Hamburg. Wo ist es in der Stadt am schönsten? 50 leidenschaftliche Plädoyers. Teil 13: Willkommen auf meiner Insel.

Seitdem ich auf Finkenwerder wohne, habe ich den schönsten Arbeitsweg der Welt: Ich fahre mit der Fähre über die Elbe, einmal direkt durch den Hafen. Wenn die Sonne scheint, dann hat man sie direkt im Gesicht, fährt an den Terminals vorbei, der Elbphilharmonie entgegen. Und abends dann wieder zurück. Wenn ich mich entscheiden müsste für eine Richtung, dann wüsste ich die Antwort recht schnell: Es ist der Weg nach Hause, zurück auf meine Insel. An den Landungsbrücken raus und auf die Fähre und alles zurücklassen, was an diesem Tag war. Auf der anderen Seite des Flusses.

Zwei Jahre ist unser Umzug nach Finkenwerder bald her. Als ich 2006 nach Hamburg kam, wohnte ich erst in Altona-Altstadt, dann in Ottensen, schon da zog es mich immer Richtung Hafen. Da saß ich dann, zusammen mit all den Sehnsüchtigen dieser Stadt, früh am Morgen oder mitten in der Nacht. Um auf die Elbe zu schauen, hinüber zu den Terminals, zu diesem Teil der Stadt, der nie schläft, der immer arbeitet. Der immer leuchtet.

Finkenwerder ist für mich noch immer ein Leuchten, ich werde nicht müde, diesen Stadtteil zu entdecken. Den ich früher nur vom Durchfahren kannte und nicht weiter beachtete, nur die Straßennamen fand ich schön. Tweeflunken, Dwarspriel, Ploot. Hätte Erich Kästner sich nicht schöner ausdenken können.

Finkenwerder: Das sind die Fakten

  • Einwohner: 11.808
  • Davon unter 18: 1898
  • Über 65: 2304
  • Durchschnittseinkommen: 31.649 € (2013)
  • Fläche: 19,3 km²
  • Anzahl Kitas: 5
  • Anzahl Schulen: 2 Grundschulen; 1 Gymnasium; 1 Stadtteilschule
  • Wohngebäude: 2300
  • Wohnungen: 5781
  • Niedergelassene Ärzte: 9
  • Straftaten im Jahr 2018: Erfasst: 585; Aufgeklärt: 237

Neßdeich 6, das ist die Ortsausfahrt von Finkenwerder, kurz vor den Toren von Airbus. Eine unscheinbare weiße Kate steht hier, mit Sprossenfenstern und grünem Zaun, „Heinrich Kinau – Seefischer“ steht auf einem Schild an der Tür. Es ist das Elternhaus von Johann Kinau, besser bekannt unter dem Namen Gorch Fock. Das Gorch-Fock-Haus ist heute ein kleines Museum, und wer das Glück hat, von Annegrete Feller (83) herumgeführt zu werden, kann stundenlang abtauchen – in das Leben auf Finkenwerder, Anfang des 20. Jahrhunderts. Als die Fischer der Insel auf Jollen an den Küsten entlangsegelten und sich ihre Netze wie von Geisterhand füllten. Störe und Lachse landeten darin und vielleicht sogar der Traum von einem besseren Leben.

Fischer galten als unregierbar

Die Fischer im Norden der Insel waren arm, aber stolz. So stolz, dass sie als unregierbar galten. Und regelmäßig mit den Bauern aus dem Süden aneinandergerieten. Tatsächlich war Finkenwerder jahrhundertelang geteilt – in eine Lüneburger und eine Hamburger Seite. Erst ein Gesetz im Dritten Reich hob die Teilung auf. Was wahrscheinlich die wenigsten begrüßten.

Auf dem Obsthof von Jan und Gitta Stehr hat die Ernte begonnen. Im Süden von Finkenwerder duftet es derzeit überall nach Äpfeln.
Auf dem Obsthof von Jan und Gitta Stehr hat die Ernte begonnen. Im Süden von Finkenwerder duftet es derzeit überall nach Äpfeln. © Iris Mydlach

„Unter den Lüneburgern und Hamburgern besteht bereits seit langer Zeit eine gewisse Antipathie, die sich unter der beiderseitigen Jugend durch öftere Faustkämpfe Luft macht“, berichtete Pastor Johann Friedrich Justus Müller 1850 an die Hamburger auf dem Festland. Vor meinem inneren Auge sehe ich die Senatoren in der Bürgerschaft mit den Augen rollen. „Finkenwerder? Wollten wir diese Insel nicht schon lange verkaufen? Was haben die Fischer dort je für uns getan?“

Finkenwerder ist voller Geschichten, deshalb liebe ich diesen Ort. Und voller Gegensätze. Zehn Minuten sind es mit dem Rad von den Obstwiesen bis zum Hafen, für mich ist das noch immer unbegreiflich, wie eng diese zwei Welten beieinanderliegen. Für die Menschen hier war es nie anders. Gezeiten und Wandel sind sie gewohnt. Nur an die Flut der Airbus-Pendler mag sich hier niemand gewöhnen. Wie auch.

Wer kann, der fährt auf Finkenwerder mit dem Rad, auch zum Einkaufen. In der Nähe des Fähranlegers liegt das kleine Zentrum, mit Supermärkten, einer Filiale des Finkenwerder Bäckers Körner und der Ulex-Apotheke. Shopping zwischen Werften und Kuttern, mehr Hamburg geht einfach nicht. Definitiv ein Geheimtipp: das Backcafé in der Edeka-Filiale, die kleine Terrasse davor. Von der aus hat man einen wundervollen Blick auf den Museumshafen, in dem auch die MS „Altenwerder“ liegt – ein liebevoll restauriertes Fährschiff und Heimat des wundervollsten Adventsbasars der Stadt.

Fest in der Hand der Frauen

Vor allem Selbstgemachtes findet sich dort, genäht, gehäkelt oder gemalt von den Künstlerinnen des Stadtteils. Was kein Zufall ist – Finkenwerder war schon immer fest in der Hand der Frauen. Wer mehr darüber erfahren möchte, schaut am besten in der „Bücherinsel“ vorbei. Seit bald 34 Jahren führen Ute Jasper und Karin Gamradt die Buchhandlung gemeinsam: als Geschäftspartner – und Freundinnen, wie Ute Jasper betont.

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    Beide sind auf Finkenwerder aufgewachsen, Karin Gamradts Schwiegervater fuhr zur See, genau wie Ute Jaspers Ehemann und Vater. Mal für drei Monate, mal mehr als ein Jahr. Für die Frauen auf Finkenwerder Normalität. „Wenn die Männer auf See waren, haben die Frauen eben nicht nur ihre Häuser selber instand gesetzt. Die haben auch alle Entscheidungen getroffen und das Geld verwaltet“, sagt Gamradt. Früher führten die Witwen der Fischer kleine Kolonialwarenläden in ihren Häusern, nähten und wuschen Wäsche für andere.

    Karin Gamradt (l.) und Ute Jasper führen die Bücherinsel.
    Karin Gamradt (l.) und Ute Jasper führen die Bücherinsel. © Iris Mydlach | Iris Mydlach

    Wenn die beiden Frauen aus ihrer Kindheit erzählen, dann ist auch das wie eine kleine Zeitreise – in eine Welt ohne Internet und Smartphones. „Wer Kontakt zu seinem Mann aufnehmen wollte, musste ein Gespräch anmelden bei der Küstenfunkstelle ,Norddeich Radio‘. Die vermittelten dann. Das klappte meist, manchmal aber auch nicht, wenn das Schiff zum Beispiel in einem Funkloch war.“ Ute Jasper lächelt. „Heute im Grunde alles nicht mehr vorstellbar.“

    Die Welt ist eine andere geworden. Die Bücherinsel ist geblieben. Vielleicht ja auch, weil die Menschen auf Finkenwerder so gerne lesen. Seit fast zwei Jahren beobachte ich sie dabei. Wenn wir morgens zusammen auf der Fähre sitzen und tatsächlich kaum jemand auf sein Handy schaut. Auch ich mache es jetzt so. Ich warte mit dem Nachrichtenfluss. Bis ich an Land gehe.

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      Der Dichter Johann Kinau, besser bekannt unter dem Namen Gorch Fock, ist auf Finkenwerder geboren. Wer Kinaus Elternhaus am Neßdeich besucht, taucht ein in die Welt der Fischer im 19. und 20. Jahrhundert.

      Obst frisch vom Bauern
      Wann, wenn nicht jetzt: Auf Finkenwerder hat die Apfelernte begonnen. Jan und Gitta Stehr führen den Hof am Finkenwerder Landscheideweg bereits in der achten Generation. Zum Reinbeißen!

      Schiffe schauen
      Am Nordufer der Rüschhalbinsel hat man einen wundervollen Blick auf die Elbe – und kann die vorüberfahrenden Schiffe fast mit der Hand berühren. Direkt gegenüber liegt Teufelsbrück.