Hamburg. Dr. Jürgen Bräuning hat viele Senioren behandelt und auch Prominente. Was jetzt passierte, ist ein Paradebeispiel für absurde Gesundheitspolitik.
Als Dr. Jürgen Bräuning auf die Straße fällt, hat er noch Glück. Passanten helfen ihm auf und rufen einen Krankenwagen. Er kommt sofort ins Asklepios Klinikum St. Georg. Die Ärzte dort können ihm vergleichsweise schnell helfen. Der Schlag hatte Dr. Bräuning beim Einkaufen mit dem Fahrrad getroffen. Buchstäblich. Und der Schlaganfall im Frühjahr dieses Jahres hat nicht nur für diesen Patienten weitreichende Folgen.
Jürgen Bräuning ist selbst Arzt. Er hat seine Praxis für Augenheilkunde an der Rathausstraße in der Hamburger Innenstadt. Seit dem Schlaganfall kann er nicht mehr arbeiten. Über 1400 Patienten aus Hamburg und dem Umland müssen nun anderweitig versorgt werden. Dr. Bräuning hat Hausbesuche gemacht, er hat nicht nach gesetzlich oder privat geschaut, sondern nach den Erkrankungen „von Omi und Opi“, wie seine Schwester dem Abendblatt erzählt. Ein Arzt, „der für die Menschen da ist, nicht für das Gesundheitssystem“.
Dieses System bereitet Bräuning derzeit Probleme, wie er dem Abendblatt sagte. Er ist 77 Jahre alt und will jetzt auch wegen seiner Erkrankung endlich einen Nachfolger in seine Praxis setzen. Seit Monaten zahlt er die Mitarbeiterinnen und die Miete, ohne dass es Einnahmen gibt.
Bräunings Nachfolgekandidat "keine privilegierte Person"
Den willigen Nachfolgekandidaten, einen Arzt aus Hannover, hat Bräuning selbst der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg (KV) vorgeschlagen. Tageweise hält dieser eine Notsprechstunde in der Praxis ab, die 1976 eingerichtet wurde. Beide Ärzte sind verwundert, dass sich die Nachfolge so lange hinzieht. Doch die Krankenkassen und die KV müssen in einem aufwendigen Verfahren im Zulassungsausschuss erst feststellen, ob und an wen der Arztsitz weitergegeben werden darf. Bräunings Kandidat sei „keine privilegierte Person“ nach Paragraf 103, Absatz 4, Satz 5 des Sozialgesetzbuches (SGB V), wurde beschieden.
Dieser Begriff taucht im Gesetz aber gar nicht auf. Es geht im Sozialgesetzbuch um viele Kriterien für die Neuvergabe eines Arztsitzes, um die Eignung eines Kandidaten, die Wartelisten und in dem angegebenen Satz 5 darum, ob der Bewerber Ehegatte, Lebenspartner oder ein Kind des bisherigen Vertragsarztes ist. Das ist nicht so. Bräuning ist nicht verheiratet und hat keine Kinder.
Die KV erklärte dem Abendblatt auf Nachfrage, zu Einzelfällen könne man nichts sagen. Das Verfahren laufe auch noch. Eine Vertretung sei immer möglich, um eine Praxis geöffnet zu halten. „Privilegiert“ im Sinne des Gesetzes sei zum Beispiel, wer drei Jahre zuvor in der Praxis angestellt war. Und ein Verfahren zur Nachbesetzung einer Praxis dauere aufgrund gesetzlicher Vorgaben rund ein Jahr. Verkürzungen seien aber grundsätzlich möglich.
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Bei Dr. Bräuning pressiert es, nicht nur wegen der Kosten. Er möchte seine Patienten versorgt sehen. Und in den Wartezimmern seiner Kollegen wird es voller. Wer einen Termin beim Augenarzt braucht, wartet in der Regel mehrere Wochen. Mit der Terminservicestelle geht es meist schneller. Doch die Patienten wollen zu „ihrem“ Arzt. Und gefühlte Wartezeiten sind in der Gesundheitspolitik nicht vorgesehen.
Nach einer politisch so gewollten Statistik gilt Hamburg als „überversorgt“ mit Augenärzten. Versorgungsgrad: 114 Prozent. Von 171 niedergelassenen Augenärzten in Hamburg sind nach der aktuellsten Statistik jedoch 40 bereits zwischen 60 und 80 Jahre alt. Außerdem, das beklagte zuletzt der KV-Vorsitzende Walter Plassmann im Abendblatt, kaufen große Praxen vermehrt Arztsitze auf und machen vor allem lukrative Operationen. Der „Augenarzt um die Ecke“ ist ein Auslaufmodell.
Dr. Bräuning sowieso. Er versteht sich mehr als Arzt im traditionellen Sinne des Heilens, nicht als Begutachter von gesundheitlichen Problemen der „Masse Patient“. Auch in den Zahlen ist das zu lesen. Der Durchschnitts-Augenarzt in Hamburg hat 1294 Fälle, einer in der Innenstadt wegen der Lage und der guten Erreichbarkeit 1348, Dr. Bräuning jedoch 1464 Fälle. Das sind 170 mehr als das Hamburger Mittel. Er war über Jahrzehnte ein ausgewiesen fleißiger Augenarzt. Die Praxistür war geöffnet von früh bis spät.
Sogar Cher kam schon als Patientin
Die KV könnte die Praxis sogar selbst kaufen und mit einem angestellten Arzt betreiben. Auch dieses Modell kündigte KV-Chef Plassmann im Abendblatt an. Das wäre ein Schritt, um zu verhindern, dass sich Großpraxen weiter in Hamburg ausbreiten, die oft mit Finanzinvestoren verbandelt sind, und dass der Otto Normalfehlsichtige immer länger auf einen Termin warten muss.
Dr. Jürgen Bräuning hätte ohne den Schlaganfall gerne seine Praxis weiter betrieben. Das Alter ist für ihn nur eine Zahl. Sein Ruf war außergewöhnlich gut. Einmal erschien die US-Sängerin und Schauspielerin Cher (heute 73) mit Bodyguards in seiner Praxis, um sich untersuchen zu lassen. Sie bestritt zwar ihre so titulierte Abschiedstournee bereits im Jahr 2005 – aber Cher tritt auch 2019 wieder in Hamburg auf.
Bandleader James Last und Schauspieler Götz George haben sich ebenso von Dr. Bräuning tief in die Augen schauen lassen. Einer seiner Patienten hat ebenfalls einfach weitergemacht, ohne sich um die Falten zu kümmern. Er hieß „Jopie“, Johannes Heesters.