Hamburg. Wo ist es in Hamburg am schönsten? Teil 49: Wo ohne Gedöns, aber mit Hartnäckigkeit in eine goldene Zukunft geblickt wird.
Die goldenen Zeiten sind hier längst angebrochen. Und ihr Vorbote strahlt schon seit zwei Jahren direkt am S-Bahnhof Langenfelde jeden Abend im malerischen Licht der untergehenden Sonne. Das „goldene Hochhaus“ von Stellingen kann getrost als Symbol für die glänzende Zukunft dieses Stadtteils herhalten. Mehr aber auch nicht. Denn nichts liegt den Bewohnern dieses spannenden Stadtteils ferner als zu viel Aufhebens und Gedöns um Bauten oder Personen in ihrem Revier.
Dabei haben die goldenen Zeiten schon vor mehr als 100 Jahren in Stellingen Einzug gehalten. Sechs Seehunde hatte der Fischgroßhändler Gottfried Claes Carl Hagenbeck einst den Finkenwerder Fischern abgekauft und auf St. Pauli auf dem Spielbudenplatz ausgestellt. Die Hamburger kamen in Scharen, um die possierlichen Tiere zu bestaunen.
Also eröffnete Hagenbeck 1907 den ersten gitterlosen Tierpark der Welt in Stellingen – damals noch vor den Toren Hamburgs. Eine Sensation! Die Idee der artgerechten Haltung und Präsentation exotischer Tiere in ihrem natürlichen Lebensraum ist revolutionär und bis heute wegweisend. Schon damals schaute die Welt nach Stellingen.
Auf die Autobahn A7 in Stellingen kommt jetzt ein Deckel drauf
Und gerade richten sich wieder staunende Blicke auf diesen Stadtteil. Genauer: auf den Stellinger Deckel. Ein bisschen hat das auch diesmal mit Tieren zu tun. „Vogelzwitschern statt Verkehrslärm“ lautet das Motto der Zukunft. Denn eine der meistbefahrenen Autobahnabschnitte in Deutschland mit mehr als 150.000 Fahrzeugen pro Tag verschwindet nun im Tunnel.
Knapp 900 Meter lang, 50 Meter breit und 5,10 Meter hoch. 300 Millionen Euro wird das kolossale Bauwerk verschlingen. Es ist nicht nur ein Ausweis für großartige Ingenieurskunst, sondern auch für die Hartnäckigkeit der Stellinger Bürger. Und auch der Beweis, dass ein Stadtteil immer nur so gut und so lebendig ist wie seine Bewohner.
Stellingen: Das sind die Fakten
- Einwohner: 26.185
- Davon unter 18: 3747
- Über 65: 4827
- Durchschnittseinkommen: 32.600 € (2013)
- Fläche: 5,8 km²
- Anzahl Kitas: 11
- Anzahl Schulen: 3 Grundschulen; 1 Gymnasium; 2 Stadtteilschulen
- Wohngebäude: 2801
- Wohnungen: 14.062
- Niedergelassene Ärzte: 37
- Straftaten im Jahr 2018: Erfasst: 2134; Aufgeklärt: 880
In Stellingen gibt es davon eine ganze Menge. Menschen wie Olaf Jessen. Der Gründer des Vereins für Gewaltprävention „Boxschool“ unterstützt Schulen im Umgang mit gewaltbereiten Kindern und Jugendlichen. Mit seinem Team hilft der Stellinger, der direkt am goldenen Hochhaus sein Sportstudio betreibt und sich unermüdlich für eine gute Nachbarschaft im Viertel engagiert, 29 Schulen bei der Prävention und Bewältigung von Konfliktsituationen. Kümmert sich um Schüler, die im Abseits stehen oder Opfer von Gewalt geworden sind, und hilft aktuell rund 800 Kindern und Jugendlichen durch ein gezieltes Boxtraining in ihrer Entwicklung.
Oder Kadriya Sakrak, die ehrenamtlich in der Fazle-Omar-Moschee tätig ist, dort Deutschkurse für Frauen gibt, Asylsuchende bei Behördengängen begleitet, eine Kochgruppe für Kinder leitet und Schwimmkurse für Frauen gibt. Vor drei Jahren erhielten Kadriya Sadrak und Olaf Jessen den Bürgerpreis.
Stellinger reden nicht viel, sie machen lieber
Sie reden nicht viel, sie machen lieber. So wie Cläre Bordes, die seit Jahren mit zahlreichen Graffiti-, Biografie- oder Fotoprojekten an der Stadtteilschule Stellingen die Schüler stark macht.
Oder Ernst Günther Josefowsky. „Als wir die Idee hatten, einen Deckel über die A 7 zu bauen, wurden wir ausgelacht“, sagt er. Zu teuer und keinesfalls zu realisieren, bekam er vom damaligen Stadtentwicklungssenator Michael Freytag (CDU) zu hören. „Das schaffen Sie nie, hat er zu mir gesagt.“ Aber die vier Stellinger, die 2005 die Bürgerinitiative gründeten, blieben hartnäckig. „Wir werden gegen alle Planungen, die eine Autobahnerweiterung ohne Deckel vorantreiben, mit allen legalen Mitteln kämpfen“, schrieben sie zu Beginn ihres Kampfes.
Nach fast 15 Jahren knallten im April dieses Jahres die Sektkorken auf dem fertiggestellten Dach der Oströhre. Josefowsky, 1963 geboren, ist am Imbekstieg aufgewachsen. „Wir schauten aus dem Wohnzimmerfenster auf ein Getreidefeld.“ Dann ist direkt vor ihrer Nase eine Umgehungsstraße gebaut worden, die 1968 heimlich zur Autobahn erklärt wurde. Anfang der 70er-Jahre kam die sechsspurige Trasse, der Verkehr nahm ständig zu, der Lärm wurde unerträglich – und mit mehr als 75 Dezibel war er irgendwann auch gesundheitsschädlich.
Gleich neben dem A7-Deckel entsteht ein richtiges Stellinger Zentrum
Nun kommt auf den Lärm und die Abgase der Deckel drauf. „Früher musste ich die Möbel auf dem Balkon täglich vom Russ befreien“, sagt Josefowsky. Jetzt sei die Feinstaubbelastung drastisch gesunken. „Die Lebensqualität hat sich enorm erhöht.“ Wenn Ende 2020 auch die Weströhre ihren Deckel hat, wird oben drauf neues Leben wachsen. 3,9 Hektar groß ist die geplante Parkanlage, dazu kommt eine 1,4 Hektar große Fläche für Kleingärten.
Und gleich nebenan entsteht ein richtiges Stellinger Zentrum. Direkt neben dem alten Rathaus auf der ehemaligen Sportanlage des TSV Stellingen werden in den kommenden Jahren 700 neue Wohnungen gebaut. Ein neues Quartier mit Läden, sozialen Einrichtungen und einem Stadtteilhaus. „Fast 50 Jahre lang war Stellingen ein Stadtteil, den man durchfahren hat“, sagt Josefowsky. „Jetzt wird daraus endlich ein Stadtteil, in dem man bleiben kann.“
Wirklich glänzende Aussichten sind das.
Stellingen: Das sind die Highlights
1. Hagenbecks Tierpark
Seit mehr als 100 Jahren begeistert die 19 Hektar große Parkanlage mit weltberühmtem Afrika-Panorama und mehr als 1850 Tieren, darunter eine der größten Elefantenherden Europas, Besucher aus aller Welt. Sie können im Eismeer auf einem 750 Meter langen Weg zum Polarforscher werden und im Tropen-Aquarium in eine faszinierende Unterwasserwelt eintauchen.
2. Stellinger Schweiz
Dieses hügelige Gebiet ist aus dem Erdaushub der Bauarbeiten an der A 7 entstanden. Neblige Wiesen am Morgen, Sonnenuntergänge am Abend – ein kleines Idyll mit ländlichem Charme mitten in der Stadt. Dort gibt es auch eine Hundeauslaufzone und am Deelwisch einen wunderschönen Spielplatz mit Geschicklichkeitsparcours, Seilbahn und Rodelberg.
3. Fazle-Omar-Moschee
Die älteste Moschee Hamburgs wurde am 22. Juni 1957 an der Wieckstraße von der Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ) eröffnet. Sie wird auch für interreligiöse Dialoge und Diskussionsrunden genutzt, ist offen für Schulgruppen und interessierte Bürger und beteiligt sich regelmäßig am Tag der offenen Moschee in Hamburg, um Vorbehalte und Ängste abzubauen.