Bergedorf. SPD-Empfang Im April 1919 ziehen Politikerinnen in die Bürgervertretung – Wichtigste: Clementine Dernehl
. Am morgigen Sonntag feiern Bergedorfs SPD-Frauen einen Meilenstein in der Geschichte der Demokratie: Seit 100 Jahren (erst) dürfen Frauen in Deutschland wählen. Doch was heute Anlass für große Reden und Feste ist, darunter auch für den Empfang des Bergedorfer Arbeitskreises Sozialdemokratischer Frauen (ASF) mit Sozialsenatorin Dr. Melanie Leonhard ab 15.30 Uhr im Kulturhaus, Serrahnstraße 1, scheint 1919 auf lokaler Ebene nicht gerade als historisch eingestuft worden zu sein.
„Es ist unglaublich, aber von den damaligen Bergedorfer Protagonistinnen gibt es weder Fotos noch Dokumente und selbst Hinweise, wo die Grabsteine stehen, sucht man vergeblich“, bedauert Museums-Archivarin Dr. Christel Oldenburg (SPD). So bleibt einzig der nüchterne Tagesbericht unserer Zeitung vom 14. April 1919, dem Datum der ersten Wahl zur Bergedorfer Bürgervertretung nach dem Ersten Weltkrieg – und damit der ersten, an der auch alle Frauen ab 20 Jahren teilnehmen konnten.
Das Ergebnis fiel deutlich für die SPD aus: Bergedorfs Sozialdemokraten bekamen 47,5 Prozent der abgegebenen Stimmen, 23,2 Prozent gingen an die vereinigte Bürgerliste, 16 Prozent an die liberale DDP und 8,2 Prozent an die KPD. Tatsächlich zogen in die 25 Mitglieder kleine Bürgervertretung der damals noch eigenständigen Stadt Bergedorf gleich vier Frauen ein, die unsere Zeitung mit diesen mageren Worten beschrieb: „Lehrerin Bracker, Ehefrau E. Schmidt und Ehefrau Storbeck für die Sozialdemokratische Partei sowie Frau Dernehl für die Deutsche Demokratische Partei (DDP).“
Wichtigste Politikerin dieses weiblichen Quartetts der ersten Stunde scheint Clementine Dernehl gewesen zu sein. Nicht etwa die SPD, die den Kampf für das Frauenwahlrecht als einzige Partei und schon seit 1891 im Programm hatte, stellte Bergedorfs bedeutendste Politikerin, sondern die DDP: Clementine Dernehl hatte bereits 1910 die Bergedorfer Ortsgruppe des acht Jahre zuvor in Hamburg gegründeten Vereins für Frauenstimmrecht gegründet. Sie arbeitete als Volksschullehrerin in der Hamburger Neustadt und war schon 56 Jahre alt, als sie 1919 in die Bergedorfer Bürgervertretung einzog.
Bis zu ihrem Tod 1937 war Dernehls Haus an der Holtenklinker Straße Treffpunkt der politisch engagierten Frauen Bergedorfs. Sie machte sich einen Namen als Kämpferin für die Rechte der Armen, setzte sich für bessere Betreuung von Kindern ein und gilt als Wegbereiterin der Ergänzung des Bille-Bades um eine öffentliche Warmbadeanstalt. „Alle Frauen, die die Gelegenheit hatten, mit ihr zu arbeiten, die Rat in kritischen, sorgenvollen Stunden bekamen, werden sie nie vergessen“, heißt es in einem Nachruf im Lichtwarkheft von 1949, dem einzigen Schriftstück, das es über diese Politikerin der ersten Stunde gibt.
Bis in die 1930er-Jahre hatte Clementine Dernehl auch ein Mandat als Abgeordnete in der Hamburger Bürgerschaft. Trotz ihrer persönlichen Beliebtheit blieb die DDP in Bergedorf eine kleine Partei. Die Wahlergebnisse schrumpften bis 1930 auf sechs Prozent, sodass Dernehl am Ende wohl allein für ihre Partei in der Stadtvertretung saß.
Beim SPD-Empfang wird Clementine Dernehl ein Denkmal gesetzt: Auf einer Wandzeitung wird im Kulturhaus SerrahnEins an sie und andere wichtige Frauen im Kampf um das Wahlrecht erinnert. Zudem sind Besucher aufgefordert, Punkte dafür zu verteilen, was in Sachen Gleichberechtigung heute erreicht ist – und was noch fehlt.
Ab 16.30 Uhr will Senatorin und SPD-Landesvorsitzende Melanie Leonhard ihre Ansprache halten, bevor der Empfang schließlich bei Sekt, Kuchen und Herzhaftem abends ausklingt. Für die Musik sorgt die dreiköpfige Frauenband „Jazz Invitation“.
„Wir Frauen wollen bei dieser Feier nicht unter uns bleiben. Männer sind ausdrücklich eingeladen“, betont Britta Schlage, als ASF-Chefin Vorsitzende der 250 weiblichen Mitglieder in Bergedorfs SPD.
Was modern klingt, ist auch historisch zu begründen. Denn das Jahr 1919 markiert nicht nur die Verwirklichung des Wahlrechts für Frauen. Es ist auch das Jahr, in dem viele Männer das erste Mal wählen dürfen: Bis zum Ersten Weltkrieg herrschte in Bergedorf wie in vielen Teilen Deutschlands ein vom Einkommen abhängiges Wahlrecht. „Und das war hier sogar noch extremer als in Hamburg“, sagt Christel Oldenburg. „Im Jahr 1904 wurde die Grenze, ab der Männer an der Wahl teilnehmen konnten, von 1000 auf 1400 Mark Einkommen im Jahr heraufgesetzt. So durften von 12.000 Bergedorfer Einwohnern nur 984 wählen.“