Hamburg. „Was mir passiert ist, kann jedem passieren“, so Christina Pingel. Ärzte taten sie als eingebildete Kranke ab – bis es fast zu spät war.

  • Christina Pingel litt jahrzehntelang unter einer Herzklappeninsuffizienz, die lange Zeit nicht erkannt wurde.
  • „Sie sind eine junge Frau, Ihr Herz ist gesund. Es ist alles nur in Ihrem Kopf“, sagte ein Arzt zu ihr.
  • Weil die Mediziner die Symptome ihrer Erkrankung nicht erkannt hatten, starb auch ihre Mutter an einem Herzleiden – damals war Christina Pingel neun Jahre alt.

Heute geht es ihr gut. Klar, es gibt immer gute und schlechte Tage. Es gibt diese bangen Momente, wenn Christina Pingel zum Beispiel erkältet ist oder – wie kürzlich – eine Corona-Infektion hat. Dann hat die Hamburgerin Angst um ihr Herz. Sie fürchtet in diesen Momenten, dass dieses zentrale Organ einer Infektion nicht standhält, dass es aus dem Takt gerät, dass es stehen bleibt.

Denn das alles hat sie bereits durchleben müssen. Vor drei Jahren wurde bei der jungen Frau aus Eimsbüttel eine schwere Herzerkrankung diagnostiziert – beinahe zu spät, auch weil die heutige Medizin ihren Recherchen nach noch häufig keinen Unterschied zwischen Mann und Frau macht. Über ihren mühsamen Weg zur Diagnose hat die heute 38-Jährige ein Buch geschrieben.

Hamburgerin erhielt erst eine neue Herzklappe, als es fast zu spät war

Im Park am Weiher in Eimsbüttel sitzt Christina Pingel auf einer Bank und möchte ihre Geschichte erzählen. Sie wohnt nur wenige Gehminuten von hier entfernt. Dass sie die Schritte in den Park einfach so bewältigt, das war zwischendurch undenkbar. Denn sie wurde vor zwei Jahren am Herzen operiert. Das war ein schwerer Eingriff, die Herz-Lungen-Maschine hielt sie während der OP am Leben, ihr eigenes Herz hörte während der dreistündigen OP auf zu schlagen. In der anschließenden Reha saß Christina Pingel im Rollstuhl, konnte kaum sprechen, geschweige denn gehen.

Autorin Christina Pingel
Die Autorin Christina Pingel aus Eimsbüttel thematisiert in ihrem Buch „Diagnose: Frau. Wie mich die männerbasierte Medizin fast das Leben kostete“ den frühen Tod ihrer herzkranken Mutter und ihre eigene Herzklappeninsuffizienz. © FUNKE Foto Services | Roland Magunia

Christina Pingel hatte eine schwere Mitralklappen-Insuffizienz, sie bekam in der OP eine neue Herzklappe. Diese schwere Krankheit aber war über viele Jahre nicht erkannt, ihre Beschwerden und Ängste nicht ernst genommen worden. Fast wiederholte sich das Schicksal ihrer eigenen Mutter: Weil die behandelnden Mediziner die Symptome ihrer Erkrankung nicht erkannt hatten, starb ihre Mutter an einem Herzleiden – damals war Christina Pingel neun Jahre alt.

„Der (...) Herzschrittmacher, der den Stillstand ihres Herzens verhindern und ihren Herzrhythmus hätte kontrollieren können, wurde nicht einmal in Erwägung gezogen“, schreibt Christina Pingel in ihrem Buch „Diagnose: Frau. Wie mich die männerbasierte Medizin fast das Leben kostete“.

„Sie sind eine junge Frau, Ihr Herz ist gesund. Es ist alles nur in Ihrem Kopf“

In dem Werk erzählt die Autorin nicht nur die Geschichte über ihr persönliches Schicksal und über den frühen – vielleicht vermeidbaren – Tod ihrer Mutter. Es ist auch ein Buch über „gendermedizinische Ignoranz“, so Pingel. Der sogenannte „Gender Health Gap“ beschreibt dabei die unterschiedliche medizinische Behandlung von Frauen gegenüber Männern – oftmals werden Männerkörper auch bei Frauen als Maßstab genommen. Pingel: „Was mir passiert ist, kann jedem, kann jeder passieren.“

Dass es auf dem Gebiet der geschlechterspezifischen Medizin noch viel zu forschen gibt, hat Pingel jahrelang erleben müssen. Bei Frauen würden viele Symptome allzu schnell auf die Psyche geschoben, erzählt sie. Und ja, Christina Pingel war wegen Panikattacken und einer Angststörung in psychiatrischer Behandlung – und doch ahnte sie immer, dass hinter ihrer Atemnot, den Beklemmungen, der ständigen Müdigkeit und dem Herzrasen mehr stecken musste.

Was sie von Ärzten zu hören bekam, war aber: „Die Geschichte Ihrer Mutter ist nicht Ihre Geschichte. Sie sind eine junge Frau, Ihr Herz ist gesund. Es ist alles nur in Ihrem Kopf.“

Diagnose einer Kardiologin und Herz-OP retteten Eimsbüttelerin das Leben

Das war es nicht. Eine Hamburger Kardiologin schaute sich Christina Pingels Herz im Winter 2021 endlich genauer an, nahm sie ernst und führte die Symptome nicht automatisch auf ihre Psyche zurück. „Frau Pingel, ich kann anhand der durchgeführten Untersuchungen und des Herzechos eine sehr auffällige und bereits fortgeschrittene Undichtigkeit an einer Ihrer vier Herzklappen, Ihrer Mitralklappe, feststellen“, sagte ihr die Medizinerin an diesem Tag im Dezember. Die Diagnose und die anschließende OP haben ihr das Leben gerettet – es war ganz schön knapp.

Sechs Fachbücher hat die Eimsbüttelerin, die gerade eine Fortbildung zur Personalmanagerin macht, in den 16 Monaten für die Recherche zu ihrem Buch durchgearbeitet. „Laut der Deutschen Herzstiftung lag die Sterbeziffer von Frauen im Jahr 2018 bei Herzklappenkrankheiten um 42,7 Prozent höher als bei Männern“, schreibt sie. Und das auch, weil der medizinische Maßstab nach wie vor der Mann ist, so Pingel.

Bei der Forschung, der Vorbeugung und Behandlung von Krankheiten dient überwiegend noch der männliche Körper als Grundlage. Auch Medikamente wurden und werden überwiegend auf Basis der Bedürfnisse männlicher Patienten abgestimmt.

Auf Instagram klärt Christina Pingel über Gender Health Gap auf

Klingt nach Feminismus? Keinesfalls. „Auch Männer leiden unter dem Gender Health Gap. Bei ihnen werden oft psychische Erkrankungen nicht erkannt“, sagt Pingel. So haben ihre Recherchen ergeben, dass sich mit 75 Prozent sehr viel mehr Männer selbst töten als Frauen, weil bei ihnen oft psychische Erkrankungen nicht richtig diagnostiziert oder behandelt werden. „Dieses Thema geht uns alle an, denn es geht um die Veränderung in der Medizin.“ Auf Instagram klärt Christina Pingel unter (@_chrissle_) über das Thema auf, schreibt über mentale Gesundheit.

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So fehlt es noch immer an einheitlichen Regelungen in der Medizin. Pingel berichtet: „Erst mein Freund hat mich kurz vor der schweren Herz-OP gefragt, ob ich während der Operation zufällig meine Regelblutung habe.“ Hatte sie, aber die Ärzte hatten sie zuvor nicht standardmäßig danach gefragt.

„Männer-Medizin“: Nach der Monatsblutung fragten die Ärzte sie nicht vor der OP

Der Termin wurde erst auf ihren Hinweis hin verschoben, denn: „Heparin verhindert während der gesamten Operation die Blutgerinnung. Durch die starke Blutverdünnung und gleichzeitige Monatsblutung kann es zu einem starken Blutverlust während der OP kommen“, schreibt Pingel in ihrem Buch.

Der Tod ihrer Mutter, davon ist Christina Pingel überzeugt, hätte verhindert werden können. „Frauen benötigen andere Dosierungen als Männer. Doch beachtet wird diese Tatsache in der Medizin auch heute immer noch selten“, heißt es in ihrem Buch. Die Herz-Kreislauf-Medikamente ihrer Mutter hatten bei ihr eben nicht ausreichend gewirkt.

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Zu dieser Ungleichbehandlung der Geschlechter in der Medizin forscht unter anderem Professor Dr. Marcus Altfeld, Leiter des Instituts für Immunologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf UKE. Er sagt: „Je besser wir verstehen, wie sich biologische Unterschiede auf die Symptome und den Verlauf von Krankheiten auswirken, desto besser können wir dies bei der Behandlung berücksichtigen.“

Autorin Christina Pingel
Christina Pingel: „Diagnose: Frau. Wie mich die männerbasierte Medizin fast das Leben kostete“, erschienen im Piper-Verlag, 17 Euro. © FUNKE Foto Services | Roland Magunia

Christina Pingel betont: „Das Thema ist nicht irgendein Trend, es geht um uns alle.“ Sie möchte in dem Bereich gern weiter aufklären und zum Beispiel Vorträge vor Medizinstudenten halten. Inzwischen geht die 38-Jährige nur noch alle sechs Monate zur Routineuntersuchung. Sie darf Sport treiben und geht regelmäßig im Kaifu-Bad in Eimsbüttel schwimmen. Diese Schwerelosigkeit im Wasser, die Stille – das ist wie Meditation.

Sie geht auch weiterhin zur Psychotherapie. Ihr Herz stand stundenlang still. „Mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert zu werden, das macht etwas mit einem.“ Auch im Positiven: „Ich kann jetzt besser zu mir selbst stehen, ich umgebe mich mit Menschen, die mir guttun. Und ich möchte keine Zeit mehr mit Nichtigkeiten verschwenden.“