Hamburg. Wo ist es in Hamburg am schönsten? Teil 33: Gott und die Welt treffen, Torten genießen und Bahn fahren – wenn sie kommt.
Unsere Alster heißt Wandse und Rahlau, und unsere Mönckebergstraße ist die Rahlstedter Bahnhofstraße, gesäumt von einem Biosupermarkt, einer Lebensmittelfiliale und der privat geführten Konditorei Steidl mit den feinen Hochzeitstorten, deren Geschmack Liebe bis in alle Ewigkeit verheißt.
Unser Isemarkt findet just in jener Straße statt, immer mittwochs und sonnabends. Alt und Jung sind dann auf den Beinen, vereint im Sehen und Gesehenwerden beim Kauf von frischem Fisch, Gemüse und Schinken vom Heideschlachter. Sicher, dieser Markt ist eine Nummer kleiner und nicht so schick wie der Eppendorfer Isemarkt, aber er vermittelt genau das, was Rahlstedt für mich und viele andere bedeutet: Heimat vor den Toren der City. Halb Dorf, halb Stadt ist Rahlstedt Ankerpunkt und Lebensraum für gestresste Metropolenpendler und unternehmungslustige Senioren, Spiel- und Lernort für Kinder (37 Kitas, 21 staatliche allgemeinbildende Schulen) und nicht zuletzt Tummelplatz für Hunde (drei Hundeauslaufflächen).
Hamburgs größter Stadtteil mit seinen 91.740 Einwohnern ist allerdings keine strahlende Schönheit. Es sei denn, man wohnt in vornehmen Villen wie an der Remstedtstraße oder in einem Hause, wie es die Sängerin Nena („99 Luftballons“) ihr Eigen nennt. Auch sie ist eine Rahlstedterin, der ich freilich noch nie begegnet bin.
Rahlstedt – ein sozialer Brennpunkt
Zum Stadtteilbild gehören im Übrigen auch Großlohe mit den Mehrfamilienhäusern, das als sozialer Brennpunkt gilt, Hohenhorst und natürlich das ehemalige Dorf Meiendorf mit dem Fußballplatz und der gerade frisch asphaltierten Meiendorfer Straße. Auf ihr kann der Autofahrer neuerdings sanft in Richtung Schlossstadt Ahrensburg im Kreis Stormarn gleiten, wenn das Auge mal mehr sehen möchte als die uniformen Funktionsbauten, die das Antlitz mancher Rahlstedter Straßenzeilen prägen.
Rahlstedt: Das sind die Fakten
Einwohner: 91.740
Davon unter 18: 16.092
Über 65: 20.371
Durchschnittseinkommen: 33.419 € (2013)
Fläche: 26,6 km²
Anzahl Kitas: 37
Anzahl Schulen: 13 Grundschulen; 3 Gymnasien; 5 Stadtteilschulen
Wohngebäude: 15.408
Wohnungen: 44.491
Niedergelassene Ärzte: 158
Straftaten im Jahr 2018: Erfasst: 5958; Aufgeklärt: 2473
Ich wohne mit meiner Familie seit 27 Jahren in Rahlstedt. Als wir damals eine Wohnung suchten, schaute ich vorher auf den Stadtplan: Sie sollte auf keinen Fall im Zentrum liegen, sondern im Osten, und zwar am Rande der Stadt. Mit viel Grün und der Nähe zur Ostsee.
Das bietet Rahlstedt auf jeden Fall: Wenn die Regionalbahn RB 81 mal wieder ersatzlos ausfällt oder Verspätung hat, kann sich der Berufspendler mit dem Gedanken trösten: Das Beste an Rahlstedt ist die Nähe zur Feldmark, sind die Naturschutzgebiete samt Schottischen Hochlandrindern sowie ein Autohaus für Luxuskarossen, wo Maserati, Ferrari und Aston Martin auf Diskretion setzende Käufer warten.
Klezmer im Gabriel-Haus
Jeder und jede kann in Rahlstedt alles finden, was das Leben leichter macht. Vorgestern klingelten am späten Abend Freunde von uns an der Haustür. Sie strahlten über beiden Ohren. Was war passiert? Sie hatte im Gabriel-Haus, ganz in der Nähe des Einkaufszentrums, ein Klezmer-Konzert gehört. Man muss also nicht bis zur Elbphilharmonie fahren, um Kunstgenuss erleben zu können.
Wer christlich gebunden ist wie noch 34 Prozent der Rahlstedter, findet in der evangelischen und der katholischen Kirchengemeinde vielfältige Angebote. Kürzlich wurde in der evangelischen Kirchengemeinde Alt-Rahlstedt ein neuer Pastor in sein Amt geführt, danach gab es ein gemütliches Beisammensein im Gemeindehaus der Martinskirche. Hier traf ich Regina Wysocki, die sich in der evangelischen Kirche engagiert. Was ihr an Rahlstedt gefalle?, fragte ich sie. „Es ist der dörfliche Charakter. Man trifft hier Gott und die Welt, obwohl es der bevölkerungsreichste Stadtteil Hamburgs ist“, sagte sie.
Sylvia Zarnack, die unter anderem im KulturWerk Rahlstedt mitarbeitet, stimmte ihr zu. Sie war mit ihrem Mann vor 30 Jahren aus der „lauten Stadt“ ins „grüne Rahlstedt“ gezogen. Bereut hat sie es nie. Es gebe alles hier: Einkaufsmöglichkeiten, Bahnanschluss in die City, viel Grün, Ärzte und Apotheken. Eine trägt den Namen des Rahlstedter Schriftstellers und Poeten Detlev von Liliencron (1844–1909). Er schrieb solche Sätze wie „Und weit liegt im Nebel, ach weglos weit, die Kinderzeit, die Kinderzeit.“
Der Freiherr fand seine letzte Ruhe auf dem Rahlstedter Friedhof, der sich in der Nähe der Alt-Rahlstedter Kirche befindet. Dieses Gotteshaus, in dem ich gelegentlich ehrenamtlich als Prediger tätig bin, stammt in seinen Grundmauern aus dem 12./13. Jahrhundert. Es ist ein architektonisches Juwel, das schönste und älteste Gebäude jenes Stadtteils, der 1927 durch den Zusammenschluss mehrerer Ortschaften entstand.
Rahlstedt erlebte einen Bauboom
Mit der Eröffnung des Bahnhofs im Jahr 1893 waren immer mehr Menschen in diese Region gezogen. Um die Jahrhundertwende erlebte deshalb das spätere Rahlstedt einen Bauboom. Noch heute trennt die Bahntrasse den Stadtteil; sie ist eine Lebensader im Nordosten Hamburgs und führt durch ein geologisch spektakuläres Gebiet: das Stellmoorer Tunneltal und am Naturschutzgebiet Höltigbaum vorbei.
Wo heute Burenziegen grasen und das naturpädagogische Haus der Wilden Weiden steht, herrschte vor 15.000 Jahren Eiszeit, mussten Rentierjäger der Kälte trotzen. Die Gletscher, sagte mir einmal ein Experte, reichten bis dorthin, wo heute das Rahlstedter Einkaufszentrum steht. Brrr!
Die offene Weidelandschaft mit den sanften Hügeln, wo Glockenblumen und Schafgarbe wachsen, ist mein Lieblingsort. Radfahrer, Skater und Spaziergänger sind hier unterwegs. Fußgänger flanieren auf ausgebauten Straßen, die einst von Panzern genutzt wurden. Ein Deserteursdenkmal am Gewerbegebiet erinnert daran, dass hier während der NS-Zeit mehr als 300 Soldaten wegen Fahnenflucht und Wehrkraftzersetzung hingerichtet wurden, sogar wenige Tage vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
Als an einem Herbstabend in diesem Jahr Nebelschwaden Wiesen und Weiden in einen Schleier hüllen, kommt ein Jogger auf mich zu und ruft: „Super Abendstimmung hier!“ Ja, antworte ich. Und denke: ein geschichtsträchtiger, ein wunderbarer Ort zum Leben.
Rahlstedt: Das sind die Highlights
1. Natur & Lernen
Wilde Weiden sind besondere Weidelandschaften. Sie gibt es auf dem Höltigbaum, und deshalb trägt ein Natur-Haus den Namen „Wilde Weiden“ (Eichberg 63). Es bietet Ausstellungen, Vorträge und Führungen an.
2. Gott & die Welt
Hochzeitspaare lieben die roman(t)ische Alt-Rahlstedter Kirche (Pfarrstraße). Verdeckt hinter Bäumen steht der Bau, dessen Feldsteinmauern auf das 12./13 Jahrhundert zurückgehen.
3. Genuss & Tradition
Der Gründer des Konditorei Steidl (Bahnhofstraße) stammte aus Böhmen und kam 1917 nach Rahlstedt. Bis heute ist die Konditorei die erste Adresse für Torten jeglicher Art und Desserts – und das nun in der vierten Generation.