Lohbrügge. Der Lohbrügger Seenotretter hat einen Bord-Bericht über die vergangenen Tage auf dem Mittelmeer verfasst. Was er erlebt hat.
Erneut drei Wochen lang ist der Lohbrügger Ingo Werth als Skipper auf der „Nadir“ unterwegs, um Geflüchtete aus dem Mittelmeer zu retten. Und wieder schickt er uns sein „Bord-Tagebuch“– wobei „in Eile abgeschickt, am Horizont taucht gerade ein Boot auf“, heißt es. Hier sein Bericht im Namen des Vereins Resqship:
Die Crew ist vollständig: Da sind Notfallsanitäterin Selene, unsere Bordärztin Rachel, Techniker Daniel und Bo, die für die Kommunikation auf dem Schnellboot zuständig ist. Dazu kommen noch Pietro, der so wichtig gewordene italienische Muttersprachler für die Verhandlungen mit den Behörden, sowie Benjamin, unser ITler und Co-Skipper.
Lohbrügger Skipper: Ein Bord-Bericht aus dem Mittelmeer
Fast drei Wochen auf See liegen vor uns: Über Lampedusa geht es ins Einsatzgebiet, nachdem wir vorher viele Stunden mit intensivem Fahr- und Rettungstraining verbracht haben. Die ersten Tage sind besonders anstrengend für diejenigen, die zu Seekrankheit neigen – und davon hatten wir tatsächlich ein paar. . .
In den kommenden Tagen hatte das Wetter uns und ebenso die Abfahrten der Migranten aus Libyen und Tunesien voll im Griff. Wir sind erleichtert, dass keine Boote starten, gerade die „in Mode gekommenen“ Eisenboote hätten keine Chance, sie gehen unter wie Steine, wenn eine Welle einsteigt. Aber seit dem Wochenende geht es Schlag auf Schlag: Immer wieder werden wir von den Suchflugzeugen, von Alarmphone, von Fischern und der italienischen Küstenwache mit Koordinaten von Booten in Seenot versorgt und gebeten, dorthinzufahren um den Menschen beizustehen, bis etwa die Küstenwache sie abholen kann.
72 Stunden durch die mondlose Nacht getrieben
Viele Boote finden wir inzwischen einfach mit unseren Ferngläsern auf offener See. Wir decken die Route zwischen Tunesien und Italien ab. Menschen, die von Sfax aus starten, kommen nach zwölf bis 14 Stunden aus den Hoheitsgewässern raus. Sehr häufig ist dann auch ihr Treibstoff aufgebraucht oder der Motor streikt. Jedes Mal begegnen wir verzweifelten Menschen, manche haben sich schon aufgegeben, nachdem sie 72 Stunden durch heiße Tage und völlig dunkle, mondlose Nächte getrieben sind.
Am Mittwoch kommt ein ganz normaler Notruf von einem Fischer. Er berichtet von einem Eisenboot, das an der 24-Seemeilengrenze vor Tunesien seit Längerem treibt: kaum Rettungsausrüstung, einige Babys, auch etwas ältere Kinder, Männer, Frauen, einige Schwangere. Drei Stunden sind wir unterwegs, da kommt ein Funkruf eines Hubschraubers der Grenzschutzagentur Frontex mit der Nachfrage nach der genauen Position des Bootes. Sie fliegen schon einmal hin, berichten kurz darauf, dass das Boot völlig überladen sei und Wasser eintritt: akute Gefahr des Sinkens.
Erhalten wir nicht die Genehmigung oder Aufforderung der Behörden, bevor wir Menschen an Bord nehmen, haben wir die größten Probleme, sie an einem sicheren Ort an Land zu bringen. Zum Glück bestätigen sowohl der Hubschrauber als auch die Küstenwache Lampedusa. Ich bin froh, auch wenn das Abbergen aus den extrem gefährdeten Eisenbooten immer ein hohes Risiko bedeutet. Aber wenn wir konzentriert vorgehen, wird das klappen, so wie sonst auch, selbst bei dem gefährlichen Wellengang.
Befehl aus Rom macht die Crew auf der „Nadir“ traurig
Bald haben wir 37 Menschen an Bord. Schnell taucht am Horizont das Schnellboot CP 285 auf, sie kommen längsseits, es könnte losgehen, aber irgendwas „klemmt“. Sie haben aus Rom den Befehl bekommen, die Menschen nicht zu übernehmen. Es ist den Seeleuten merklich unangenehm, sie winden sich hin und her, müssen sich schließlich nach den Anweisungen richten und fahren unverrichteter Dinge ab.
Ein Tiefschlag, aber jetzt sind wir dran. Die Männer sitzen an Deck, die Kinder, Frauen und alle Verletzten sind unter Deck geschützt. Die Frauen, die zuvor in der Mitte des Bootes in einer Mischung aus Seewasser, Urin, Kot, Erbrochenem und Benzin gesessen haben, werden geduscht und bekommen trockene Wäsche. Tee wird gekocht. Wir haben etwa acht Stunden Fahrt durch die Nacht vor uns, wir können nur mit verringerter Geschwindigkeit fahren.
Menschen aus Südsudan machen sich Hoffnung auf Asylverfahren
Morgens um 2.15 Uhr erreichen wir Lampedusa, dürfen einlaufen und die Menschen in Sicherheit bringen. Wir alle sind glücklich. Ich habe mich auf der Fahrt mit einem jungen Mann unterhalten. Er ist mit seiner Freundin aus dem Südsudan aufgebrochen, ein Land in dem seit Monaten ein verheerender, brutaler Kampf zweier militärischer Machthaber tobt, der viele zivile Opfer in der Bevölkerung fordert.
Er hat sein Studium abgebrochen, lief mit seiner Freundin drei Wochen lang von morgens bis in die Nacht hinein, bis sie Tunesien erreichten. Ein Freund verschaffte ihnen einen Platz auf dem Boot, nun sind sie erst einmal in Sicherheit – wenn ihr Asylverfahren erfolgreich ist und Europa ihnen den Schutz gewähren wird, den die beiden verdient haben, um zu überleben.
Ein kleines Kind, eine Frau und ein Mann sind über Bord gegangen
Viel Bürokratie ist erforderlich, bis wir wieder auslaufen dürfen, meine Crew erledigt das, als hätte sie nie etwas anderes getan. Ich bin zu einem Treffen von EU-Parlamentarierinnen und -Parlamentariern eingeladen, die aus Brüssel angereist sind, um sich vor Ort ein Bild zu machen. Es ist schlimm, die italienischen Postfaschisten reden und schreien zu hören, darunter die Enkelin des Diktators Mussolini. Es tut gut, die demokratischen Kräfte in ihrem Bemühen um die Menschen in Not zu erleben.
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Noch am selben Abend laufen wir wieder aus, setzen die Segel Richtung Westen, um Menschen in größter Not zur Seite zu stehen. Die See ist total ruhig. Es gibt kaum eine Pause, der letzte Einsatz hat uns 28 Stunden lang wach gehalten. Die Küstenwache bat uns, bei der Suche nach drei Vermissten aus einem Bootsunglück zu helfen: Ein kleines Kind, eine Frau und ein Mann sind über Bord gegangen, 40 Personen konnten geborgen werden.
Die Suche war erfolglos, und ich habe gebettelt, das Suchgebiet verlassen zu dürfen, denn die nächsten Fälle waren nicht weit entfernt: 295 Menschen aus sieben Booten wurden von unseren Freunden der spanischen „Aita Mari“ entdeckt. Gemeinsam haben wir sie durch die Nacht versorgt, bis der Fall um 4 Uhr morgens abgeschlossen war. Nach vier weiteren Einsätzen am gestrigen Tag habe ich beschlossen, über Nacht nichts weiter als der Crew Schlaf zu „verordnen“, denn genau in diesem Moment geht es weiter, das nächste Boot kommt auf uns zu.