Hamburg. Neuauflage des Klassikers „Bergedorf im Gleichschritt“: Kritischer Blick auf perfide Erfolge rechter Propaganda vor unserer Haustür.
Wie lange dauert es, bis eine Diktatur den Alltag bestimmt? „Nicht mal zwei Jahre“, sagt Johanna Salzbrunn mit Blick auf das neue Buch des Kultur- & Geschichtskontors. „Es ist erschreckend, wie schnell das Hitlers Nazis vor 90 Jahren auch bei uns in Bergedorf gelang“, weiß die Historikerin aus dem Team des Geschichtskontors. Und wie dramatisch die Parallelen zum heutigen Russland unter Putin sind, mag man ergänzen.
„Bergedorf im Gleichschritt“ ist der Titel des 320 Seiten starken Werks, das es ab sofort für 24,90 Euro in allen Buchhandlungen gibt. Und natürlich beim Kontor am Reetwerder 8, wo das Projekt mit einer Ausstellung am Donnerstag, 12. Dezember, ab 18 Uhr öffentlich vorgestellt wird. Es handelt sich um die stark ergänzte und grundlegend überarbeitete Neuauflage des lange vergriffenen gleichnamigen Klassikers von 1995/96, die jetzt auch durch die Qualität ihrer Bilder sowie nicht zuletzt ihrer Grafiken und Karten besticht.
Neues Buch: Neuauflage des Klassikers „Bergedorf im Gleichschritt“
Darunter die Bergedorfer Ergebnisse der Wahlen an der Schwelle zum Dritten Reich und die Veränderung der politischen Versammlungslokale. Beide Perspektiven zeigen, wie schnell der bunte Alltag der Weimarer Republik vom Braun der Nazis überzogen wurde. „Mir hat sich die Schilderung des Schulalltags am Luisen-Gymnasium eingeprägt“, verweist Geschichtskontor-Chefin Dr. Caroline Bergen auf das Kapitel „Vom ‚Jungmädel‘ zur Luftwaffenhelferin“, das auf Erinnerungen junger Frauen an die Jahre 1933 bis 1945 basiert.
Kein einziges Schulfach blieb hier von den Nazis verschont, sogar die Noten des jüdischen Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy musste die Musiklehrerin aussortieren. Und natürlich wurde die Geschichte passend zur „neuen“ Ideologie umgeschrieben: „Der ganz Unterricht fand eigentlich immer nur vor Landkarten statt. Und damit konnten sie uns ja beeinflussen“, berichtet eine damalige Schülerin im Zeitzeugeninterview. Da habe es dann geheißen: So klein sei Deutschland gemacht worden und nun sei es an der Zeit, sich alles nach dem Ersten Weltkrieg zu Unrecht Verlorene zurückzuholen.
„Und das fanden wir dann auch, wir Kinder“, berichtet die damalige Luisen-Schülerin. „Wir wollten alles wiederhaben.“ Auch sie habe die Nazi-Parole vom „Volk ohne Raum“ benutzt: „Wir sind ein armes Volk, wir haben keinen Platz.“
Wie ein Schüler zur Unperson außerhalb der Volksgemeinschaft wurde
Ebenso erlebten es die Jungs am Hansa-Gymnasium. Hier berichtet der „Nicht-Arier“ Hans-Jürgen Massaquoi, wie es war, nicht zur sogenannten Volksgemeinschaft zu gehören. Weil er zwar eine deutsche Mutter, aber einen liberianischen Vater hatte, blieb ihm als einzigem in der ganzen Klasse die Mitgliedschaft in der Hitler-Jugend (HJ) verwehrt. Was heute vielleicht als Glück verstanden wird, bedeutete damals die totale Ausgrenzung.
Massaquoi beschreibt einen Morgen in der Schule, als sein Lehrer zufrieden verkündete, dass nun „alle“ Jungen der Klasse Mitglieder der HJ seien. Deshalb trug er auf einer Grafik an der Tafel, die jeden Schüler durch ein kleines Quadrat symbolisierte, noch zwei Namen ein. „Dann wischte er mit einem feuchten Schwamm das letzte leere Quadrat von der Tafel, jenes, das mich symbolisierte. Das machte meinen Status als Unperson überdeutlich.“
„Was geht mich das an?“ – Workshops für Schulklassen im Geschichtskontor
Details wie diese nimmt Johanna Salzbrunn als Basis für Unterrichtseinheiten. Die Historikerin vom Kultur- & Geschichtskontor hat bereits sieben Anmeldungen von 10. Klassen Bergedorfer Schulen, die jeweils zu eintägigen Workshops an den Reetwerder 8 kommen. „Sie befassen sich dann mit den Ursprüngen des Nationalsozialismus in Deutschland, seinen verheerenden Jahren an der Macht und den heutigen Ausprägungen rechten Gedankenguts in Politik und Alltag“, beschreibt Salzbrunn. Am Ende steht dann Diskussion um die entscheidende Frage „Was geht mich das alles an?“
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„Eine ganze Menge“, findet Caroline Bergen, die auch beim Blick in Deutschlands Osten oder die USA schockiert ist, „wie schnell Propaganda und sogar blanke Lügen heute wieder Eingang in die Köpfe ganz normaler Menschen finden kann“. Die Kontor-Chefin weiß: „Auch damals, vor 90 Jahren, gab es in Bergedorf ganz plötzlich fast nur noch Menschen, die entweder Nazis waren, oder mindestens begeisterte Anhänger des ‚Volkskanzlers‘ Adolf Hitler.“
Bergedorf im Nationalsozialismus: Ausstellung im Kultur- & Geschichtskontor
„Eine kleine Stadt unter dem Hakenkreuz“ lautet passend dazu der Titel der Ausstellung zum neuen Buch, die bei seiner Präsentation am 12. Dezember um 18 Uhr eröffnet wird. Sie ist bis Mitte Februar 2025 im neuen Schauraum des Kultur- & Geschichtskontors am Reetwerder 8 zu sehen, der mit der Vernissage nun auch offiziell eingeweiht wird. Nachdem die jüngsten politischen Querelen um die Finanzierung von Miete und Personal beigelegt sind, erweitern die Historiker sogar die Öffnungszeiten: Ab sofort sind die Ausstellungen und der Buchverkauf im ehemaligen Unverpackt-Laden immer montags und freitags von 10 bis 16 Uhr und mittwochs bis 18 Uhr geöffnet.