Kreis Pinneberg. Immer mehr Zeitzeugen, die das NS-Regime und den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, versterben. Wie Geschichte lebendig bleiben soll.
Der Kreis Pinneberg will eine lebendige Erinnerungskultur fest etablieren. Damit ist er nach Nordfriesland der zweite Kreis in Schleswig-Holstein, der so etwas initiiert hat. Denn Zeitzeugen, die die Nazi-Herrschaft am eigenen Leib erlebt und erfahren haben, sind kaum noch da. Um die Erinnerungen und Mahnungen dennoch nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, sie stattdessen lebendig zu halten, trafen sich jetzt die Vertreter von allen Organisationen, die sich insbesondere mit der Aufarbeitung des Nazi-Terrors, Fremdenhasses und des Rechtsradikalismus auseinandersetzen, im Kreishaus.
Kreis Pinneberg will lebendige Erinnerungskultur schaffen
„Wir brauchen eine professionelle Erinnerungskultur im Kreis, um aus unserer Geschichte zu lernen und die Fehler aus der deutschen Vergangenheit zu vermeiden“, erklärt etwa Kreispräsident Helmuth Ahrens. Unter der Leitung von Professor Manfred Grieger vom Institut für Wirtschaft und Sozialgeschichte an der Universität Göttingen haben die drei Dutzend Akteure der mit der NS-Geschichte befassten Institutionen in einem fünfstündigen Workshop erste Ergebnisse erarbeitet. Zuvor hatten sich bereits 44 Akteure von ihnen an einem Fragebogen beteiligt.
So soll auf Kreis-Ebene möglichst bald jemand benannt werden, der sich federführend um das Thema kümmert. „Wir brauchen einen festen Ansprechpartner, der die unterschiedlichen Aktivitäten bündelt“, sagt Uta Körby, Leiterin der Landesarbeitsgemeinschaft für die 14 NS-Gedenkstätten im Land. Wie berichtet, gehört seit neuestem auch das Henri-Goldstein-Haus im Quickborner Himmelmoor dazu. Dort mussten während jüdische Kriegsgefangene Torf stechen.
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Erinnerungskultur: Lokale Gruppen im Kreis Pinneberg vernetzen
Der neue „Erinnerungskoordinator“ oder die dafür Beauftragte soll den dezentralen Initiativen dabei helfen, Förderhilfen wie das Bundesprogramm gegen Rechts zu akquirieren und sie bei der Beantragung und Abrechnung der Fördermittel zu unterstützen. Zudem ist ein regelmäßiges Austauschformat auf Ebene des Kreises erwünscht, das der Kreis koordinieren und organisieren, aber nicht inhaltlich kontrollieren soll. Das ist ein weiteres Ergebnis dieses ersten Arbeitstreffens im Kreishaus.
„Die Kreispolitik darf nicht die Oberaufsicht haben und auch nicht die Richtung der Diskussion bestimmen“, erklärt Kreispräsident Ahrens. „Die Freiheit der Erinnerungskultur muss überall gewährleistet sein und darf nicht vom Kreis bestimmt werden.“
Die Aufgabe der Vernetzung der lokalen Gruppen könnte ein Arbeitskreis oder eine Koordinierungsstelle aller Initiativen übernehmen, schlägt Professor Grieger vor. Er soll bis zum Jahresende dem Kreis ein Gesamtkonzept mit einem Zeitplan für die Umsetzung dazu erarbeiten. Die jeweiligen Initiativen arbeiteten meist eigenständig auf lokaler Ebene, erklärt Grieger. „Es fehlt die Vernetzung und Übersicht der Aktivität auf Kreisebene.“
Kreis Pinneberg: Kampf gegen das Vergessen der Gräueltaten
In einem weiteren Schritt sollte diese Aufgabe dann ein hauptamtlicher Beauftragter übernehmen, wofür der Kreistag ein festes Budget bereitstellt. Einen Zuschuss von 75.000 Euro für jeweils drei Jahre schlägt dafür bereits das Kulturforum der SPD im Kreis Pinneberg vor.
„Wir wollen, dass die Erinnerungskultur an die Nazi-Verbrechen ein ständiger Hotspot im Kreis Pinneberg wird“, sagt Kreispräsident Ahrens. Der alljährliche Gedenktag am 27. Januar zur Wiederkehr der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee 1945, die der Kreis Pinneberg seit etwa 20 Jahren etabliert hat, soll nicht die einzige Aktion sein, um die Erinnerung an die dunkle Geschichte wachzuhalten.
Erinnerungskultur: Wie kann die junge Generation erreicht werden?
Ganz wichtig sei den Initiativen, die junge Generation in diese Erinnerungskultur einzubinden. Sie äußerten ein großes Bedürfnis, Ideen zu entwickeln und Strukturen zu schaffen, um die Jüngeren zu erreichen und sie möglichst zu beteiligen. Zurzeit sei es eher die „Generation 60plus“, die sich eingehend mit der Vergangenheitsbewältigung befasst, sagt Grieger. „Diese Klage allein löst das Problem aber nicht.“ Die Initiativen müssten sich schon selbst und gemeinsam Gedanken machen, wie sie das Thema an die jungen Menschen herantragen, dass sie die Geschichte begeistert. In der Schule hätten sie sich in allen möglichen Fächern damit beschäftigt. Das Wissen darum sei also da. Jetzt müsse es darum gehen, ansprechende, digitale Formen zu finden, die die jungen Leute für ein Mitdenken und eine Mitarbeit gewinnt.
Darüber hinaus rät Professor Grieger dem Kreis, auch Spätaussiedler und Kriegsflüchtlinge in die Diskussion um die Erinnerungskultur einzubeziehen. Dabei könnten diese Gruppen ihre eigenen Flucht-und Kriegserfahrungen in die Debatte einbringen, was allen Seiten neue Perspektiven eröffnen würde. „Da werden die hiesigen Initiativen dazulernen müssen“, glaubt Grieger. Auch die aktuell vielerorts aufflammende Erinnerung an die Kolonialzeit, die die autokratischen und rassistischen Strukturen oft erst geschaffen und verfestigt hat, würde eine nachhaltige Erinnerungskultur bereichern.
Kreis Pinneberg: So soll die Erinnerungskultur lebendig bleiben
Auch die Aufarbeitung der SED-Herrschaft und der Stasi-Vergangenheit in der DDR gehört für Kreispräsident Ahrens dazu. „Es geht nicht nur um die Geschichte des sogenannten Dritten Reiches.“ Es gehe darum, die Strukturen von Zwangsherrschaft, Folter und Unterdrückung zu analysieren und daraus für die Zukunft zu lernen. Für den ehemaligen SPD-Bundestagsabgeordneten Ernst Dieter Rossmann ist wichtig, dass die Erinnerungskultur auf Werten beruhe und diese stärke, die jede Form von Totalitarismus, Diktatur und Menschenrechtsverletzungen ablehnten.
Das Echo auf diese erste Veranstaltung im Kreishaus sei überaus positiv. „Es ist großartig, dass der Kreis Pinneberg dies jetzt initiiert hat“, sagt Irmgard Jasker von der Friedenswerkstatt Wedel. „Wir müssen vor den Gefahren des Rechtsradikalismus warnen. Da rollt eine Welle der Gewalt auf uns zu“, warnt sie. Das würden die Aufmärsche von Neonazis und die NSU-Morde zeigen.
Es sei wichtig, die Mechanismen zu begreifen und immer wieder zu reflektieren, die zu diesen menschenverachtenden Ausgrenzungen, zu Rassismus und Gewalt führten, sagt Vize-Kreispräsidentin Sabine Schaefer-Maniezki. Nur so könnte sich die demokratische Gesellschaft gegen die Angriffe von rechts verteidigen und sich die Geschichte nicht wiederholen. Die Erinnerungskultur solle den Leuten bewusst machen, welche Bedeutung ein demokratisches Deutschland für unsere Gesellschaft habe und wie fragil diese sein könne, wenn sie ausgehöhlt wird, ergänzt Christina Lefebvre vom Henri-Goldstein-Verein. Sie plädiert ebenfalls dafür, die Schicksale hierher geflüchteter Menschen in die Erinnerungskultur einzubinden. „Die wissen, was Krieg und Flucht bedeutet.“