Hamburg/Geesthacht. Bergedorfer Arbeitsgemeinschaft schreibt Brandbrief an Bürgerschaft. Nur eine nervenärztliche Praxis im Bezirk für 130.000 Einwohner.
Die Situation sei besorgniserregend: Immer mehr Bergedorfer brauchen eine psychiatrische Behandlung. Doch es fehlen Fachärzte. „Es gibt eine Unterversorgung psychisch erkrankter Menschen im Bezirk Bergedorf“, mahnt die Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft (PSAG) Bergedorf, die sich seit 35 Jahren für eine verbesserte Versorgung psychisch Kranker einsetzt.
Sie spricht inzwischen von einer „dramatischen Fehlentwicklung bei der ambulant-psychiatrischen Versorgung“. Ein entsprechender Brandbrief ging jetzt an die Hamburgische Bürgerschaft, außerdem an Bergedorfs Bezirksversammlung und an die Kassenärztliche Vereinigung (KV).
Nur wenige Psychiater, aber steigender Bedarf an Fachärzten
„Wir appellieren dringend, den eklatanten Versorgungsmangel schnellstmöglich zu beheben“, sagt PSAG-Sprecher Jan Christian Wendt-Ahlenstorf vom „Begleiter“ am Harders Kamp. Mit ihm beobachten auch das DRK und das Bergedorfer Gesundheitsamt, dass es seit Jahren immer weniger niedergelassene Fachärzte für Psychiatrie im Bezirk gibt: Praxen, die aus Altersgründen geschlossen wurden, finden keine Nachfolge.
Ende 2020 etwa hat Dr. Gisela Eisenhaber aus Altersgründen ihre psychiatrisch-neurologische Praxis am Reetwerder aufgegeben. Das neu eröffnete Neurozentrum am Johann-Adolf-Hasse-Platz 2 sei kein Ersatz, verfüge ausschließlich über neurologische Kompetenz.
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Nur eine einzige nervenärztliche Praxis am Bergedorfer Markt
Und so verbleibt aktuell nur eine einzige nervenärztliche Praxis mit drei Psychiatern am Bergedorfer Markt zur ambulanten Versorgung psychisch Erkrankter. „Dies ist für den dynamisch wachsenden Bezirk mit seinen mittlerweile über 130.000 Einwohnern offensichtlich indiskutabel wenig“, kritisiert die Arbeitsgemeinschaft.
PSAG-Sprecher Wendt-Ahlenstorf kann sich auch kaum damit trösten, dass Patienten am Glindersweg behandelt werden, in der Psychiatrischen Institutsambulanz (PIA) am Agaplesion Bethesda Krankenhaus.
Zur Überbrückung von Wartezeiten gibt’s Psychopharmaka vom Hausarzt
Dort werden Patienten zwar auch ambulant betreut, dabei handele es sich aber um ausgesprochen komplexe und (zeit-)intensive Behandlungsbedarfe: „Da geht es nicht um die Grundversorgung psychisch kranker Menschen, die etwa Depressionen und Angststörungen haben, eine Psychose oder eine bipolare Störung.“
Zur Überbrückung langer Wartezeiten werden viele Patienten zwar von Bergedorfer Hausärzten mit Psychopharmaka versorgt. Das sei „selbstverständlich zu ehren, doch aus fachlicher Sicht ist diese ,Lösung’ auf Dauer inakzeptabel“, so die PSAG.
Niederlassungsfreiheit in Hamburg wird zum Bergedorfer Problem
Viele Menschen mit psychiatrischem Behandlungsbedarf bleiben mithin fachärztlich unversorgt – das ist nicht zuletzt ein strukturelles Problem, denn ganz Hamburg gilt bei der KV als ein Versorgungsgebiet mit Niederlassungsfreiheit, bemängelt Christian Wendt-Ahlenstorf.
„So scheint Bergedorf eher ein unattraktiver Stadtteil zu sein, denn die meisten Psychiater siedeln sich rund um die Alster an, wo es offenbar mehr Privatversicherte und Selbstzahler gibt.“ Noch vor fünf Jahren hatte es Proteste in Lohbrügge gegeben, als der Asklepios-Konzern das Medizinische Versorgungszentrum mitsamt der angestellten psychiatrischen Fachärzte nach Harburg abzog.
Patienten weichen in andere Bezirke oder ins Umland aus
Der aktuell verschärfte Versorgungsmangel bedeutet, dass Patienten in andere Bezirke oder ins Umland ausweichen, dort jedoch von Aufnahmestopps und langen Wartezeiten erfahren.
Anders sieht die Situation im Kreis Herzogtum Lauenburg aus. Für die insgesamt 198.019 Einwohner stehen im Planungsbereich der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein (KVSH) acht Nervenärzte, unter die auch Psychiater fallen, sowie 31 niedergelassene Psychotherapeuten zur Verfügung.
Nachbarkreis erfüllt hohe Quoten an Versorgungsgrad
Damit bestehe bei den Nervenärzten ein Versorgungsgrad von 115 Prozent, bei den Psychotherapeuten ein Versorgungsgrad von 107 Prozent. „Von einer Unterversorgung geht der Gesetzgeber ab einem Versorgungsgrad kleiner als 80 Prozent aus“, erläutert Nikolaus Schmidt, Sprecher der KVSH.
Der Bedarf an psychosozialer Betreuung ist jedoch groß. Der aktuelle DAK-Gesundheitsreport meldet aus dem ersten Halbjahr 2020 einen starken Anstieg der Fehltage aufgrund von psychischem Übel. „An erster Stelle stehen psychische Leiden wie Depressionen. Sie stiegen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 21 Prozent und sind für mehr als jeden fünften Fehltag (22,9 Prozent) von Arbeitnehmern verantwortlich“, heißt es.