Hamburg. Die Gefangenen müssen auch Blindgänger entschärfen – und das ohne Ausrüstung. Teil 13 der großen Gomorrha-Serie.

Die ganze Perversion dieses Krieges verdichtet sich in einem einzigen Satz. „In der einen Hand einen Arm, in der anderen eine Wurst, so liefen wir und plauderten ...“ Der Arm gehörte einem Hamburger Bombenopfer aus den Kellern von Hammerbrook, die Wurst dem niederländischen Widerstandskämpfer und KZ-Häftling Antoon Verberne – eine Sonderration. Wie die Zigaretten und der Alkohol, den sie bekamen, damit sie diese Arbeit ertragen konnten. Sie mussten Bomben entschärfen, längst verwesende Leichen aus Schuttbergen ausgraben; sie mussten Knochen, Schädel, Füße, Arme sammeln und auf der Straße ausbreiten, damit ein SS-Arzt schätzen konnte, wie viele Tote es wohl seien.

Sie hatten keine Helme, keinen Mundschutz, nicht einmal Handschuhe, stattdessen wickelten sie sich Lumpen um die Hände und vors Gesicht. In ihre Köpfe fraßen sich Bilder, die sie ihr Leben lang nicht loswerden würden. Aber sie konnten sich satt essen, das erste Mal seit Monaten, vielleicht Jahren; die SS-Männer behandelten sie besser, weniger brutal, denn selbst sie waren geschockt über das Ausmaß der Katastrophe. Und so spürten manche KZ-Häftlinge in diesem Sommer 1943 fast so etwas wie einen Hauch von Freiheit inmitten dieses Massengrabs. „In der einen Hand einen Arm, in der anderen eine Wurst ...“ Die Perversion des Krieges.

Große Seuchengefahr

Die Hamburger Behörden haben in diesen Tagen viele Gründe, panisch zu werden. Eine Millionenbevölkerung muss trotz weitgehend zerstörter Infrastruktur versorgt werden, Hunderttausende Obdachlose sind unterzubringen. Zehntausende Leichen in diesem ex­trem heißen Sommer bedeuten eine große Seuchengefahr, zumal die Wasserversorgung nicht funktioniert.

Führende Nationalsozialisten sind in Sorge, dass sich die Menschen angesichts des Ausmaßes der Katastrophe vom Regime abwenden könnten. Und dann sind da auch noch 73.000 Zwangsarbeiter in der Stadt, von denen einige das Chaos nutzen, um zu fliehen. Polizeichef Georg Henning von Bassewitz-Behr stellt aus Polizei- und SS-Kompanien noch im Juli einen „Sicherungsverband“ zusammen, der Jagd auf Zwangsarbeiter macht. Gauleiter Karl Kaufmann lässt Zehntausende von ihnen aus der Stadt schaffen, weil er Angst hat, es könnte zu Aufständen kommen.

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    Wie hart die Nazis jetzt vorgingen, zeigt sich etwa im Krankenhaus St. Georg, wo rund 60 sowjetische Zwangsarbeiter während der Angriffe ihr Lager verlassen hatten; einige waren in die Kleiderkammer eingedrungen und dann geflüchtet – acht der Verbliebenen wurden zur Abschreckung per Genickschuss hingerichtet. Andere Zwangsarbeiter hatten sich geweigert, ohne jegliche Schutzkleidung die Leichen aus den Ruinen zu bergen – auch sie wurden erschossen. Daher wurden bereits am 28. Juli 450 Häftlinge aus dem KZ Neuengamme in die Innenstadt gebracht, um diese Arbeiten zu erledigen.

    Hoffnung auf bessere Verpflegung

    Die meisten hatten sich in der Hoffnung auf bessere Verpflegung freiwillig zu diesem „Sondereinsatz“ gemeldet – ohne zu ahnen, was auf sie zukommen würde. In welchem Zwiespalt der Gefühle sie waren, machen die Erinnerungen des Belgiers Victor Baeyens deutlich, der schon seit 1941 in Neuengamme war. Er schildert, mit welcher Freude er die Bombenangriffe auf die Stadt verfolgt hat. „Als wir das schwere, rollende Geräusch einer Explosion hören, als wir in der Ferne wieder das helle Leuchten eines neuen Feuers bemerken, da jubeln und rufen wir innerlich: Schlagt zu! Macht sie mürbe! Macht sie kaputt, verdammt!“

    Doch später hört er die Geschichten seiner Mithäftlinge, die zum Leichenbergen im Einsatz waren. „Da waren wir nicht mehr in Jubelstimmung. Da denken wir nüchtern an die Dramen der Mütter, die ihre Kinder suchen oder umgekehrt. Was für ein Fluch ist der Krieg!“ Pawel Wassiljewitsch Pawlenko, ein damals 18-jähriger Ukrainer, empfand ähnlich: „Wenn du diese Toten siehst, Kinder, alte Frauen, sie taten mir einfach leid ...“

    Die Häftlinge – bald sind es mehr als 900 der etwa 5000 Neuengamme-Insassen – arbeiteten wochen-, manche monatelang in den Trümmern. Sie errichteten auch Mauern und Zäune um Hamm und Hammerbrook, die zur Sperrzone geworden waren. In den ersten Tagen waren die Häftlinge jeden Tag zurück nach Neuengamme transportiert worden. „Nach kurzer Zeit wurden wir dann zu einem überdachten Schwimmbad gebracht (die Badeanstalt Hammerbrook, d. Red.). Es war leer, und wir mussten abends in das Bassin, während die SS oben blieb und uns bewachte“, schildert Antoon Verberne.

    Er und Pawlenko waren auch beim Ausheben von Massengräbern auf dem Friedhof Ohlsdorf eingesetzt. „Die Leichen wurden auf Wagen gebracht, und wir mussten sie abladen. Die Deutschen wollten das nicht machen, die Leichen waren zerfallen. Wir wurden gezwungen, ohne Masken zu arbeiten“, erinnert sich Pawlenko. Während die SS wegen des Gestanks in größerer Entfernung stand, mussten 20 Zeugen Jehovas die Leichen nach Wertsachen durchsuchen. Diese Häftlinge bekamen von der Friedhofsverwaltung ebenfalls Zigaretten und Alkohol, damit sie diese Arbeit irgendwie ertragen konnten. In diesen Tagen kamen viele Hamburger das erste Mal in Kontakt mit den Häftlingen. Natürlich wusste jeder, dass es in Neuengamme ein Konzentrationslager gab, doch nach der „Operation Gomorrha“ gehörten sie quasi zum Stadtbild. In den ersten Tagen und Wochen nach den Angriffen kamen viele Hamburger und baten sie um Hilfe – dann ging es um Schmuck oder Pässe, Fotos oder Uhren aus ihren Wohnungen, nach denen die Häftlinge suchen sollten.

    „Die Menschen sind heute wieder hartherzig geworden“

    Die SS ließ sie gewähren. „Wenn ich helfen konnte, habe ich ihnen die Sachen gebracht“, erinnerte sich Zbigniew Piper später. „Manchmal haben wir dann Suppe bekommen. Einmal habe ich gebeten, einen heimlich an meine Mutter geschriebenen Brief einzuwerfen – sie haben es gemacht.“

    Viele Wertsachen wurden aber einfach gestohlen: selten von Plünderern, meist von SS-Leuten. „Sie waren die größten Diebe und Verbrecher. Die Leichen haben sie beraubt um Fingerringe. Kostbare Gegenstände haben sie sich direkt vor unseren Augen in die Taschen gesteckt“, schrieb später der tschechische Häftling Josef Polacek.

    Systematisch wurden nun immer weitere Außenlager errichtet, nicht nur im Hafen und in den Sperrbezirken rund um Hammerbrook, auch in Sasel, Wedel und auf Finkenwerder entstanden welche, insgesamt 86, die sich bis zur dänischen Grenze erstreckten. Mindestens 10.000 KZ-Insassen wurden bis Kriegsende zum Schuttwegräumen, für den Bau von Behelfswohnungen und den Wiederaufbau von Industrieanlagen eingesetzt.

    7000 Gefangene starben auf Schiffen

    Die gefährlichste Arbeit aber war das Bombenentschärfen. Schon das Ausbuddeln war brisant – ein falscher Schlag mit dem Spaten, und der Blindgänger explodiert. Das Vorgehen war höchst unterschiedlich.

    Häftlinge des KZ Neuengamme
mussten eine Sperrmauer rund um
Hammerbrook bauen
    Häftlinge des KZ Neuengamme mussten eine Sperrmauer rund um Hammerbrook bauen © Staatsarchiv Hamburg

    Manfred Zichmannis musste diese Arbeiten monatelang ausführen. „Die Wachleute nahmen ihren Platz in 100 Metern Entfernung ein. Ohne jegliche Vorkenntnisse oder Hinweise auf Sicherheitsmaßnahmen mussten wir zu graben und zu hacken beginnen“, berichtete er. Andere, wie Roman Philipps, wurden von Fachleuten unterstützt. „In unserer Gruppe: Feldwebel Dombrowski und Sprengmeister Novak, beide anständige Fachmänner“, schilderte er.

    Wie viele Häftlinge dabei ums Leben kamen, ist unbekannt. Insgesamt geht man von 2000 bis 3400 Todesopfern unter den 10.000 in der Stadt eingesetzten Häftlingen aus.

    Etwa 100.000 Gefangene waren im Laufe der sechs Kriegsjahre in Neuengamme – und mindestens 50.000 fanden den Tod. Sie starben an Krankheiten, Mangelernährung und unmenschlichen Arbeitsbedingungen; sie wurden ermordet (viele Sowjets mit Zyklon B) oder kamen auf den Todesmärschen um, als die SS 1945 begann, die Lager aufzulösen und Zigtausende ohne Verpflegung zu Gewaltmärschen zwang.

    Die größte Tragik war gewiss der Tod von rund 7000 Gefangenen, die sich nach solchen Märschen auf den Schiffen „Cap Arkona“ und „Thielbek“ in der Lübecker Bucht befanden. Da die britische Luftwaffe sie für Truppentransporter hielt, wurden sie am 3. Mai versenkt, nur etwa 400 KZ-Häftlinge überlebten. Einen Tag später erreichten britische Truppen Neuengamme – und fanden das Lager leer vor.