Jennifer Hinze will ein veganes Feinkostgeschäft mit Café aufmachen. Der Eröffnungstermin muss verschoben werden. Teil zwei der Serie.

Nichts. Kein Ladenschild. Kein Firmenlogo. Keine Schaufensterbeschriftung. Nichts. Nur dieser Zettel neben der Eingangstür. Ein DIN-A4-Blatt, einmal gefaltet, mit zwei Streifen Tesa festgeklebt. „Jennifer Hinze. Grete Schulz. Pflanzliche Feinkost“, steht da, mit Kugelschreiber hingekritzelt. Auf die Schnelle. Weil zu viele Dinge in zu wenig Zeit erledigt werden müssen. Weil die Zeit knapp ist. Weil der Countdown läuft. In zwei Wochen will Jennifer Hinze ihr veganes Feinkostgeschäft mit angeschlossenem Café im Stellinger Weg 38 a eröffnen. Dafür hat die 34-Jährige ihren sicheren Bankjob gekündigt und einen Kredit über 80.000 Euro aufgenommen. Ein mutiger Schritt! Ob er gelingt? Ob sich der Laden rentiert? Ob er genug Umsatz macht, um damit die laufenden Kosten von rund 5500 Euro zu decken und den Kredit von zusätzlich rund 1200 Euro tilgen zu können?

Das möchte das Abendblatt wissen und begleitet Jennifer Hinze ein Jahr lang bei ihrer Existenzgründung. Vor fünf Wochen haben wir das erste Mal über die Jungunternehmerin berichtet. Seitdem ist viel passiert – aber nicht genug. Aus diesem Grund musste die Einweihung ihres Ladens Grete Schulz, benannt nach ihrer Ur-Großmutter, verschoben werden und ist jetzt für den 5. Dezember geplant.

„Es sind einfach zu viele unvorhersehbare Sachen passiert“, sagt Jennifer Hinze. Angefangen von den Wänden im Laden, die nicht wie geplant einfach gestrichen werden konnten, sondern vorher komplett abgeschliffen und gespachtelt werden mussten. Bis hin zu dem Fußboden, der beim Abstellen des schweren Verkaufstresens schwer beschädigt wurde und gerade aufwendig repariert wird. „Von meinem alten Job in der Bank im Bereich Baufinanzierung weiß ich natürlich, dass Bauprojekte immer teurer werden als gedacht und länger dauern als geplant. Aber wenn es einen dann selbst trifft, ist das schon hart“, sagt Jennifer Hinze.

Jeden Betrag über 1000 Euro muss sie bei der Bank nachweisen

Sie würde sich selbst als Perfektionistin bezeichnen, als Meisterin der Planung. Um so schwerer ist es jetzt, dass ihre Pläne nicht aufgehen. Dass sie immer mehr Eingeständnisse machen muss. Dass ihr Zeitplan von anderen abhängt. Vom Maler und Tischler, dem Elektriker und dem Küchenbauer. Dem Weinlieferanten und Käseproduzenten. Dem Kaffeehersteller und der Druckerei. 14 Tage sind es nur noch bis zur Eröffnung. Und der Laden ist noch immer eine Baustelle.

Der Fußboden hat eine neue Estrich-Schicht bekommen, muss aber jetzt noch gestrichen werden. Die Küche ist angeliefert, aber noch nicht fertig montiert. Ein Teil des Verkaufstresens steht bereits, der Rest wird voraussichtlich nächste Woche Dienstag aufgebaut. Heute ist der Fliesenleger da. Er will die Fliesen hinter dem Tresen an der Wand anbringen und diskutiert mit Jennifer Hinze die Anordnung. Sollen die Platten auf Kreuzfuge verlegt werden? Oder im Verband? Jennifer Hinze schiebt die Kacheln kurz hin und her, begutachtet erst das eine, dann das andere Muster. Schließlich entscheidet sie sich kurzerhand für die Verlegung im Halbverband. Sie ist es gewohnt, schnelle Entscheidungen zu treffen. „Die Fliesen sind übrigens auch ein Grund für die Verzögerung“, sagt sie und erzählt, dass ausgerechnet die von ihr ausgesuchten Platten nicht vorrätig waren, sondern erst in Italien nachbestellt werden mussten. Lieferzeit: drei Wochen.

Jennifer Hinze will noch mehr sagen, als es in der Küche knallt. Sie zuckt zusammen, lächelt gequält. „Oh, nein, nicht schon wieder“, sagt sie und hofft, dass nichts passiert ist. Dem Handwerker? Ja, natürlich, dem auch. Aber bitte auch dem Laden. Ihrem Laden. Für den sie alles aufgegeben hat, in den sie alles reingesteckt hat. Nicht nur ihre eigenen Ersparnisse, auch 80.000 Euro von der KfW. Sie hat sich den Kredit in zwei Tranchen überweisen lassen, jeweils 40.000 Euro. Die erste im Oktober, die zweite gerade im November. Spät abends, wenn in der Nachbarschaft längst die Lichter aus sind, sitzt Jennifer Hinze meist zu Hause auf dem Sofa und bezahlt online Rechnungen. Jeden Betrag über 1000 Euro muss sie bei der Bank nachweisen, alle Rechnungen werden von ihr chronologisch archiviert. Nur so kann sie den Überblick behalten, nur so gut haushalten.

Jennifer Hinze erzählt gerade von den Möbeln, die ein Tischler extra für sie anfertigt und die nächste Woche geliefert werden, als im Flur eine Leiter umfällt. Laut. Scheppernd. Beängstigend. „Einfach ignorieren“, sagt sie. Mehr zu sich selbst als zu anderen. Am Anfang ist sie jedes Mal aufgesprungen, jetzt arbeitet sie einfach weiter. Macht weiter. Und trotzdem gibt es da diese Tage, an denen sie am liebsten alles hinschmeißen würde. Aufgeben würde. Kündigen würde, wie sie es nennt. Im Scherz. Weil es niemanden gibt, bei dem sie kündigen könnte. Weil sie weitermachen muss. Weil sie einen Mietvertrag für drei Jahre unterschrieben hat, den Kredit abbezahlen muss. Und weil sie eine Verantwortung ihren Mitarbeitern gegenüber hat.

Sie hat eine Service-Kraft und einen Koch eingestellt. Nicht nur auf 450-Euro-Basis, sondern fest. Duygu Aydin, 28, hat bereits in dem Café Fräulein K. gearbeitet, das vorher in den Räumlichkeiten am Stellinger Weg 38 a war. Daniel Bethe, 35, den Koch, kennt sie seit Jahren. Seit sie bei einem veganen Brunch in der Pauline war, wo er vorher gearbeitet hatte. Seit sie ihm von ihren Geschäftsplänen erzählt hat und er begeistert war. Und seit sie gemerkt haben, dass sie ähnlich ticken. Dass sie die gleichen Ideen haben. Die gleiche Vision. Die Vision von einem Laden, wo sie nur Produkte verkauft, von denen sie selbst überzeugt ist. An denen ihr Herz hängt. Ein Laden, wo sie mit den Menschen ins Gespräch kommen kann. Den Leuten zeigen kann, dass vegan nicht Verzicht bedeutet. Sondern Genuss. Und Gewinn. Ein Laden mit angeschlossenem Café, in dem die Kunden die Produkte vor dem Kauf probieren können. In dem sie Anregungen bekommen. „Es geht uns nicht darum, jemanden zu bekehren!“, sagt Jennifer Hinze mit Nachdruck. Das ist ihr ganz wichtig. Sie will niemanden missionieren, sondern begeistern. Überzeugen.

Mit einfachen und leckeren Produkten. Ihr Motto: Keep it simple! Mach es einfach! Bloß kein Schnickschnack, kein Chichi. „Warum kompliziert, wenn es auch einfach geht?“ Es ist keine Frage, sondern ein Statement. „Wir wollen zeigen, dass man mit einfachen Zutaten köstliche Gerichte machen kann“, sagt Jennifer Hinze. Wenn sie von ihren Plänen erzählt, spricht sie fast immer von „Wir“. Nie von „Ich“. Sie sieht sich nicht als Chefin. Sondern als Teil eines Teams. Sie will nichts bestimmen, sondern abstimmen. Nichts vorgeben, sondern vorschlagen. Der Austausch mit anderen ist für sie wichtig, überlebenswichtig. „Alleine würde ich das nicht schaffen“, sagt sie. Alleine könne sie einfach nicht alles bedenken, alles planen, alles beachten.

Und was noch wichtiger sei: Sie kann einfach auch nicht alles. Rein fachlich! Weil sie von manchen Dingen einfach keine Ahnung hat. Vom Wein zum Beispiel. Zu der Weinprobe mit dem Händler in der vergangenen Woche hat sie Wolfgang Trenkner, 55, mitgenommen. Den Freund ihrer Freundin. Sie stellt ihn als Weinkenner ihres Vertrauens vor, dann geht es ans Probieren. Der Händler entkorkt weiße und rote, spanische und italienische Weine. Er erklärt, welcher Wein zu welchem Essen passt und gibt Tipps zur Berechnung des Preises im sogenannten Regalbereich. Die Regel: Einkaufspreis mal 1,8 gleich Verkaufspreis. Außerdem gilt: Das erste Glas im Restaurant bezahlt die Flasche. Jennifer Hinze hört zu, schreibt mit, wirft Bemerkungen ein: „Da wir keine Abendgastronomie sind, brauchen wir nur wenig Flaschenweine. Wichtiger sind für uns Weine für unsere Feinkostecke und den Verkauf.“

Koch Daniel hat für die Weinprobe einen Tomaten-Brot-Salat und verschiedene Dips gemacht. Seine Premiere in der neuen Küche, die zwar noch nicht fertig, aber trotzdem schon fabelhaft ist. „Das ist das erste Mal, das ich in einer jungfräulichen Küche koche“, sagt Daniel Bethe. Er hat eine Ausbildung als Koch gemacht und lange in Berlin gearbeitet, studiert aber jetzt Biologie an der Uni Hamburg. Bei Grete Schulz arbeitet er nur nebenbei, 25 Stunden pro Woche. Er bekommt das branchenübliche Gehalt eines Kochs, die Servicekraft etwas mehr als den Mindestlohn. Neun Euro pro Stunde. Am Anfang. Wenn der Laden gut läuft, will Jennifer das Gehalt aufstocken.

„Gute Arbeit verdient einen guten Lohn“, sagt sie und erzählt, dass sie 3500 Euro für Personalkosten einkalkuliert hat. Nur für Daniel und Duygu. Nicht aber für sich selbst. Als Einzelunternehmerin zahle sie sich kein Gehalt, das gebe es nur in Kapitalgesellschaften, erklärt sie und lässt kurz die Bankkauffrau durchklingen, die sie früher war. Früher. Das klingt so, als ob es Jahre her ist. Weil so viel seitdem passiert ist. Dabei ist es noch nicht einmal vier Monate her, dass sie gekündigt hat.

Ihre Business-Kostüme hat sie abgegeben. Ihr Faible für Zahlen aber behalten. Sie weiß, dass Existenzgründer mit gutem Finanzwissen bessere Chancen haben. Länger am Markt bleiben. Seltener aufgeben müssen. Pleite gehen. Doch an diesen Worst Case denkt Jennifer Hinze nicht. „Gedanken wie diese klauen mir Energie, die ich für andere Sachen brauche“, sagt sie.

In der Küche knallt es, dann ist ein Fluchen zu hören. Jetzt geht sie doch gucken. Alles gut, nur was umgefallen. Von vorne ruft der Fliesenleger, dann klingelt das Telefon. Während sie mit einem Lieferanten spricht, wischt sie vorsichtig den Baustaub von einer Tüte mit Aufklebern. Darauf ist ihr Logo zu sehen: zwei sich kreuzende Pflanzenblätter. „Grete Schulz. Pflanzliche Feinkost“ steht auf den Stickern. Genauso wird auch das Ladenschild aussehen. In zwei Wochen soll es geliefert werden. Es ist ein Geschenk ihrer Mutter.