Bergedorf. Ingo Werth berichtet von Bord des Hilfsschiffs „Nadir“: Boot mit Flüchtlingen aus Tunesien gekentert. Rund 20 Menschen ertrinken.

Er ist wieder auf dem Mittelmeer, wie schon so oft, der Lohbrügger Skipper Ingo Werth. An Bord des 19 Meter langen Motorseglers „Nadir“ leitet der 63-Jährige einen dreiwöchigen Einsatz für Menschen in Not. Die Mission der Crew der privaten Organisation ResQship: schiffbrüchige Flüchtlinge zu retten. Unserer Redaktion schildert Werth seine Erlebnisse und ganz persönlichen Eindrücke.

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Unser Einsatz beginnt leider sehr traurig: Schon in den ersten 48 Stunden leisteten wir sieben Booten in Seenot mit über 300 Insassen Hilfe, wobei eine Person nur tot geborgen werden konnte. Es war ein hartes Stück Arbeit.

Es folgt eine Tragödie der nächsten: In der Nacht zu Ostersonntag fragte uns die Lampedusa-Küstenwache, ob wir zu einem Unglück fahren könnten, ein Boot voller Migranten aus Tunesien sei gekentert, alle Menschen im Wasser. Wir fuhren sofort los, es war 3.30 Uhr, fuhren eine Stunde so schnell wie möglich und fanden dann in dunkler Nacht ein Feld von weit verstreuten, im Wasser treibenden und um Hilfe rufenden Menschen. 22 konnten wir lebend retten, zwei nur tot bergen, etwa 20 sind ertrunken.

Völlig überfüllte Boote erfordern einen nächtlichen Einsatz.
Völlig überfüllte Boote erfordern einen nächtlichen Einsatz. © BGZ | werth

„Nach mehreren Stunden im Wasser zeigten alle Menschen deutliche Todesangst. Die hinzukommende Unterkühlung führte zu Desorientiertheit mit starker körperlicher Schwäche und mangelnder Kreislaufstabilität“, sagt unsere Bordärztin Katja Friedel aus Hamburg. Eine schwangere Frau, die sich seit Stunden in kritischem Zustand befindet, überlebte den Kampf gegen das Wasser nur knapp. Am Nachmittag erreichte das Segelschiff mit den Geretteten die Insel Lampedusa, wo alle von Bord gehen konnten.

Notfälle im Stundentakt

Im Stundentakt werden derweil neue Seenotfälle gemeldet. Dabei ist die „Nadir“ derzeit das einzige Schiff einer zivilen Organisation, das aktuell im zentralen Mittelmeer im Einsatz ist. Auf dem 19 Meter langen Zweimaster sind auch Notfallsanitäter Thorsten und Techniker Peter an Bord. Das erste Mal zählt auch Jasmine zu den Crewmitgliedern: In ihrer Muttersprache Italienisch kann sie auf Augenhöhe mit der vollkommen überlasteten Küstenwache sprechen, zudem mit italienischen Behörden verhandeln, wenn sie uns beim humanitären Einsatz erhebliche Schwierigkeiten machen – so wie auf vielen anderen Schiffen.

Die rechtsextreme Regierungschefin hatte vor ihrer Wahl „versprochen“, dass Migranten erhebliche Hürden aufgebaut werden sollen, damit sie Europa und speziell Italien nicht mehr erreichen können. Dass die Zahl der Zuwanderer sich im Vergleich zum Vorjahr vervierfacht haben, hat natürlich Italien nicht zu verantworten, sondern es ist eine Folge des russischen Angriffskrieges, der Klimaveränderung und der weltweiten Inflation.

Die Crew der „Nadir“ Rettungswesten.
Die Crew der „Nadir“ Rettungswesten. © BGZ | werth

Alle haben sich Urlaub genommen: der Psychologe Martin aus Nordrhein-Westfalen und der Strafverteidiger Peter Jens aus Freiburg wollen Menschen in Not zur Seite zu stehen. Verpflegung für sieben Personen für knapp drei Wochen auf See wurde eingekauft, auch Proviant für aufzunehmende Schiffbrüchige. Dazu haben wir vor dem Start eine bessere Kraneinrichtung für unser neues Beiboot konstruiert – und trainiert: Das neue Beiboot muss sicher gefahren werden, damit ein überfülltes Flüchtlingsboot angefahren werden kann, damit die Menschen beruhigt und versorgt werden können. Wir führen 165 Rettungswesten für Erwachsene und 25 für Kinder mit, sieben Rettungsinseln für etwa 70 Menschen, dazu zwei Boote und einen neun Meter langen Rettungsschlauch.

Skipper Ingo Werth will die Stufen an Land hochklettern, mit den italienischen Behörden ins Gespräch kommen.
Skipper Ingo Werth will die Stufen an Land hochklettern, mit den italienischen Behörden ins Gespräch kommen. © BGZ | werth

Wir haben im vergangenen Jahr sehr gut mit der italienischen Küstenwache aus Lampedusa zusammengearbeitet, die machen einen tollen 24/7-Job. Aber es bleibt für alle wahnsinnig schwer, die Menschen irgendwo in einen sicheren Hafen bringen zu dürfen. Das Gesetz schreibt vor, dass es der nächste sichere Hafen sein muss – aber da hat Italien mit der neuen Regierung seit Februar seine eigenen Gesetze.

Jetzt muss erst einmal alles in Kopf und Seele verstaut werden. Ist wirklich schlimm, eine weinenden Frau zu sehen, deren Mann tot an Deck liegt. Nun ist die Nacht ist angebrochen, und wir sind alle sehr gespannt, was wir noch erleben werden. Und bleiben fest davon überzeugt, dass es richtig war, 2017 den Verein ResQship in Bergedorf zu gründen: Wir beobachten, dokumentieren und klären auf. Damit nicht noch mehr Flüchtlinge sterben müssen!