Hamburg. Ullrich Schwarz ist Erfinder des Architektursommers – im Jubiläumsjahr locken 300 Veranstaltungen zu Stadtentwicklung und Baukultur.

Es ist eine Hamburgensie – und längst eine Institution. Seit 1994 bekommt der Sommer an der Elbe alle drei bis vier Jahre eine ganz besondere Prägung. Nun ist es wieder so weit. Seit Mittwoch wird überall in der Stadt der Hamburger Architektursommer gefeiert. Ullrich Schwarz, Professor für Architekturtheorie, ist der Vater dieser Idee.

„Das war damals eine ziemlich einsame Entscheidung von mir: Ich hatte in den 80er-Jahren als Geschäftsführer der Architektenkammer begonnen und viele Veranstaltungen organisiert“, erinnert er sich im Podcast „Was wird aus Hamburg“.

Der Architektursommer blickt über den Tellerrand

„Damals fiel mir auf, dass man die tollsten Leute aus New York, London oder Paris einladen konnte und bekam volle Säle mit 500, 600 Personen. Aber es traf sich dann meist nur die Ingroup, die Szene, die Architekten, Leute, die etwas mit Bauen und Stadtentwicklung zu tun hatten. Im Grunde kamen wir über den Tellerrand nicht hinaus.“

Schwarz, von 1984 bis 2015 Geschäftsführer der Hamburgischen Architektenkammer, wollte das ändern und stellte sich die Frage, wie sich eine größere Öffentlichkeit erreichen ließe. „Meine Überlegung war, mit Institutionen, Gruppen und Akteuren zusammenzuarbeiten, die von Hause aus nichts mit Architektur und Stadtentwicklung im professionellen Sinne zu tun haben.“ Ihm ging es darum, ein anderes Publikum zu erreichen: „Das Thema Architektur und Stadtentwicklung geht alle an. Wir müssen Möglichkeiten schaffen, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen.“

Den Anfang machte eine große Fritz-Schumacher-Schau

Mit seiner Idee wandte sich Schwarz an die großen Kulturinstitute und Museen in Hamburg, stieß rasch auf offene Ohren – und rannte bald offene Türen ein. „Es brauchte eine gewisse Zeit, um den Partnern die Grundidee zu erklären und sie zum Mitmachen zu bewegen. Aber es hat gleich beim ersten Mal sehr gut funktioniert.“

Das erste Mal begab sich zu der Zeit, als Henning Voscherau Bürgermeister und Egbert Kossak Oberbaudirektor war. Der Start 1994 fiel im Vergleich bescheiden aus – während sich heute fast 300 Veranstaltungen im Programmheft aneinanderreihen, waren es damals nur knapp über 40: Als Höhepunkt des Premierenjahrs galt die Fritz-Schumacher-Ausstellung, die Hartmut Frank in den Deichtorhallen organisierte. „Das war eine große Sache, so anzufangen. Und dann ging es einfach weiter und immer bergauf. Bis heute.“

Stadtentwicklung Hamburg: Hunderttausende Besucher beim Architektursommer

Auch wenn keiner die Besucher der zurückliegenden neun Architektursommer gezählt hat, gibt es Schätzungen. „Wenn wir alles zusammenzählen, landen wir bei mehreren 100.000 Besuchern pro Jahr.“ Bei den nun geplanten knapp 300 Veranstaltungen komme einiges zusammen. „Wir haben unser ursprüngliches Ziel erreicht.“

Einen der Erfolgsfaktoren macht der 73-Jährige in der Zusammenstellung der Veranstaltungen aus – denn es gibt keine Auswahl. Wer mitmachen möchte, ist dabei. „Das ist das Geheimnis unseres Erfolges. Wir verstehen uns selbst als eine Art Bürgerinitiative. Wir sind ein gemeinnütziger Verein, und das ganze Projekt läuft völlig unhierarchisch.“

Sommer der Architektur: Dabei ist, wer dabei sein will

Es gibt keinen Kurator, keine Jury, die Anträge entgegennimmt, bewertet und aussortiert. „Es gibt einen Vorstand, der zur Kenntnis nimmt, was angemeldet wird.“ Dort sitzen neben Schwarz Prof. Claus Friede, Renate Kammer, Ferdinand Rector und Christoph Winkler. Nur in sehr wenigen Extremfällen sage man Nein, eher aus thematischen denn aus inhaltlichen Gründen. „Wir schreiben niemanden vor, welche Position er zu irgendwelchem Thema dazu vertreten hat. Da sind wir ganz offen.“

An den Magellanterrassen steht der Info-Pavillon
An den Magellanterrassen steht der Info-Pavillon © Matthias Iken (FMG) | Matthias Iken (FMG)

Rund eineinhalb Jahre vor dem Beginn des Architektursommers knüpfe das Organisationsteam Kontakte zu den einzelnen Veranstaltern, die sich dann alle drei Monate treffen. „Da sitzen 70, 80 oder sogar 90 Leute bei uns in der Architektenkammer im großen Sitzungssaal in drei Reihen hintereinander um einen Tisch herum. Mehr geht nicht. Jedes Projekt, jede Initiative hat genau zwei Minuten Zeit, um sich vorzustellen, da sitzt der Museumsdirektor neben einem Studenten oder einem Vertreter der Geschichtswerkstatt. Alle sind gleich, alle haben die gleichen Rechte, keiner wird bevorzugt. Und es funktioniert.“

Veranstalter arbeiten beim Architektursommer unentgeltlich

Es motiviere, dass in den 30 Jahren viele Veranstalter gerne wiederkommen und zugleich neue hinzustoßen. „Keiner der Veranstalter bekommt vom Architektursommer auch nur einen Cent – und trotzdem machen alle mit. Jeder muss seine Idee selbst finanzieren und organisieren.“

Der Verein Hamburger Architektursommer übernimmt die Gesamtkoordination, die Werbung und stellt das Programm zusammen. Der wichtigste Förderer der Veranstaltung ist die Behörde für Stadtentwicklung. Sie stellt in diesem Jahr 250.000 Euro zur Verfügung.

Architektursommer: Sponsoren haben den Pavillon in der HafenCity spendiert

Hinzu kommen Sponsoren, die beispielsweise den Info-Pavillon auf den Magellan-Terrassen finanzieren. „Der Pavillon ist voll gesponsert von einer Firma, die ihn für uns praktisch umsonst dort hinstellt. Es ist oft leichter, von einer Firma 100.000 Euro zu bekommen als 5000 Euro.“

Problematischer als das Geld war in der Vergangenheit oftmals die Genehmigung durch den jeweiligen Bezirk, erzählt Schwarz. Bedenkenträger stoppten manche Idee. In der HafenCity war es nun anders: „Die HafenCity GmbH hat uns sehr geholfen“, betont der Hamburger, der vier Jahre das Institut für Architekturtheorie an der TU Graz geleitet hat.

2023 bewegt sich „Zwischen Ökologie und Baukunst“

Dieser Architektursommer 2023 präsentiert sich politischer als seine Vorgänger, wie allein das Motto „Zwischen Ökologie und Baukunst“ zeigt. Eine Veranstaltung der Architects for Future – gleich die Nummer eins im Programmheft – lautet: „Baut keinen Scheiß“, am Bismarck-Denkmal gibt es „Decolonizing Echos“, eingeladen wird auch zu einer Fahrradtour „Rund ums Diekmoor“, das in Teilen bebaut werden soll. „Wir animieren unsere Veranstalter, auch die Punkte zu zeigen, die vielleicht wehtun und die in der Stadt umstritten sind.“

Schwarz nimmt ein wachsendes Interesse an Stadtentwicklung wahr. „Die Probleme werden nicht weniger, sondern nehmen eher zu. Damit wachsen auch die Zielkonflikte.“ Der Architektursommer nimmt die Menschen nicht nur mit an die faszinierenden, manchmal auch widersprüchlichen Orte in der Stadt, sondern lädt zugleich zur Zeitreise in die Vergangenheit Hamburgs.

Konferenz zum Städtebau von Werner Hebebrand

Gerade ging es bei einer Konferenz um das Wirken von Werner Hebebrand, der zwischen 1952 und 1964 Oberbaudirektor in Hamburg war und in dieser Zeit die Ost-West-Straße, Neu-Altona und die City Nord plante. „Er brachte bestimmte Konzepte des modernen Städtebaus mit nach Hamburg, den Zeilenbau mit viel Grünflächen dazwischen“, sagt Schwarz, der viele Bücher über Architektur verfasst hat.

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Hebebrand galt noch als ein Anhänger des alten Funktionalismus, er plädierte für die Trennung der Funktionen Arbeiten, Wohnen, Freizeit und Verkehr. „Wenn Sie sich alte Luftfotos von der City Nord ansehen, schauen Sie auf Solitäre, und dazwischen ist eigentlich nichts. Man hätte damals schon diskutieren können, ob das noch irgendetwas mit der Idee von Stadt zu tun hat.“

Stadtentwicklung Hamburg: Der Zeitgeist ist ein wichtiger Begleiter der Architektur

Schwarz sagt aber auch: „Hebebrand ist ein Kind seiner Zeit. Damals wurden ganze Stadtviertel saniert, der Begriff ist eine reine Verschleierung. Unter Sanierung verstand man den Totalabriss. Die Viertel aus dem späten 19. Jahrhundert galten als Negativfolie. Selbst die Neue Heimat hat noch in den 70er-Jahren geradezu Horrorfilme gezeigt, wie es in diesen Elendsvierteln in Hamburg zuging.“ Der Zeitgeist ist ein wichtiger Begleiter der Architektur.

Der Erfinder des Architektursommers blickt mit Stolz auf die fast 300 Veranstaltungen der zehnten Ausgabe: „Ich bin sehr gespannt auf die Ausstellung der Stadtentwicklungsbehörde – das wird eine Art Leistungsschau der letzten sechs Jahre. Sie zeigt die Wettbewerbsverfahren und damit zugleich, welche Entwürfe verworfen wurden. Da wird fast eine Alternativgeschichte der Stadt erzählt.“ Das sei hochinteressant wie mutig – und werde zu Diskussionen führen. „Das ist eine Kurzgeschichte des ungebauten Hamburg.“

Ullrich Schwarz arbeitet am Buch zum „ungebauten Hamburg“

Dieses ungebaute Hamburg ist ein Herzensanliegen des langjährigen Geschäftsführers der Architektenkammer, der heute dort noch als freier Mitarbeiter und Berater wirkt. Gerade arbeitet Schwarz an einem Buch zum Thema. „Im Moment konzentriere ich meine Kapazitäten auf den Architektursommer, aber ich hoffe, dass das Buch im nächsten Jahr erscheinen wird.

Da geht es um großflächige Planungen, die zum Glück nie realisiert worden sind wie das ominöse Projekt Alsterzentrum der Neuen Heimat in St. Georg, um Hochhauslandschaften in St. Pauli. Oder auch das Konzept, mehrere Autobahnen durch die Innenstadt zu legen, über und unter die Alster.“

Architektur: Bock auf Bismarck – die Installation des Sommers 2015

Besonders gern hingegen erinnert sich der langjährige Professor der HCU Hamburg an die spektakulären Installationen des vorletzten Architektursommers: Das Wiener Künstlerkollektiv Steinbrener/Dempf & Huber hatte 2015 eine Steinbock-Skulptur auf das rund 34 Meter hohe Bismarck-Denkmal gepflanzt: „Das war ein spektakuläres Projekt, an das ich mich gern zurückerinnere. Bei schönem Wetter kamen viele Tausend Menschen in den Alten Elbpark. Das ist genau unsere Absicht, in die Öffentlichkeit hineinzugehen und Dinge zu thematisieren.“

Weitere große Würfe der Vergangenheit seien die großen Ausstellungen über den italienischen Renaissance-Architekten Andrea Palladio oder den Dänen Arne Jacobsen gewesen, die parallel zum Architektursommer stattfanden. „Ich bedauere etwas, dass die großen Museen sich auf dieses große Parkett nicht mehr rauftrauen. Das ist ein bisschen schade.“