Hamburg. Wo ist es in der Stadt am schönsten? 50 leidenschaftliche Plädoyers. Teil 23: Groß Borstel – gallischer Ort mit geheimem Wahrzeichen.

Das geheime Wahrzeichen von Groß Borstel ist gut versteckt. Im Herbstschen Park steht hinter einer mächtigen Stieleiche ein Altar aus Basaltstein. Seine Geschichte war schon spektakulär, bevor er nach Hamburg kam. Der Hamburger Steinmetz mit dem wohlklingenden Namen Henning Hammond-Norden fertigte die fünf Tonnen schwere Skulptur in der Eifel und stiftete sie vor mehr als 40 Jahren der Hansestadt.

Die jedoch wollte für den schwierigen Transport nicht aufkommen, und so wurde aus der Schenkung des Bildhauers ein Politikum zwischen Kritikern auf der einen und Befürwortern aus Stadtteil und Bezirk Nord auf der anderen Seite. Letztere setzten sich durch und schufen Groß Borstel dank ihrer Beharrlichkeit ein Denkmal, das bis heute keinen Namen trägt.

Groß Borstel ist wie ein Kurzurlaub von der Stadt

Wenn ich daran vorbeispaziere, atme ich ganz tief ein. Durch die alten Bäume weht ein lauer Wind, das lauteste Geräusch kommt vom Vogelgezwitscher, und sogar sommerliche Hitze lässt sich hier besser aushalten als anderswo.

Im Winter gleicht der angrenzende Schrödersweg einer Zeichnung aus einem Kinderbuch mit dezent geschmückten Häusern und brennenden Kerzen hinter den Fenstern. Es ist diese Atmosphäre, die sich mit Worten kaum beschreiben lässt, aber dem Gefühl von Behaglichkeit wohl am nächsten kommt. Groß Borstel ist wie ein Kurzurlaub von der Stadt.

Den Steinaltar im Herbstschen Park hat der Künstler Henning Hammond-Norden vor mehr als 40 Jahren nach Groß Borstel geholt.
Den Steinaltar im Herbstschen Park hat der Künstler Henning Hammond-Norden vor mehr als 40 Jahren nach Groß Borstel geholt. © Louisa Rascher | Louisa Rascher

Das ist bei der Anfahrt kaum zu erwarten. Wer Groß Borstel von Alsterdorf oder Lokstedt aus erreicht, fährt auf der Borsteler Chaussee zunächst am Finanzamt auf der linken und an schlichten Mehrfamilienhäusern auf der rechten Seite vorbei. Kein schöner Ortseingang, doch versprochen: Es wird besser. Das Eppendorfer Moor, das – anders als sein Name es suggeriert – zu Groß Borstel gehört, bedient sogar Superlative.

Groß Borstel: Das sind die Fakten

  • Einwohner: 8734
  • Davon unter 18: 1471
  • Über 65: 1809
  • Durchschnittseinkommen: 42.631 € (2013)
  • Fläche: 4,0 km²
  • Anzahl Kitas: 8
  • Anzahl Schulen: 1 Grundschule
  • Wohngebäude: 1768
  • Wohnungen: 4452
  • Niedergelassene Ärzte: 4
  • Straftaten im Jahr 2018: Erfasst: 623, Aufgeklärt: 258

Das mit 26 Hektar kleinste Hamburger Naturschutzgebiet umfasst das größte innerstädtische Moor Mitteleuropas, beheimatet vielfältige Biotope, zahlreiche Pflanzen-, Vogel- und unglaubliche 641 Schmetterlingsarten. Und es droht wegen des sinkenden Grundwasserspiegels auszutrocknen. Ein Grund mehr, in diesem Groß Borsteler Geheimtipp entlang der Alsterkrugchaussee bald einen Herbstspaziergang zu unternehmen.

Idyllisch und Zeugnis klimatischer Veränderungen zugleich:
das fast ausgetrocknete Eppendorfer Moor.
Idyllisch und Zeugnis klimatischer Veränderungen zugleich: das fast ausgetrocknete Eppendorfer Moor. © Thorsten Ahlf | Thorsten Ahlf

„Aber der Flughafen ist doch ganz in der Nähe, was für ein Lärm“, sagen ungläubige Kritiker meines Lieblingsstadtteils. „Die Anbindung an den Nahverkehr ist miserabel.“ Auch das stimmt wohl, entgegne ich seufzend. „Und die Bors­teler Chaussee ist eine überlastete Durchgangsstraße.“ Ist mir bekannt.

Doch all den negativen Einflüssen trotzt dieser kleine von Alsterlauf und Tarpenbek eingerahmte gallische Ort, der mich mit Wärme und Gelassenheit entzückt. Angestoßen durch die Insellage zwischen Flughafen und Autoschneisen regt sich in Groß Borstel auch Widerstand, sofern er denn nötig ist: etwa gegen eine engere Taktung des Flugbetriebs, die Schließung der beliebten Bücherhalle und die künftige Verkehrsführung des Neubaugebiets Tarpenbeker Ufer.

Großes Wohnungsbauvorhaben

950 Wohnungen entstehen derzeit auf dem stillgelegten Güterbahnhof Lokstedt im Süden des Stadtteils. 2500 Zugezogene sollen die Einwohnerzahl Groß Borstels schon bald rasant in die Höhe treiben. Sozialdezernentin Yvonne Nische lobte das Projekt jüngst als „Frischzellenkur“, alteingesessene Anwohner fürchten dagegen die Entstehung der „längsten Sackgasse Hamburgs“. So oder so: Das Tarpenbeker Ufer gehört zu den größten Wohnungsbauvorhaben der Stadt und wird Groß Borstel nachhaltig verändern.

Damit dies auf möglichst sanfte Weise geschieht, setzt sich neben den Quartiersmanagerinnen der Kommunal-Verein von 1889 in Groß Borstel mit bemerkenswerter Energie ein. Denn hier soll auch in Zukunft ein gesellschaftliches Miteinander gelebt werden, das andere Stadtteile sich zum Vorbild nehmen können. Ja, die soziale Ungleichheit ist vorhanden, sie ist sogar stark ausgeprägt, aber sie ist räumlich mehr gemischt als getrennt und bloß deshalb deutlicher erkennbar als woanders.

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In ein und derselben Straße leben Familien und Senioren in traumhaften Stadtvillen, Mehrfamilienhäusern mit Rotklinkerfassade oder gewöhnungsbedürftigen Plattenbauten. Was Wissenschaftler unter sozialräumlicher Segregation verstehen – also die geografische Trennung von Wohnbevölkerung nach Schichten, Alter und Milieu, die soziale Ungleichheit häufig noch verstärkt und Bildungschancen vorbestimmen kann – ist hier vergleichsweise gering ausgeprägt.

Groß Borstels Stadtteilfest ist ein Hamburger Geheimtipp

Groß Borstel hat sogar so etwas wie ein Bildungszentrum: Am Brödermannsweg ist die Carl-Götze-Schule auf einem hübschen Schulhof von Bäumen umgeben, und durch ihre langen Fensterfronten auf beiden Seiten scheint Licht in die freundlichen Klassenzimmer. Nebenan erweckt die Kita Brödermannsweg den Eindruck eines Waldkindergartens. Von der „Modernen Schule Hamburg“ geht es weiter zum Sportverein Groß Borstel von 1908, der die Einwohner mit Turnen, Yoga sowie Basketball- und Fußballtraining fit hält. Im nahen Zentrum an der Kreuzung Köppenstraße gibt es einen netten Bäcker, einen Griechen, der immer proppenvoll ist, und einen Edeka, in dem Kunden stets mit dem Vornamen begrüßt werden.

Und so ist der Veranstaltungshöhepunkt meines Jahres nicht etwa die Eröffnung der Weihnachtsmärkte oder der Beginn der Freibadsaison. Es ist das Straßenfest von Groß Borstel im September, auf das ich mich ungelogen den ganzen Sommer lang freue. Keine Buden mit Neonlicht, keine hippen Food-Trucks oder Partybühnen. Stattdessen gibt es Stockbrot am Lagerfeuer vor dem schönen Stavenhagenhaus, Kutschfahrten durchs Viertel und ein Kuchenbüfett in der Kirche St. Peter, dem der Nachschub nie ausgeht.

Im Herbstschen Park, der übrigens „Falke Park“ hieß, als Groß Borstel noch ein Dorf war, lädt die freiwillige Feuerwehr Kinder zum Klettern ein, und direkt neben dem Steinaltar steht eine Torwand. Der Anwohnerflohmarkt ist unendliche Quelle für Bücher, Antiquitäten und Kinderkleidung. Verhandelt wird hier eher zu wenig als zu viel, denn oft geht es eigentlich darum, mal wieder mit den Nachbarn zu klönen. An diesem einen Tag im Jahr erlaubt sich Groß Bors­tel das zu feiern, was es für mich ist: der beste Stadtteil Hamburgs.

Groß Borstel: Das sind die Highlights

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      Das restaurierte Herrenhaus an der Frustbergstraße entstand, als Groß Borstel noch zu dänischem Hoheitsgebiet gehörte. Mehr als 300 Jahre später wird es als kommunales Kulturzentrum, Schulungsort und romantische Location für standesamtliche Hochzeiten genutzt.

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        Eine riesige Baustelle ist wohl kein Highlight im engeren Sinne. Aber: Wer Groß Borstel kennenlernen möchte, sollte auch dem Neubaugebiet Tarpenbeker Ufer auf dem Gelände des stillgelegten Güterbahnhofs einen Besuch abstatten. Hier entstehen 950 Wohnungen.