Hamburg. In St. Georg entsteht ein neues Jugend- und Familienzentrum. Wurde der Auftrag für den Bau vergaberechtswidrig erteilt?

Prostitution auf der Straße, Drogenhandel vor den Wohnungen, dazu eine Dauerbeschallung aus den anliegenden Kneipen – Szenen einer ganz normalen Nacht in der Rostocker Straße in St. Georg. Eine schmale Wohnstraße direkt am Hansaplatz. Mehrmals pro Nacht muss die Polizei hier mitunter einschreiten – auch unter der Woche. Schreiende, alkoholisierte Männer prägen das Straßenleben. Wer hier wohnt, ist Lärm gewohnt.

Die Menschen aus der Rostocker Straße 5 gegenüber den Kneipen leben trotzdem gern hier, viele von ihnen seit mehreren Jahrzehnten. So wie Wiebke und Carsten Schneider, seit 40 Jahren Anwohner. Ruhe fanden sie bislang stets in ihrem Hinterhof, auf dem Balkon. Auf der Seite des Jugendhauses „Schorsch“, das dort seit vielen Jahren beheimatet war. Doch mit der Ruhe könnte es jetzt auch auf dieser Seite vorbei sein. Die Stadt plant auf dem Gelände des zweigeschossigen Hauses einen siebenstöckigen Neubau für ein Integrations- und Familienzentrum. Das „Schorsch“, das vorübergehend an den Steindamm gezogen ist, kehrt dann zurück, zudem sollen 49 Wohnungen für Auszubildende entstehen. Kosten des Projekts: 8,3 Millionen Euro. Das IFZ, sagt Bezirksamtsleiter Andy Grote, sei das „wichtigste Schlüsselprojekt der Stadtteilentwicklung für St. Georg“.

Für die Anwohner der Rostocker Straße 5 ist das Bauvorhaben vor allem eins: eine Verschlechterung der „ohnehin schon untragbaren Wohnverhältnisse“, wie sie es nennen. Sie fürchten ungesunde Wohnverhältnisse durch die Verschattung ihres Hauses und wehren sich gegen die Massivität des Neubaus. „Uns wird die Luft zum Atmen genommen“, sagt Wiebke Schneider stellvertretend für ihre Nachbarn. Sie ließen ein Lichtgutachten erstellen, das die Einschränkung des Tageslichts durch den Bau belegt und zogen vor das Verwaltungsgericht. Die Klage wurde jedoch abgewiesen, das Gutachten spielte bei der Entscheidung keine Rolle. Nun gehen die Nachbarn den Schritt vor das Oberverwaltungsgericht.

Für zusätzliche Brisanz sorgt unterdessen ein Detail, das im Gerichtsverfahren gar keine Rolle spielt: Wurde der Auftrag für den Bau vergaberechtswidrig erteilt? Das geht auf Informationen eines Fachanwalts für Vergaberecht zurück. Fakt ist: Nach den auf Richtlinien der Europäischen Union basierenden gesetzlichen Vorgaben müssen öffentliche Bauaufträge ab einem Volumen von 5,186 Millionen Euro europaweit ausgeschrieben werden. Ein aufwendiges und zeitintensives Verfahren, das den Recherchen des Anwalts zufolge im Fall des IFZ nicht passiert sei. Bauherrin ist die Lawaetz Stiftung aus Altona, seit März 2013 Projektpartner des Bezirks Mitte.

Kritik am Vergabeverfahren des Projekts kam bereits auf, als sich die Bezirksversammlung Hamburg-Mitte am 21. November 2013 auf die Realisierung des IFZ einigte. Alle anwesenden Politiker waren sich einig, dass eine freihändige Vergabe nicht möglich sei. Dies geht aus dem Protokoll der Sitzung hervor. Katja Suding, FDP-Fraktionsvorsitzende, versuchte daher nun in einer Schriftlichen Kleinen Anfrage an den Senat herauszufinden, ob bei der Vergabe alles richtig gelaufen sei. Die Antwort fällt knapp aus: „Im Rahmen bisheriger baufachlicher Prüfungen wurde kein Verstoß festgestellt“, teilte der Senat mit. Allerdings wurde der Punkt der europaweiten Ausschreibung dabei nicht befragt. Möglicherweise wird Suding deswegen eine weitere Anfrage stellen. „Sollte es neue Erkenntnisse oder Hinweise geben, wird meine Fraktion dem nachgehen“, kündigte Suding an.

Vorn fünf Etagen,
hinten sieben
Stockwerke: So soll
das neue IFZ
aussehen
Vorn fünf Etagen, hinten sieben Stockwerke: So soll das neue IFZ aussehen © GAWS Architekten

Die Anwohner wollen nicht aufgeben. Auch wenn sie dafür Unverständnis ernten. „Für den Stadtteil entsteht ein wertvolles Familienzentrum“, sagt Michael Osterburg von den Grünen. „Hier werden dringend benötigte geförderte Wohnungen geschaffen. Nachbarrechte sind wichtig. An dieser Stelle wäre es tragisch, wenn Einzelinteresse über das Gemeinwohl gestellt würde.“ Bernhard Stietz-Leip­nitz von der Linkspartei, Mitglied im Stadtteilbeirat St. Georg, sagt: „Das IFZ wurde über Jahre intensiv öffentlich diskutiert. Dort hätten die heutigen Einwender sich durchaus beteiligen und ihre Bedenken vortragen können.“

Reaktionen wie diese sorgen bei den Nachbarn wiederum für Unverständnis. Die Bürgerbeteiligung habe so ausgesehen, dass es ein Treffen gab, bei dem die Anwohner vor vollendete Tatsachen gestellt worden seien. Ihre Bedenken wurden nicht berücksichtigt. Dass die Nachbarn nun als unsozial gelten, empfinden sie als nicht gerecht. „Ich habe selbst im Haus der Jugend gearbeitet und finde die offene Jugendarbeit im Stadtteil wichtig und richtig. Wir alle befürworten und unterstützen also einen Neubau“, sagt Wiebke Schneider. Aber eben nicht in der geplanten Höhe, um ungesunde Wohnverhältnisse zu vermeiden.

Die Nachbarn hoffen, dass sie vor dem Oberverwaltungsgericht nun mehr Gehör finden und der Neubau nicht in der geplanten Massivität errichtet wird. Vor dem Haus stehen bereits die Bagger. Im Juli könnte der Abriss des alten Jugendhauses erfolgen, Ende 2016 soll das neue IFZ fertig sein. Womöglich gibt es bis dahin auch eine Antwort auf die Frage nach der europaweiten Ausschreibung. Das Bezirksamt Mitte hat sich auf Anfrage des Abendblatts bislang nicht geäußert.