Hamburg. In dem Werk gibt es neben Lob auch Kritik am Hapag-Direktor. Historikerin fordert, sein Bild „von Mythen zu befreien“.
Der ReederAlbert Ballin (1857 bis 1918) hat einen unverrückbaren Platz in Hamburgs Geschichte. Über den aus einfachen Verhältnissen stammenden Sohn jüdischer Eltern, der sich zum Direktor der Hapag emporarbeitete und diese an die Spitze der weltweit größten Reederei führte, gibt es zahlreiche Biografien.
Der Ballindamm trägt seinen Namen, die von ihm konzipierte BallinStadt auf der Veddel und der Ballinkai in Altenwerder ebenso.
Das Bild Albert Ballins – ein Leben als Mythos
Die Biografien über Ballin haben sein Leben inzwischen zu einem Mythos gemacht: Ballin sei es über Jahre mit viel taktischem Geschick gelungen, den kapriziösen Kaiser Wilhelm II. im Zaum zu halten, bis er schließlich aufgrund von Intrigen in Ungnade fiel und dann 1918 sein Leben in tiefer Verzweiflung selbst beendete.
Ballin als Wegbereiter der modernen Passagierschifffahrt, als Schöpfer einer menschenwürdigeren Unterbringung von Auswanderern, als ein tragischer Held auch, der in Hamburgs feinen Kreisen immer um Anerkennung ringen musste und schließlich mit dem Untergang seines Lebenswerks 1918 im Selbstmord endete.
Albert Ballin: Historikerin sieht Hamburger Reeder zwiespältig
In dem jüngst erschienen Band „Hamburg in der Novemberrevolution von 1918/19“ zeichnet die Historikerin Dr. Johanna Meyer-Lenz jetzt ein deutlich differenzierteres und kritischeres Bild von Ballin. In gleich zwei Beiträgen arbeitet die Historikerin das Porträt und die Position eines der mächtigsten und einflussreichsten Unternehmensmanager im globalen Seetransport in Hamburg und im Kaiserreich auf.
Dazu hat sie neue Quellen erschlossen. Dabei zeigt sich in der Tat, dass sich Ballin im Zusammenhang mit der gegenüber Großbritannien zunehmend aggressiven Flottenpolitik Deutschlands stark zurückhielt. Allerdings begann er erst um 1908, sich schrittweise und zunächst innerlich von der Marinepolitik des Kaisers zu distanzieren, als diese international als immer unberechenbarer wahrgenommen wurde. Und er tat das nicht zuletzt auch deshalb, weil er mit der Gefährdung der internationalen politischen Beziehungen drohenden Schaden für den Welthandel und folglich für das eigene Unternehmen befürchtete.
Albert Ballin – Hapag-Direktor war gegen politische Modernisierung
In den Jahren davor war Ballin – seit 1888 als Vorstandsmitglied der Hapag und von 1899 an als deren Generaldirektor – dagegen lange nicht nur auf kaiserlichem Kurs geblieben, sondern er hatte diesen auch energisch unterstützt und von ihm profitiert.
„Ballin und der Kaiser teilten (…) die antimoderne Ausrichtung der Innenpolitik“, schreibt Meyer-Lenz; demokratischen Bestrebungen, wie sie von der Arbeiterbewegung gefordert wurden, waren Ballin fremd, so zum Beispiel die von den Sozialdemokraten geforderte Reform des Wahlrechts oder die Anerkennung der Gewerkschaften als gleichberechtigte Tarifpartner.
Historikerin sieht Albert Ballin als „Stabilisator des Systems“
Die sozialistische Arbeiterbewegung blieb bis zum Ende des Kaiserreichs 1918 „durch die Erweiterung strafrechtlicher Verfolgungsmaßnahmen“ ständig unter polizeilicher Beobachtung, was Ballin unterstützte. Der Hapag-Chef sei auch, so Meyer-Lenz, ein „Stabilisator des Systems“ gewesen, indem er der pompösen kaiserlichen Feier- und Festkultur durch eindrucksvolle Schiffsparaden der Hapag-Flotte „den technischen und mondänen Glanz des Internationalen“ verlieh.
Zugleich habe er es verstanden, dank ständiger Modernisierung der Passagierdampfer und der prestigeträchtigen Erfolge seiner Schiffe „als Propagandist einer illusionären schöneren Welt“ Geltung zu erlangen.
Albert Ballin und Adolph Woermann arbeiteten Hand in Hand
Mit Blick auf die aktuelle Kolonialismus-Debatte hat die Autorin Ballins entsprechende Rolle ebenfalls beleuchtet. Wie das Abendblatt kürzlich berichtete, laufen im Bezirk Hamburg-Nord Bestrebungen, Woermannsweg und Woermannstieg umzubenennen, weil deren Namensgeber, der Reeder Adolph Woermann, mit seinem Imperium tief in kolonialistische Aktivitäten verflochten war.
Johanna Meyer-Lenz verweist nun darauf, dass Woermann zu den wichtigsten Geschäftspartnern der Hapag gehörte und beide Unternehmen – durch vielfältige Beteiligungen miteinander verbunden – zeitweise quasi Hand in Hand arbeiteten.
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Albert Ballins Hapag mischte bei Kolonialkriegen mit
Die Hapag war mehrfach bei Truppentransporten in Kolonialkriege eingebunden, beim „Boxeraufstand“ (1899–1901) in China ebenso wie bei der Bekämpfung des Aufstands der Herero und Nama (1904–1908) durch deutsche Kolonialtruppen im heutigen Namibia. Meyer-Lenz zitiert aus Aufzeichnungen des Ballin-Mitarbeiters Johannes Merck, der unter anderem schrieb: „Auch wenn bei den Truppenverladungen zur Bekämpfung der Hereros naturgemäß Adolph Woermann mit seinen Afrikalinien (…) den dicksten Rahm abschöpfte – und er war sehr dick, dieser Rahm –, so haben doch auch wir nach und von Südwest einige Transporte mit sehr gutem Nutzen ausführen können, ebenso wie später regelmäßige Kolonial- und Marineersatz-Transporte (…).“
Und weiter: „(…) Da wir mit dem Lloyd, Woermann und anderen stets unter einer Decke spielten, ist immer noch an jedem Transport ein Erkleckliches verdient worden.“ Derartige Verbindungen stützten laut Meyer-Lenz bis 1914 das deutsche Kolonialregime, das unter anderem mithilfe von Zensur, Disziplinierung, Unterdrückung und schließlich Genozid herrschte.
Historikerin würdigt auch Ballins große Leistungen
Bei aller Kritik stellt die Autorin auch die nach wie vor überragenden Leistungen Albert Ballins heraus. Für die Zeit des Ersten Weltkrieges geht sie beispielsweise seinen vielfachen unternehmerischen Aktivitäten nach, um die Hapag durch den Krieg zu retten. Dabei hat der Reeder Eindrucksvolles geleistet, sodass nach dem Ende des Krieges der vergleichsweise schnelle Wiederaufbau der Handelsflotte folgen konnte.
Aus der Korrespondenz Ballins am Ende des Krieges wird, wie Meyer-Lenz darlegt, die weiter zunehmende Distanz Ballins zum Kaiser deutlich, ebenso seine Bemühungen um eine Friedenslösung. Dabei wird die Zustimmung zu einem demokratischen Systemwechsel bei Ballin Anfang November 1918 ganz konkret, laut Meyer-Lenz „ein enormer Schritt“.
Historikerin: Hamburg sollte seine Geschichte kritischer sehen
Muss das Bild Albert Ballins also revidiert werden? „Auf jeden Fall“, sagt Meyer-Lenz, „sollte das Bild Ballins von den gängigen Mythen befreit werden und sein komplexes unternehmerisches und politisches Handeln in den Zusammenhang mit der Geschichte Hamburgs und seines Hafens in der ersten Phase von Globalisierung und Kolonialisierung gesehen werden.“
Ansätze dazu gebe es bereits in der Unternehmensforschung und in den postkolonialen Forschungen. Sie sollten, so die Autorin, weiter vertieft werden. „Es stünde Hamburg gut an, auch hier seine eigene Geschichte kritischer zu sehen und Forschungsergebnisse für die Revision von Geschichtsbildern nachdenklich zur Kenntnis zu nehmen“, so die Historikerin.