Hamburg. Tausende Fälle in Hamburg. Doch diese erlangen bisher kaum Aufmerksamkeit – weil Betroffene es nicht mal aus dem Bett schaffen.
Manchmal könnte man fast denken, es wäre nie etwas gewesen: Die Cafés und Restaurants in Hamburg sind wieder voll, Busse und Bahnen ebenfalls, die Leute fliegen wieder in den Urlaub und Masken sieht man nur noch hier und da. Die meisten sind mehrfach geimpft, viele mehrfach erkrankt und genesen. Das Leben geht weiter wie vorher. Nur dass Corona jetzt dazugehört.
Doch da gibt es noch eine andere Welt, ein anderes Hamburg. Da sind Menschen, die genauso erkrankten wie alle anderen, aber die einfach nie wieder gesund wurden. Viele von ihnen leiden unter einer besonders schweren Form von Long Covid, dem chronischen Fatigue-Syndrom, kurz ME/CFS.
Corona Hamburg: Betroffene mit Long Covid können oft Wohnung nicht verlassen
Eine Erkrankung, die Betroffene aus dem Leben reißt. Denn das chronische Fatigue-Syndrom führt dazu, dass selbst kleinste Anstrengungen zu viel sind. So sind die Betroffenen zum Teil bettlägerig, schützen sich mit Kopfhörern und Augenbinde vor Licht und Lärm, sind emotional, kognitiv und körperlich nicht oder kaum noch belastbar.
Wie viele Betroffene es genau gibt, ist unklar. Fachleute gehen von rund 500.000 Personen in Deutschland aus. Dazu zählen auch Menschen, die in Folge der Impfung erkrankt sind (Post Vac). Eine Heilung gibt es derzeit nicht. Und Aufmerksamkeit oftmals auch nicht. Wer unter dem Fatigue-Syndrom leidet und die Wohnung nur selten verlassen kann, der führt ein Leben außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung.
Initiative auf Instagram zeigt Schicksal von Long-Covid-Erkrankten in Bildern
Um Erkrankten einen Namen und ein Gesicht zu geben, hat das Netzwerk „NichtGenesen“ eine Initiative gestartet. Dabei können Betroffene Bilder von sich schicken und diese mit Informationen versehen – also Alter, Name, Beruf, Bundesland und den Zeitpunkt, seitdem sie arbeits- oder schulunfähig sind. Diese Bilder sind unter dem Hashtag #NichtGenesen bei Instagram zu finden. Tausende Betroffene sind dem Aufruf gefolgt.
Auch etliche Hamburgerinnen und Hamburger sind dabei. Es sind Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Frauen und Männer. Es sind Anwältinnen und Anwälte, Erzieherinnen und Erzieher, Ärzte und Ärztinnen. Warum es genau sie getroffen hat und andere eben nicht? Bis heute gibt das der Medizin Rätsel auf.
„NichtGenesen“: Betroffene aus Hamburg beklagt, dass Anlaufstellen fehlen
Eine der Hamburger Betroffenen ist Paula Büttelmann. Die 28-jährige Sportstudentin erkrankte im März vor zwei Jahren an Corona. Der Verlauf war mild, doch nach einigen Wochen verschlechterte sich ihr Zustand. Sie kann ihr Bett seitdem nur an guten Tagen verlassen, ist auf einen Rollstuhl angewiesen und musste ihr Studium an den Nagel hängen.
Auch Paula Büttelmann hat sich dazu entschlossen, bei der Aktion „NichtGenesen“ mitzumachen und der unsichtbaren Krankheit ein Gesicht zu geben. Sie betont: „Jede Form von Aufmerksamkeit ist gut, denn wir Erkrankten haben keine Lobby und keine Kraft, für unsere Belange zu trommeln.“ Wie viele andere berichtet auch Paula Büttelmann davon, dass es immer noch zu wenige Anlaufstellen und kompetente Beratungs- und Behandlungsangebote gebe.
Büttelmann betont: „Fakt ist, dass es in Hamburg keine allgemeine Post-Covid-Anlaufstelle gibt.“ „NichtGenesen“ wünsche sich für Hamburg daher eine Initiative wie einen runden Tisch mit allen betroffenen Akteuren, um adäquate Versorgungsstrukturen zu schaffen.
Forscher aus Eimsbüttel: Fatigue-Syndrom ist eine Autoimmunerkrankung
Die 28-jährige Hamburgerin und viele weitere Betroffene setzen ihre Hoffnungen nun darauf, dass die Forschung vorangetrieben wird, dass es irgendwann Medikamente, Behandlungen und vielleicht auch eine Heilung gibt.
Bis dahin ist es aber offenbar noch ein langer Weg. Das bestätigt auch der Eimsbütteler Stressforscher Dr. Christof Ziaja. Seit vielen Jahren arbeitet er schon mit Menschen zusammen, die an dem chronischen Fatigue-Syndrom erkrankt sind – also auch schon vor Corona.
Denn was nicht alle wissen: Das Fatigue-Syndrom hat zwar durch Corona dramatisch zugenommen, aber man konnte es auch bereits vorher bekommen. Forscher Ziaja erklärt: „Es handelt sich um eine Autoimmunerkrankung. Keinesfalls um eine psychische Erkrankung. ME/CFS kann genauso durch Herpesviren oder das Epstein-Barr-Virus ausgelöst werden.“
Corona in Hamburg: Mehrere Tausend Menschen leiden unter Long Covid
Mehrere Tausend Menschen sind nach Angaben des Forschers, der unter anderem am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) und am Prof. Stark Institut für Verhaltenstherapie und Stress- und Fatigueforschung am Schlump tätig ist, allein in Hamburg betroffen. Weitere Tausende Verdachtsfälle kämen hinzu.
Ziaja kennt das Leid der Betroffenen aus unendlich vielen Begegnungen, Gesprächen und Hausbesuchen. Er berichtet von 30-Jährigen, die eben noch mitten im Leben standen, eine Familie gründen wollten und beruflich erfolgreich waren und die jetzt wieder bei ihren Eltern leben, weil ein selbstständiger Alltag nicht möglich ist.
Hamburger Experte: „Eine vollständige Heilung ist unwahrscheinlich“
Aber auch, wenn eine vollständige Heilung derzeit noch unwahrscheinlich ist, gebe es inzwischen Möglichkeiten, die Lebensqualität deutlich zu verbessern. „Eine immer bessere Vernetzung unter den Forschern weltweit hat dazu geführt, dass wir die Erkrankung immer besser verstehen.“
Grob gesagt, gibt es derzeit zwei Wege, das Fatigue-Syndrom zu behandeln. „Bei dem einen handelt es sich um die Methode Pacing“, erklärt Ziaja. „Dabei geht es darum, dass sich der Patient schont und immer unterhalb der Belastungsgrenze bleibt. Das kann im besten Fall dazu führen, dass die Belastbarkeit nach und nach wieder zurückkommt und damit auch die Möglichkeit, wieder am Leben teilzuhaben – wenn auch wahrscheinlich nie mehr so wie vor der Erkrankung.“
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Der zweite Behandlungsweg ist der invasive – also über Eingriffe und Medikamente. „Auch hier gibt es vielversprechende Forschungen und Ansätze“, so Ziaja. „ Wir wissen inzwischen, dass bei vielen ME/CFS-Betroffenen das Spike-Protein des Coronavirus entartet ist. Das wiederum führt zu einer erhöhten Produktion von Auto-Antikörpern, die toxisch ist.“
Hamburger Forscher: Krankenkassen zahlen kostspielige Long-Covid-Behandlung nicht
Bei einem Teil der Patienten hätte sich etwa eine Blutwäsche positiv ausgewirkt. „Allerdings eben nicht bei allen. Und man muss leider auch wissen, dass diese Behandlung kostspielig ist und von den Kassen nicht bezahlt wird“, so Ziaja.
Auch Off-Label-Medikamente, also Medizin, die außerhalb des zugelassenen Wirkungsbereiches eingesetzt wird, spielen eine immer größere Rolle. „Es gibt bestimmte Medikamente, bei denen positive Effekte erzielt worden sind. Aber auch hier sind wir noch im Bereich der Grundlagenforschung.“
Long-Covid-Betroffene aus Hamburg: „Viele kommen nie wieder auf die Beine“
Ziaja betont: „Beide Behandlungswege schließen sich nicht aus, im Gegenteil. Wichtig ist, dass die Behandlung individuell auf den Patienten abgestimmt ist. Bewährt hat sich eine Mischung aus Pacing und invasiven Methoden.“
Doch auch, wenn es derzeit noch keine komplette Heilung gebe, ist es Ziaja wichtig zu betonen, dass es durchaus möglich ist, Lebensqualität zurückzuerlangen. „Es gibt durchaus Patienten, die trotz Einschränkungen wieder am normalen Leben teilhaben können.“ Von dieser Lebensqualität ist Paula Büttelmann noch weit entfernt. „Zur Wahrheit gehört eben auch, dass viele nie wieder auf die Beine kommen.“