Hamburg. Ein Feuer hat ein Wohnhaus am Reitbrooker Hinterdeich weitgehend vernichtet. Inzwischen wurde es abgerissen. Doch Unfassbares bleibt.

Eine Explosion und ein Großfeuer am 9. Dezember in der Nähe der Wulffsbrücke haben ein Wohnhaus und eine ehemalige Scheune weitgehend vernichtet. Wegen Einsturzgefahr konnten Ermittler der Polizei die Brandruine nicht betreten. Die Ermittlungen des Landeskriminalamtes 45 gestalten sich daher schwierig. Am Dienstagvormittag, 17. Dezember, fraß sich nun in Reitbrook ein Bagger durch die Mauern, um das Haus, in dem vornehmlich Mitarbeiter der dort ansässigen Firma gelebt haben sollen, abzutragen.

Vielleicht lässt sich aus den Trümmern doch noch etwas über die Ursache der Explosion herauslesen. Unterdessen überflog eine Drohne Haus und Halle, in der Fahrzeuge und Baumaschinen des betroffenen Landmaschinenhandels gestanden haben, gesteuert von einer jungen Polizistin. So wird das Geschehen dokumentiert.

Großbrand in Reitbrook: Das Haus birgt ein dunkles Geheimnis

Krachend geben die Holzbalken des schätzungsweise 120 Jahre alten Hauses der Schaufel des Baggers nach, Rußwolken stauben jedes Mal in den Himmel. Noch immer liegt der süßlich-schale Geruch in der Luft, den die verkohlte Ruine verströmt. Die Wolken hängen tief, der Boden ist von Regen matschig aufgeweicht. Die Stimmung passt zu der im November 2009. Damals passierte in genau dem Haus, das jetzt dem Erdboden gleich gemacht wird, Unfassbares.

Bernado und Ralfonso, so nannten sich die Zwillingsbrüder gern, die in dem Haus nahe der Wulffsbrücke lebten. Ältere Reitbrooker erinnern sich noch an sie, die beiden Künstler. Nett, aber doch für sich, Mitglieder in der Kirchengemeinde, aber nie dort zu sehen. Sie wohnten und arbeiten vor 15 Jahren in dem Haus, das einst Olga Wulff gehört hatte. Doch die ländliche Idylle täuschte. Einer der Brüder sollte es im Herbst 2009 nicht mehr lebend verlassen.

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Gegen Mittag steht am 17. Dezember nur noch ein Gerippe des Backsteinhauses am Reitbrooker Hinterdeich/Sietwende. © Wiebke Schwirten | Wiebke Schwirten

Ausgerechnet am Totensonntag spielte sich am 22. November 2009 ein menschliches Drama am Reitbrooker Hinterdeich ab: Bernado setzte dem Leben seines Zwillingsbruders ein Ende – mit Auspuffgasen. Zuvor hatte der 67-Jährige mehrmals vergeblich versucht, sich selbst umzubringen.

Die Brüder lebten zurückgezogen, hielten fest zusammen

In dem Mehrfamilienhaus in Reitbrook, wo die beiden Brüder gemeinsam wohnten und arbeiteten, hatte die Verzweiflung schon lange vor der eigentlichen Tat Einzug gehalten. Die Brüder lebten weitgehend zurückgezogen von der Außenwelt, hielten fest zusammen. Sie waren ein Herz und eine Seele. Doch beide litten schon seit Jahren unter Depressionen. 1994 war Bernado zu seinem Bruder nach Reitbrook gezogen, um die Trennung von seiner Frau zu verarbeiten. In der Unterstützung seines Zwillingsbruders fand er Halt.

So sah das Haus am Reitbrooker Hinterdeich, in dem die Brüder gelebt hatten, im Jahr 2010 aus.
So sah das Haus am Reitbrooker Hinterdeich, in dem die Brüder gelebt hatten, im Jahr 2010 aus. © Thomas Schütt

Ralfonso litt schlimmer unter der grausamen Krankheit. Von den Grafiken und Bildern, die beide in ihrem mit Staffeleien, Farbtöpfen und Regalen voll gestellten Atelier fertigten, ließ sich mehr schlecht als recht leben. Teile des Hauses mussten verkauft werden. Eine fällige Dachsanierung sollte 60.000 Euro kosten. Permanente Schlaflosigkeit und ein schlimmes Ohrenpfeifen (Tinnitus) machten Ralfonso das Leben zur Qual. Nachdem er auch noch einen Herzinfarkt und mehrere Schlaganfälle erlitten hatte, verließ ihn vollends der Lebensmut. Noch im Krankenhaus versuchte Ralfonso, sich das Leben zu nehmen. Er wurde gerettet.

Der Bruder bettelte, keinen Notarzt für ihn zu holen

Was vier Tage vor der Tat und in den Stunden danach in dem Reitbrooker Haus geschah, haben die Ermittler auch anhand der Aussagen von Bernado rekonstruiert.

Eisgrauer Bart, ernster Blick. Ralfonso starb Ende 2009.
Eisgrauer Bart, ernster Blick. Ralfonso starb Ende 2009. © privat

Am 19. November fand er seinen Bruder blutend vor der Tür des Ateliers vor. Er hatte sich selbst mit einem Messer Wunden zugefügt. Ralfonso bettelte, sein Bruder möge keinen Notarzt holen und ihn sterben lassen – und der gehorchte. Doch als er abends zurückkehrte, fand er seinen Bruder nicht wie erwartet tot vor. Auch am nächsten Morgen lebte der 67-Jährige noch, saß auf dem Sofa, hatte sich mit dem Messer nun sogar dreimal in die Brust gestochen. Doch noch immer wollte der Tod nicht kommen.

Zwei Tage wachte Bernado an der Seite seines Bruders

In seiner Qual bat Ralfonso seinen Bruder, nicht mehr zu gehen, sondern ihm in den letzten Stunden beizustehen. Und der blieb. Bis zum frühen Nachmittag des 22. November, zwei lange Tage lang, wachte er an der Seite seines Zwillingsbruders. Und noch immer gab dessen Körper nicht auf. Schließlich soll Bernado vorgeschlagen haben, der Qual seines Bruders mit Hilfe von Auspuffgasen ein Ende zu bereiten.

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Ralfonso stimmte zu. So parkte Bernado seinen Volvo vor der Tür und leitete über einen abgedichteten Staubsaugerschlauch die Auspuffgase bis zu dem Sofa, auf dem sein Bruder lag. Er stülpte ihm eine Plastiktüte über den Kopf, um die Abgaskonzentration zu erhöhen. 20 Minuten später war sein Bruder tot. Am nächsten Morgen rief Bernado einen Bestatter zu sich – und auf dessen Anraten auch die Polizei.

Bernado musste sich schließlich für seine Tat vor dem Amtsgericht Bergedorf verantworten. Der Vorwurf: „Tötung auf Verlangen“. Bernado gestand alles. Das Urteil: Zehn Monate auf Bewährung. In ihrer Begründung sprach die Richterin von der Notwendigkeit, das Töten auf Verlangen als Straftat zu ahnden. Allerdings habe sie keine Zweifel daran, dass der Angeklagte in seiner Not- und Verzweiflungssituation nicht anders handeln konnte. Auch sei sie sicher, dass er nie wieder straffällig werde. Bernado lebt schon lange nicht mehr in Reitbrook. Es soll kurz nach dem Drama weggezogen sein.