Jennifer Hinze hat ihren Job bei der Haspa gekündigt, um ein veganes Feinkostgeschäft mit Café zu eröffnen. Teil eins der Serie.

Es war ein winziger Moment. Sekunden nur. Als Jennifer Hinze, 34, die U-Bahn hörte und das Vi­brieren unter den Füßen spürte, beschloss sie, zu springen. Ihr altes Leben hinter sich zu lassen und neu zu beginnen. Alles aufzugeben, um noch mehr zu gewinnen. Also sprang sie. Ins kalte Wasser. In die Selbstständigkeit.

Fast zwei Jahre lange hatte sie darüber nachgedacht. Gründerseminare besucht und Finanzierungen aufgestellt, Pläne entwickelt und wieder verworfen. 20 Monate lang hatte sie von dem Schritt geträumt, aber nie den Mut aufgebracht. Bis sie dieses leer stehende Café in Eimsbüttel besichtigte und es plötzlich wusste. Wusste: Das ist es. In dem Moment, als sie die U 2 wahrnahm. Als sie merkte, welches Potenzial in dem Laden steckt. Wie viele Menschen hier täglich vorbeigehen, die auf dem Weg zur nahegelegenen U-Bahn-Station Lutterothstraße oder dem Kindergarten gegenüber sind. Die bei ihr einkehren könnten. Einkaufen. Ein winziger Moment, Sekunden nur. Doch seitdem ist im Leben von Jennifer Hinze nichts mehr so wie vorher.

Rund 30 Prozent der Existenzgründer scheitern in den ersten drei Jahren

Dies ist die Geschichte einer Unternehmensgründung. Einer Existenzgründung, wie es heißt. Weil es um mehr geht, als um Unternehmen und Umsätze. Weil es um Existenzen geht. Ums Leben. Und Überleben. Daher geht es in dieser Geschichte nicht nur um Firmenkonzepte und Finanzen, sondern um den Menschen dahinter. Und um den Mut, ein Unternehmen zu gründen. Denn obwohl jedes Jahr Hundertausende Menschen den Schritt in die Selbstständigkeit wagen, scheitern rund 30 Prozent der Gründer bereits in den ersten drei Jahren. So die Statistik.

Es ist kurz vor zehn Uhr. Jennifer Hinze hat gerade die Tür zu ihrem Laden aufgeschlossen und wischt mit einem Lappen den Staub von den beiden Stühlen, die sie behelfsweise aufgestellt hat. Die Wand ist aufgeklopft, die Fußleisten sind abmontiert, der Boden an einigen Stellen kaputt. „Kaum vorstellbar, dass wir in sechs Wochen eröffnen wollen, oder?“, fragt Jennifer Hinze und lacht. Bis zum 29. November soll aus der Baustelle ein veganer Feinkostladen mit angeschlossenem Café werden. Der Name: Grete Schulz, benannt nach ihrer Ur-Großmutter.

Dafür hat Jennifer Hinze ihren gut bezahlten Job bei der Haspa gekündigt, einen Kredit über 80.000 Euro aufgenommen, ihre Ersparnisse investiert und einen 75 Quadratmeter großen Laden am Stellinger Weg 38a angemietet. Hier war vorher das Café „Fräulein K.“, das im Sommer zugemacht hat. Warum? Am Umsatz kann es auf jeden Fall nicht gelegen haben, meint Jennifer Hinze. Die Zahlen ihrer Vormieterin durfte sie nämlich einsehen. Die seien sehr gut gewesen.

„Irgendwann verliert man die Angst vor Zahlen“

Zahlen sind ihr Ding. Sie hat nach dem Abitur eine Banklehre sowie den Fachwirt gemacht und bei der Haspa im Bereich gewerbliche Immobilien-Investments gearbeitet. Dort ging es um Investitionen ab zehn Millionen Euro – jetzt um 80.000 Euro. „Irgendwann verliert man die Angst vor Zahlen“, sagt Jennifer Hinze und nippt an einer Flasche Fitz Limo. Sie hat sich schon vor Monaten über Fördermöglichkeiten und Finanzierungen informiert, Seminare bei der Hamburger ExistenzgründungsInitiative H.E.I. belegt und ein Gründercoaching über die Kreditanstalt für Wiederaufbau gemacht. Sie weiß, dass Existenzgründer mit gutem Finanzwissen bessere Chancen haben, sich am Markt durchzusetzen. Dass sie seltener aufgeben müssen. Das hat eine Studie der KfW ergeben. Allein 2014 wurden über das Startergeld 5900 Existenzgründer mit 278 Millionen Euro unterstützt.

Jennifer Hinze kennt die Zahlen, aber sie hätte nie gedacht, dass sie selbst einmal Teil davon sein wird. Dass sie die Sicherheit eines festen Jobs und Einkommens gegen die Unsicherheit der Selbstständigkeit eintauscht. Ausgerechnet sie! Die Sicherheitsfanatikerin, wie sie sich selbst nennt. Die ihr Geld lieber auf den Sparbuch hat, als in Aktien zu investieren. Die eine Banklehre gemacht hat, weil sie einen sicheren Job wollte. Die Sicherheit über alles gestellt hat. Bis zu diesem einen Moment, in dem sie gesprungen ist.

Die Tür wird aufgerissen und der Wind weht ein paar Herbstblätter herein. Der Hausmeister und die Handwerker kommen und wollen die Heizkörper abnehmen. Jennifer Hinze springt auf und geht mit den Männern von Raum zu Raum. Sie erklärt, fragt nach, trifft Entscheidungen. Klar. Kompetent. Sie ist es gewohnt, Struktur ins Chaos zu bringen, den Überblicke zu behalten. Verantwortung zu übernehmen. „Auch wenn das jetzt vielleicht nicht so wirkt“, sagt sie und zupft an ihrem alten Pullover und der Jeans. Früher hat sie Hosenanzug bei der Arbeit getragen. „Als ich den Job bei der Bank aufgegeben habe, musste ich mich erstmal neu einkleiden.“ Ihre Business-Sachen hat sie verschenkt, nur zwei Blusen und einen Blazer behalten. Man weiß ja nie.

Die Handwerker fangen an zu arbeiten und Jennifer Hinze hat wieder Zeit zu erzählen. Zu erzählen, wie sie 2013 umgezogen ist und im Bioladen neben ihrer neuen Wohnung das Buch „Vegan For Fit“ sieht und kauft. Wie sie zum ersten Mal vegane Zucchini-Spaghetti isst und wie gut sie sich danach fühlt. Wie sie von diesem Banktyp liest, der seinen Job an den Nagel gehängt hat, um eine Kochlehre zu machen. Und wie sie ihrer Mutter davon erzählt und diese salopp zu ihr sagt: „Was willst Du denn mit einer Kochlehre? Mach doch lieber einen Laden auf.“ Ein winziger Moment, Sekunden nur. Doch unvergesslich ins Gedächtnis gebrannt.

Jennifer Hinze hält inne, versucht sich an alles zu erinnern. An die schlaflose Nacht danach. An die Aufregung, aber auch die Angst. „Irgendwie war mir das aber zu krass“, sagt sie und erzählt von ihrer damaligen Idee, stattdessen einen Marktstand für vegane Produkte aufzumachen – und nebenbei weiter zu arbeiten. Sicherheit zu haben. Sie netzwerkt. Sucht eine Mietküche und macht ein Gründercoaching beim Unternehmensberater Uwe Twachtmann. Er sagt etwas zu ihr, das alles verändert: „Frau Hinze – manche Sachen müssen größer geplant werden.“ Größer als ein Stand auf dem Wochenmarkt, größer als eine Existenzgründung im Nebenerwerb. Größer, als Jennifer Hinze sich das bis zu diesem Zeitpunkt vorstellen konnte. So groß, dass sie eine Nacht nicht schlafen kann – und einen Entschluss fasst.

Alles aufgegeben noch bevor es wirklich los ging

Jennifer Hinze macht eine Pause, reibt die Hände aneinander. Im Laden ist es kalt. Die Scheiben sind alt, sollen irgendwann noch ausgetauscht werden. Vier Quadratmeter Schaufensterfront hat sie. Immer wieder bleiben die Menschen draußen stehen, schirmen mit einer Hand die Augen ab und spähen in den Laden. Neugierig. Nett. „Die Leute sind unglaublich“, sagt Jennifer Hinze und winkt einem Passanten zu. „Immer wieder kommt jemand einfach rein, um ‘hallo’ zu sagen und viel Glück zu wünschen.“ Großartig sei das. Sie fühlt sich wohl hier.

Hier, wo sie durch einen Zufall gelandet ist. Zufall oder Schicksal. An einem heißen Sommertag im Juli, als sie sich mit einer Freundin treffen will und sich verfährt, mit dem Fahrrad. Im Stellinger Weg hält sie an, will nach dem Weg fragen. Da sieht sie das Café mit dem Zettel im Schaufenster. Darauf steht: „Wir werden aus persönlichen Gründen schließen.“ Die Aufregung, die sie damals erfasst habe, spürt man heute noch. Sie spricht schneller und schneller. Erzählt, wie sie die Café-Betreiberin sofort über Facebook anschreibt hat. Wie sie das Geschäft vier Tage später besichtigt. Die U-Bahn hört. Und springt.

Sie kündigt ihren Job. Noch bevor sie die Zusage des Vermieters hat und einen Mietvertrag unterschreibt. Noch bevor sie den Businessplan erarbeitet. Noch bevor sie eine Bank findet und den Kredit beantragt. Noch bevor das Geld bewilligt wird. „Verrückt, oder?“, fragt Jennifer Hinze und lacht. Es ist eine rhetorische Frage.

Noch nicht einmal drei Monate ist das jetzt her und in dieser Zeit ist mehr passiert, als sich in ein paar Zeilen pressen lässt: ein Koch wurde engagiert, eine Grafikerin für die Internetseite gebucht, ein Ladenbauer und ein Beleuchter beauftragt. Kostenvoranschläge für Tische, Stühle, Tresen, Lampen, Bilder, Geschirr und die Küche eingeholt und verglichen. Preiskalkulationen mussten aufgestellt und eingehalten werden. „Das ist das schwierigste“, sagt Jennifer Hinze. Mit dem Geld zu haushalten.

90 Stunden pro Woche arbeitet Jennifer Hinze im Moment. Tendenz steigend

Vieles hat sie richtig einkalkuliert. Die Kosten für die Industrieküche zum Beispiel, mit ihren drei vorgeschriebenen Waschbecken und der Gefriertruhe für rund 12.000 Euro. Oder für den Beleuchter (6000 Euro), die professionelle Kaffemaschine (knapp 7000 Euro), den Interntauftritt (2000 Euro). Oder Marketing-Maßnahmen 3000 Euro. Anderes hat sie gar nicht bedacht: Dass sie einen professionellen Mixer mit Schallschutz braucht und nicht mit ihrem Haushaltsgerät arbeiten kann. Im Budget ist sie trotzdem. Noch. Aber bis zur Eröffnung sind es noch sechs Wochen. Viel Zeit, um Geld auszugeben. Wenig Zeit, um noch alles zu erledigen. 90 Stunden pro Woche arbeitet Jennifer Hinze im Moment. Tendenz steigend. „Das geht nur, weil ich Single bin“, sagt Jennifer Hinze, die alles tut, um ihre monatlichen Fixkosten so gering wie möglich zu halten. Sie hat eine kleine, günstige Wohnung, kein Auto.

Doch die Fixkosten des Betriebes sind hoch. 5500 Euro hat Jennifer Hinze für Personal, Miete, Telefon, Steuerberater, Gema-Gebühr, Instandhaltungsrücklagen, Strom, Wasser und Sonstiges eingeplant. Aber ohne Schuldentilgung. Den Kredit muss sie in den ersten zwei Jahren nicht zurückzahlen. Die KfW räumt Existenzgründern bis zu zwei tilgungsfreie Jahre ein. Danach muss Jennifer Hinze ihren Kredit (80.000 Euro plus rund 11.000 Euro Zinsen) tilgen. Jeden Monat zwischen 1112 und 1292 Euro zahlen. Sechs Jahre lang. Egal, wie das Geschäft läuft. Egal, ob sie im Urlaub ist oder krank.

Doch Jennifer Hinze glaubt, dass sie es schafft. Dass ihr Konzept aufgeht. Vor ein paar Wochen hat sie mit einem Handklicker die Laufkundschaft gezählt. Von 7.00 bis 9.30 Uhr waren es 250 Menschen. „Wenn nur ein Teil von ihnen zu uns kommt. . .“, sagt Jennifer Hinze. Der Rest des Satzes hängt in der Luft wie der Staub der Baustelle. Das Haus ist alt. 1899 erbaut. Es ist das Geburtsjahr ihres U-Großvaters. Dem Mann von Grete Schulz.