivhaus sind im wirklichen Verbrauch nur marginal oder gar nicht messbar besser.“ Seine Schlussfolgerung: „Ein Gebäude mit mittlerem energetischen Standard und grüner Energieversorgung bringt für den Klimaschutz mehr als ein High-End-Gebäude mit Kohlestrom.“
Walberg und sein Team haben in ihrer Studie deshalb die Standards abgesenkt: Während die Bundesregierung die Anforderungen bis 2025 auf das höchste Maß, genannt Effizienzhaus 40, anheben will, rechnen die Kieler mit dem Standard des Effizienzhauses 70. Beim Umbau von Bestandsgebäuden kalkulieren sie mit 115 statt wie Berlin mit dem Effizienzhaus-70-Standard. Walberg erklärt, warum er anders rechnet: Ein bestehendes Ein- oder Zweifamilienhaus auf das Niveau eines Effizienzhaus 115 zu bringen, kostet laut Studie zwischen 660 und 1070 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche. Ein Effizienzhaus 40 ist demnach mindestens 50 Prozent teurer, kostet in der Spitze knapp 1600 Euro pro Quadratmeter. Würde man alte Gebäude in Supereffizienzhäuser verwandeln wollen, würden sich die veranschlagten Drei-Billionen-Kosten noch einmal verdoppeln.
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Fraglich ist allerdings, ob sich die Regierung daran orientiert: Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) zeigte sich beim Wohnungsbautag skeptisch. Energiepolitisch stoße diese Argumentation an eine Grenze. „Weil wir so einen Hunger nach Energie haben und einen Bedarf an erneuerbaren Energien - die ganze Industrie will Wasserstoff haben, die ganzen Autos sollen elektrisch fahren.“ Daher ergebe es Sinn, möglichst wenig Energie zu verbrauchen.
Fast noch dramatischer ist der Mangel an Planungskapazitäten
Doch der Kieler Experte Walberg sieht noch ein anderes Problem: „Das Baugewerbe ist mit dem Modernisierungen schon heute voll ausgelastet.“ Um die Sanierungsleistung angemessen zu steigern, bräuchten wir 50 bis 80 Prozent mehr Handwerker. „Die werden nicht vom Himmel fallen.“
Fast noch dramatischer ist der Mangel an Planungskapazitäten. „Wir haben einfach viel zu wenige Architekten und Planer, die sich im Segment der Modernisierung und des Altbaus tummeln. Wenn wir die Tragweite der Aufgabe ernsthaft angehen wollen, brauchen wir akademische Kapazitäten, aber die sind in einem furchtbaren Ausmaß zurückgefahren worden.“ Walberg weiter: „Wir können auch kein Material vom Weltmarkt zaubern, was nicht da ist. Die Ressourcen Material und Mensch definieren den Rahmen des Möglichen.“
Zudem stoßen die ehrgeizigen Wohnungsbauziele an Grenzen, weil Grundstücke fehlen. „Das Thema Fläche wird uns weiter beschäftigen“, sagt Walberg. „Wir tun gut daran, das Umland nicht weiter aufzublähen und weitere Speckgürtel zu schaffen.“ Laut seiner Studie kann und muss Deutschland in den kommenden 23 Jahren ungefähr 3,2 Millionen Wohnungen neu bauen. Walberg geht davon aus, dass wir verstärkt auch Großsiedlungen errichten werden, schränkt aber ein: „Hochhäuser sind kein günstiger Wohnraum. Wenn sie an die Grenze gehen, gehen die Kosten nicht mehr linear, sondern progressiv hoch – etwa wegen des Brandschutzes. Bezahlbarer Wohnraum entsteht da nicht.“ Das Hochhaus werde immer ein Nischenprodukt sein. „Die maßstäbliche Größenordnung des Wohnungsbaus liegt zwischen drei und sechs Geschossen.“
Trotzdem wird günstiger Wohnraum immer knapper
Die Chancen schlummern anderswo: „Das Potenzial, das allein der Umbau bestehender Gebäude bietet, liegt bei über 4,3 Millionen neuen Wohnungen“, sagt der Arge-Institutsleiter. „Eine Möglichkeit sind Aufstockungen, aber die sind teuer. Man sollte sie immer kombinieren mit der energetischen Ertüchtigung des Gebäudes“, so Walberg. Eine bloße energetische Modernisierung sei meist unwirtschaftlich, weil Aufwand und Nutzen selten in einem gesunden Verhältnis zueinander stehen. „Wir müssen es aus Gründen des Klimaschutzes machen, aber wirtschaftlich ist es nicht. Erst als Gesamtpaket im Rahmen der Aufstockung wird die energetische Ertüchtigung profitabel: Unten werden die drei oder vier vorhandenen Geschosse modernisiert, oben ein und zwei weitere Geschosse draufgesetzt.“ Die Aufstockung von Altbauten aus der Nachkriegszeit könne rund 1,5 Millionen neue Wohnungen bringen.
Eine weitere Möglichkeit sieht der Baufachmann in der Umnutzung von Gebäuden: „Da Homeoffice populärer wird, können wir einen Teil der Verwaltungs-, Büro- und Gewerbefläche anders nutzen. Die Hälfte aller Büros und Verwaltungsgebäude in Deutschland ist nach unseren Schätzungen mit einem überschaubaren technischen Aufwand dafür geeignet.“ 1,9 Millionen Wohnungen könnten so entstehen. Der Umbau kostet pro Quadratmeter Wohnfläche knapp 1300 Euro – ein Neubau hingegen mehr als 3400 Euro. Hier sieht Walberg eine günstigere Möglichkeit, Wohnraum zu schaffen. „Die Gebäude stehen, die CO2-Bilanz fällt deutlich besser aus, und so ließe sich günstig Wohnraum in innerstädtischen Lagen schaffen.“
Trotzdem wird günstiger Wohnraum immer knapper. Die Entwicklung auf den Immobilienmärkten nennt Walberg „komplett unvernünftig“. In Hamburg liegen die Durchschnittspreise in 22 Stadtteilen inzwischen über 10.000 Euro pro Quadratmeter. „Die Preise werden nicht sinken. Überhaupt nicht. Wir können die Preise nur stabilisieren, wenn wir unsere Wohnungsbauziele schaffen.“ Der Bauexperte rät jedem Kaufinteressierten, seine Bedürfnisse zu hinterfragen: „Brauche ich ein frei stehendes Einfamilienhaus oder reicht eine Eigentumswohnung oder ein vernünftiges Reihenhaus? Es wird zunehmend schwieriger, sich am Markt zu bedienen.“
Acht Millionen Menschen leben hierzulande in überbelegten Wohnungen
Das Problem reicht noch tiefer: „Die Schere geht dramatisch auseinander zwischen dem, was am Markt geschieht, und dem, was wir tatsächlich brauchen“, sagt Walberg. Gut die Hälfte aller Mieterhaushalte hätten inzwischen Anrecht auf einen Wohnberechtigungsschein. „Im Bereich des bezahlbaren Wohnraums in Deutschland haben wir noch nicht einmal zehn Prozent dessen geschafft, was nötig ist. Bei den Sozialwohnungen gerade mal ein Drittel.“
Acht Millionen Menschen leben hierzulande in überbelegten Wohnungen, wo es an Platz mangelt, wo Kinder kein eigenes Zimmer haben oder Wohnen und Schlafen in einem Raum stattfinden müssen. „Das ist ein Problem, das dramatisch wächst: Vor wenigen Jahren waren nur 6,9 Millionen Menschen betroffen“, sagt Walberg. „Unsere Grundrisse der Vergangenheit sind nicht mehr geeignet, den Bedarf von heute angemessen zu befriedigen.“
- Fünf Fragen
- Meine Lieblingsstadt ist meine Geburtsstadt Kassel. Das ist die schönste Stadt der Welt.
- Meine Lieblingsstadtteile sind die Viertel, in denen Hamburg noch nicht so lackiert ist, wo das Leben stattfindet – Ecken wie das Schanzenviertel oder der Kiez.
- Meine Lieblingsorte sind Hamburgs Schallplattenläden. Da hat die Stadt einiges zu bieten, Geschäfte wie Slam Records, in denen man die schwarzen Scheiben kaufen kann und nicht dieses digitale Zeug. Die CD wird nach und nach verdrängt und Geschmacksverirrungen wie Spotify hoffentlich bald verschwinden.
- Mein Lieblingsgebäude ist der Hamburger Hauptbahnhof. Er ist, wenn man von Norden kommt, zwar eines der größten Verkehrshindernisse der Welt, aber ich mag ihn sehr gerne: Das ist ein großstädtischer Bahnhof mit Leben und Gewusel, wo man einkaufen und gucken kann.
- Einmal mit der Abrissbirne würde ich die Verkehrsplanung der 60er und 70er-Jahre beseitigen, die furchtbaren Schneisen der autogerechten Stadt. Wir müssen die Stadt wieder so hinbekommen, dass man sie erleben kann. Ich bin der Ansicht, dass man noch einiges abreißen muss, vor allem Wohngebäude der 50er- und 60er-Jahre.
Deutschland hat in der Nachkriegszeit sehr viele kleine Wohnungen gebaut, in denen relativ große Familien wohnten, weil Wohnraum geschaffen werden musste, um die Menschen aus den Baracken herauszuholen. „Das sind heute Wohnungen, die man an diesen Standorten nicht mehr benötigt.“ Zugleich handelt es sich oft um die Gebäude, die nach einer Zielsetzung der EU energetisch schnell ertüchtigt werden sollen. „Das ist zwar physikalisch korrekt, bedeutet aber, dass wir Grundrisse und Wohnungen sanieren und konservieren, die wir nicht mehr brauchen.“ Deshalb sagt Walberg: „Diese rund zehn Prozent aller Bestände müssen ersetzt werden durch neuen Wohnraum, der die aktuellen Anforderungen erfüllt, altersgerecht zugeschnitten und energetisch effizient ist.“
Damit steht und fällt auch das ehrgeizige Wohnungsbauziel
Kritisch sieht er die zurückgezogene KfW-Förderung für Effizienzhäuser 55. „Es ist zum ersten Mal passiert, dass Bauvorhaben, die schon fest mit einer Förderung rechnen konnten, plötzlich ohne diese Zuschüsse dastehen und damit eine Finanzierungsunsicherheit gegeben ist.“ Aufgrund der massiven Kostensteigerungen waren die Programme auch für die soziale Wohnraumförderung von Belang. Walberg fürchtet einen „erheblichen Einschnitt in der sozialen Wohnraumförderung“.
Damit steht und fällt auch das ehrgeizige Wohnungsbauziel. „Dies ist nur zu schaffen, wenn wir die Kapazitäten sinnvoll einzusetzen: Wenn ich 400.000 Wohnungen baue, kann ich nicht gleichzeitig die Sanierungsrate verdoppeln oder verdreifachen.“ Er empfiehlt, in den kommenden Jahren auf Neubau zu setzen: „Wir haben schlichtweg noch Nachholbedarf.“ Hamburg mit seinem Ziel von 10.000 Wohnungen sieht er als Vorbild – das ist „das beste und ambitionierteste Programm“.
Das vom Kanzler verkündete Ziel von 400.000 Wohnungen jährlich nennt Walberg eine „Herausforderung“. Im vergangenen Jahr hat Deutschland nur knapp 330.000 Einheiten gebaut. Eine Wette schlägt er aus: „Ich habe bewusst bei unserer Prognose den Zeitraum bis 2030 gewählt und gehe davon aus, dass man über einen längeren Zeitraum mit durchschnittlich 400.000 Wohnungen rechnen kann. Ob man die pro Jahr schafft oder sich das verteilt, wird man sehen.“ Auf die Frage, ob die komplexen sozialen, ökonomischen und ökologischen Herausforderungen – die Quadratur des Kreises – politisch zusammen gedacht werden, hält sich Walberg diplomatisch bedeckt: „Da ist noch Luft nach oben.“