Hamburg. Der Stadtforscher Dieter Läpple beobachtet kritisch die Entwicklung seiner Wahlheimat – ein Gespräch über verpasste Chancen.

Sein Wort hat Gewicht. Wenn es in der Hansestadt um Fragen des Bauens geht, hören viele auf Dieter Läpple, dessen süddeutscher Singsang auch nach Jahrzehnten nicht aus der Stimme verschwunden ist. Er kennt als langjähriger Leiter des Instituts für Stadt- und Regionalökonomie an der TU Harburg die Streitpunkte der Stadt, er weiß als Professor für Internationale Stadtforschung an der HafenCity-Universität um die internationale Entwicklungen – und er ist auch mit nunmehr 80 Jahren so meinungsfreudig wie meinungsstark wie früher.

Im Podcast „Was wird aus Hamburg“ erinnert sich Läpple an seine Ankunft in Hamburg vor 35 Jahren, nachdem er zuvor in Amsterdam und Paris gelehrt hatte: „Ich war fasziniert von der Hafenstadt, aber erschrocken über diese Verkehrsschneisen. Damals wurde mir klar, dass es eine der wichtigen Aufgaben ist, die Stadt zu reparieren und ihre Potenziale zu entwickeln.“

„Hamburg ist auf einem interessanten Weg“

Überrascht habe ihn in den Achtzigerjahren eine gewisse Freudlosigkeit in der damals größten westdeutschen Stadt. „Ich wusste gar nicht, wo ich hingehen sollte, wenn ich einen Kaffee trinken oder etwas essen wollte. Das war schon etwas herb.“ Die Stadt habe sich seitdem unglaublich verändert. „Das ist fast eine Mediterranisierung von Hamburg mit all dem Leben, das inzwischen eingezogen ist.“ Die Stadt habe im öffentlichen Raum und auf den Plätzen ganz neue Qualitäten gewonnen: „Hamburg ist auf einem interessanten Weg“, konstatiert er.

Seit langem treibt ihn der Sprung über die Elbe um, die entscheidende Entwicklungsachse von Hamburg – schließlich lehrte der gebürtige Waiblinger von 1986 bis 2006 an der TU Harburg. „Schon damals sah ich ja die brachliegenden Potenziale. Deswegen habe ich mich später auch so gefreut, dass ich bei der IBA mitmachen durfte, beim Sprung über die Elbe.“ Er wurde 2006 Mitglied des Kuratoriums der Internationalen Bauausstellung Hamburg und zog später auch privat nach Wilhelmsburg. Läpple ist immer noch begeistert von der Arbeit der IBA, aber enttäuscht, wie mit dem Erbe umgegangen wurde.

Viele Projekte in Hamburg ausgetrocknet

„Die IBA hat in der kurzen Zeit wichtige Entwicklungen und ambitionierte Projekte angeschoben. Der Stadt fehlten jedoch der Mut und der Wille, diesen Weg konsequent weiterzugehen“, so Läpple. Nach dem Ende der IBA 2013 habe man viele Projekte austrocknen lassen: Er bedauert vor allem, dass der wichtige Ansatz, auf der Elbinsel eine Bildungslandschaft zu entwickeln, später ausgebremst und eingespart wurde.

„Unser entscheidender Ansatz war ja, die Schule aus dem engen Sichtfeld der Schulbehörde herauszubringen und mit anderen Bildungs- und Kultureinrichtungen zu verknüpfen. Hinterher fiel man wieder in alte Routinen zurück.“

Wilhelmsburg sollte wieder ans Wasser kommen

Zudem sei eine entscheidende Idee nicht umgesetzt worden: „Es ging um die Verzahnung der Stadtlandschaft mit der Hafenlandschaft und das Heranrücken an die Elbe. Wir wollten Wilhelmsburg wieder ans Wasser bringen, das wurde erst einmal radikal ausgebremst.“ Läpple fürchtet, dass sich inzwischen die Schwerpunkte in der Politik wieder verschoben haben – weg vom Süden und einem konsequenten Sprung über die Elbe, zurück zur Norderelbe und zum Hamburger Osten.

Läpple hadert auch mit dem Mangel an Mut, eine neue Universität auf dem Kleinen Grasbrook zu bauen. 2010 scheiterten diese Pläne am Widerstand der Besitzstandwahrer in Eimsbüttel: Der damalige Bürgermeister Ole von Beust (CDU) bezeichnete den Teilumzug wegen der finanziellen Situation der Stadt als „wünschenswert“, aber nicht mehr notwendig. Stattdessen leitete der schwarz-grüne Senat die Millionen in die Sanierung der Universität am bestehenden Standort um.

Neue Hochschullandschaft wäre möglich gewesen

„Der Umzug war ein fantastischer Plan. Was für eine Chance für Hamburg! Man hätte Wissenschaft und Forschung eine internationale Strahlkraft geben können, eine innovative Universität, eingebettet in einen amphibischen Stadtteil. Und man hätte zugleich eine neue Hochschullandschaft entwickeln können, durch das Zusammenführen von Potenzialen der Universität mit der TU und der zu gründenden HafenCity Universität.“ Hätte, hätte, Fahrradkette.

„Jetzt haben wir völlig fragmentierte Einheiten, und die Entwicklung dümpelt vor sich hin“, konstatiert der Hochschullehrer. „Das ist eine der Schattenseiten der Hamburger Entwicklung: eine halbherzige Hochschulpolitik seit Jahrzehnten.“ Inzwischen fürchtet Läpple, dass Hamburg bei der Entwicklung des Kleinen Grasbrook den Fehler wiederholt. „Die Stadt hat sich mit dem Hafen auf einen faulen Kompromiss eingelassen. Der Hafen gibt nur das Gebiet um das Überseezentrum mit ein paar Schuppen heraus, mit denen die HHLA ohnehin nichts mehr anfangen wollte.“

Hafen beinhaltet untergenutzte Gebiete

Auf dem Kleinen Grasbrook soll ein gemischter Stadtteil entstehen, der Produktions- und Büroflächen für 16.000 Beschäftigte, aber auch Wohnungen und Infrastruktur für 6000 Bewohner schaffen soll, mit einem großen Park und dem Hafenmuseum. Diese Fläche sei viel zu klein, um eine vielfältige, lebendige Stadt zu schaffen. Gleichzeitig zwingt der Hafen die Stadtentwicklung, einen Lärmriegel zu bauen, damit ihm der neue Stadtteil nicht zu nahekommen kann. Dieses Vorgehen ist unbegreiflich, kritisiert er, denn im Bereich des Hafens seien riesige Brachen und untergenutzte Gebiete.

Läpple rechnet vor, dass die alten Wachstumsprognosen für die maritime Wirtschaft längst Makulatur sind. Er schielt dabei nicht nur auf den Grasbrook, sondern den ganzen Bereich östlich vom Alten Elbtunnel und vom Köhlbrand, wo längst kein Containerschiff mehr hinfahren kann. Gehe man weiter südlich, gehe es um mehrere hundert Hektar, die brach fallen, etwa auf der Hohen Schaar, wenn sich dort die Petrochemie zurückzieht. „Shell wird seine Anlagen verkaufen und die Flächen an Hamburg zurückgeben. Das wird eine Jahrhundertaufgabe.“

Mitten in Hamburg reifen Bananen

Zugleich warnt Läpple: „Wir können im Norden nicht immer weiter in Landschaftsschutzgebiet reinbauen und Menschen, die in Etagenwohnungen leben, ihre Kleingärten wegnehmen, wenn gleichzeitig im östlichen Hafen riesige Flächen brachliegen.“ Noch immer würden mitten in Hamburg Bananen reifen, alte Autos auf ihre Verschiffung warten oder Berge von Kohle lagern. „Das ist unbegreiflich.“ Es bedürfe eines neuen Austarierens, bei dem der Hafen sein Recht bekommt und die Stadt sich weiter entwickeln kann. Er verweist darauf, dass die Hafenbetriebe die Flächen nur gepachtet hätten. „Grundsätzlich besteht eine Rückübertragungspflicht der Grundstücke, wenn die Stadt sie benötigt.“

Stadt und Hafen hätten sich über Jahrzehnte auseinanderentwickelt. „Heute haben wir eine historisch einmalige Chance, beide wieder zu vereinen. Die Zukunft des Hafens, soweit es nicht der Containerumschlag ist, liegt in einer Verknüpfung mit der Stadt.“ Läpple wünscht sich eine „produktive Stadt mit einer lebendigen Nutzungsmischung von Produktion, Forschung und Entwicklung, aber auch mit Wohnen und Kultur“. Hamburg müsse sich auf seine Stärken besinnen: „Wir haben als einzige große Metropole in Europa riesige Flächenreserven. Was für eine Chance!“

Keine Olympischen Spiele in Hamburg

In diesem Zusammenhang bedauert der 80-Jährige, dass 2015 eine Mehrheit der Bürger in einer Volksabstimmung die Olympischen Spiele ablehnte. Dabei stand die Bewerbung für ein völlig anderes Konzept Olympischer Spiele. Es sollten nachhaltige Spiele werden und keine „weißen Elefanten“ für ein einmaliges Ereignis gebaut werden. Mit der Planung der Spiele sollten zugleich die Grundlagen für eine nachhaltige Stadtentwicklung entstehen.

Olympische Spiele sind in der Stadt kein Thema mehr, stattdessen werden die Folgen der Pandemie immer sichtbarer. Diese Herausforderung durch Corona sieht Läpple als „heilsame Krise“. Jahrzehntelang habe man versucht, immer mehr Kaufkraft in die Innenstadt zu holen. „Die Vielfalt, ja das urbane Herz der Stadt, ist so zerstört worden. Es wurde immer mehr vom Kommerz überformt.“

Hamburg muss Wohnungen bauen

Die Zäsur durch die Pandemie müsse man nutzen, um die Innenstadt neu zu denken: „Priorität hat, wieder mehr Menschen in die Innenstadt zu bringen und Wohnungen zu bauen. Ein wichtiges Instrument sei dabei die Vergabepolitik der Stadt: Nicht wer das meiste Geld bietet, sondern das beste Konzept hat, müsse den Zuschlag bekommen.

„Wir benötigen einen Fonds, mit dem die Stadt einzelne Flächen aufkauft und sie dann an inhabergeführte Betriebe überführt, vermietet oder für kulturelle Zwecke bereitstellt.“ In Frankreich verfolgt die Regierung mit dem Programm „Action Coeur de Ville“ längst das Ziel, die Innenstadtentwicklung zu lenken. „Dort zeigt sich, dass schon fünf Prozent der Flächen in einer Straße genügen, um der Straße einen völlig anderen Charakter zu geben. Läpple will den „urbanen Kannibalismus, der die Innenstadt zerstört“ überwinden.

Nach Corona: Revitalisierung der Städte

Hamburg habe jetzt die Chance zum Umsteuern: „Wir müssen etwas verändern und wir können etwas verändern. Hamburg hat unglaubliche Qualitäten. Und Hamburg hat vor allem auch eine große Baukultur.“

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Läpple erwartet nicht, dass Corona die Menschen aus der Stadt ins grüne Umland treibt: „Ich glaube, dass es nach Corona eine richtige Revitalisierung der Städte geben wird.“ Es möge Leute geben, die davon träumen, jetzt nach Brandenburg an den See zu ziehen. „Die haben entweder ökonomisch ausgesorgt oder werden in ein paar Jahren in ziemliche Probleme geraten. Denn der Arbeitsmarkt ist volatil und dynamisch“, sagt Läpple. Da müsse man vor Ort sein.

Hamburg bietet „Vielfalt an Möglichkeiten“

„Die Stadt bietet eine Vielfalt an Möglichkeiten.“ Sinkende Preise in Folge der Krise böten zudem die Chance, Nutzungen besser zu mischen, Produktion in die Stadt zurückzuholen und vor allem die Stadt grüner zu machen: Ausdrücklich begrüßt er das Konzept des Bauforums, die großen Einfallstraßen verstärkt in den Blick zu nehmen.

„Das Magistralenprojekt ist für mich wichtig, weil es langfristig die Qualität von Wohnen und Arbeiten in der ganzen Stadt erhöht.“ Der Stadtforscher fordert mehr Mut zum Risiko, mehr Lust zum Experiment, mehr Modellprojekte wie beim Umbau des Parkhauses Gröninger Hof und die Bereitschaft, sich von anderen Metropolen inspirieren zu lassen. So gebe es sehr schöne Beispiele in Zürich mit den Clusterwohnungen, sagt Läpple.

Gute Chancen für Hamburgs Stadtentwicklung

Dahinter verbergen sich genossenschaftliche Wohnprojekte, die viele Gemeinschaftsräume anbieten und die Flexibilität bieten, je nach Lebensphase die Wohnungen zu wechseln.

Läpple schwebt das Ideal einer Stadt mit einer „polyzentralen Struktur“ vor: Er wünscht sich Quartiere, in denen Bewohner in 15 Minuten alle wichtigen Lebensfunktionen zu Fuß oder dem Fahrrad erreichen können. „Dann ist wieder mehr Vielfalt möglich. Wir haben tolle Aufgaben vor uns.“ Mit seiner Expertise von 35 Jahren an der Elbe ist ihm nicht bange: „Hamburg hat besonders gute Voraussetzungen, sich in die richtige Richtung sich zu entwickeln.“

Fünf Fragen

Meine Lieblingsstadt ist inzwischen Hamburg geworden – und Marseille sowie Amsterdam. Alle drei sind Hafenstädte, aber sehr unterschiedlich. Alle haben eine sehr kosmopolitische Bevölkerung und eine lange Tradition der Offenheit der Kulturen.

Mein Lieblingsstadtteil ist Ottensen wegen seiner Vielfalt und den noch sichtbaren Spuren seiner Geschichte, insbesondere seiner Industriegeschichte. Es gibt noch Gewerbe- und Handwerkerhöfe, und gegenwärtig entsteht mit den Kolbenhöfen ein wunderbares Projekt. 

Mein Lieblingsort ist die Elbe. Er beginnt in Entenwerder mit dem goldenen Pavillon. Dort kann man den Übergang erleben von der Stadtlandschaft zur Elbe und zum Hafen. Und dann natürlich der Geestrücken in Altona, von dem aus man den Hafen und den Fluss im Blick hat. Ein einmaliger Blick auf eine faszinierende Stadt.

Mein Lieblingsgebäude ist das Neue Amt an der Großen Bergstraße. Das ist ein fantastisches Projekt. Hier haben sich Leute zusammengetan, um das alte Finanzamt zu kaufen, es mit Holzbau zu ergänzen und in einen genossenschaftlich organisierten Co-Working-Space mit vielfältigen Räumen zu verwandeln. Alle, die darin arbeiten, sind auch Miteigentümer. Ein anderes Lieblingsgebäude könnte der Umbau des Parkhauses Gröninger Hof werden. Die Genossenschaft betreibt ein Stück gemeinwohlorientierte Innenstadtrevitalisierung. Aus einem Parkhaus wird ein Wohn- und Arbeits- und Lebensort nach dem Motto: Autos raus, Menschen rein.

Einmal mit der Abrissbirne würde ich gern die Mauern zwischen Hafen und Stadt einreißen.