Hamburg. Der Bezirk Bergedorf gedenkt der Opfer des Nationalsozialismus, die oft nur wenige Monate alt wurden. Wo die Stolpersteine liegen.
Seit Mittwoch hat Bergedorf neun neue Stolpersteine. Die Lebensläufe der Toten sind bei der Veranstaltung im Novemberregen in Lohbrügge bedrückend schnell erzählt. Jugendliche von der Stadtteilschule Bergedorf treten ans Mikrofon und tragen alles vor, was über die Opfer bekannt ist. Es dauert kaum eine Viertelstunde. Alt geworden ist niemand, dessen Name auf den frisch verlegten Messingplatten eingraviert steht. Die Steine erinnern an die Kinder von Zwangsarbeiterinnen. Ihre Mütter schufteten für das Naziregime in Fabriken und in der Landwirtschaft. Ihre Kinder starben noch als Säuglinge an Krankheit, Hunger und Vernachlässigung.
Fünf Stolpersteine lässt Künstler Gunter Demnig vor dem Jakob-Kaiser-Weg 24 in das Pflaster ein. An dieser Stelle stand früher die Nagelfabrik Bergedorf, gegründet 1883 als Filiale der norwegischen Firma Mustad. Von August 1941 bis zum Kriegsende arbeiteten dort mindestens 92 Frauen aus Polen, Lettland, Ungarn und Belgien. Eine der Frauen war Helena Kuczwara aus Replin in Polen. Sie war gemeinsam mit ihrem Mann nach Hamburg verschleppt worden. Ihr Sohn Peter Anton kam am 26. Juli 1943 zur Welt. Vier Tage nach der Entbindung musste sie zurück ins Lager Neustaud in der heutigen Wilhelm-Bergner-Straße. Dort starb Peter mit gerade einmal fünf Monaten, offiziell an „Ernährungsstörung, Bronchitis, Herzschwäche“.
Neun Stolpersteine für Kinder von Zwangsarbeiterinnen in Bergedorf verlegt
Maria Leczycka kam aus dem polnischen Mordy nach Lohbrügge. Ihr erster Sohn Jurek wurde am 16. Mai 1943 geboren. Als der Junge am 23. September 1943 im Alter von nur vier Monaten starb, war Maria erneut schwanger. Boleslav kam am 30. September 1944 zur Welt. Auch das zweite Kind überlebte die katastrophalen Bedingungen im Lager an der heutigen Wilhelm-Bergner-Straße nicht. Nach zwei Monaten starb er am 19. Dezember des gleichen Jahres im Alter von zwei Monaten. An ihre Schicksale erinnern seit Mittwoch Stolpersteine vor der Jakob-Kaiser-Straße 24, genau wie an Peter Anton Kuczwara, Christine Wolosch und Stanislawa Nowak. Stanislawa lebte nach ihrer Geburt am 27. April 1944 nur siebeneinhalb Stunden.
Zwei weitere Steine verlegte Gunter Demnig am Weidenbaumsweg 69, wo sich im Krieg das Lager der Kartonagenfabrik Armbruster befand. Dort arbeitete die Ukrainerin Panja Makrij, die nach dem Krieg von schweren körperlichen Tätigkeiten berichtete. Bei zwölf Stunden langen Schichten stellten die Frauen unter anderem Abbrennhülsen für die V2-Raketen her. Nach der Fabrikarbeit, waren die Zwangsarbeiterinnen noch im Gemüsekeller tätig.
Kinder lebten unter schlechten Bedingungen in Baracken
Zu essen gab es pro Woche 30 Gramm Zucker, 30 Gramm Margarine und 30 Gramm Leberwurst, dazu täglich 200 Gramm Brot und Suppe. Obwohl Panja Makrij die eigens gebaute Kinderbaracke sogar als sauber und ordentlich schilderte, starben auch unter diesen Bedingungen viele Kinder. Die neuen Stolpersteine erinnern an Nicolai Malundra und Anatoly Püwnuk. Nicolais Mutter Maria kam aus Sachnowstchna in Russland. Ihr Kind lebte nur zwei Monate. Anatoly wurde sogar nur vier Wochen alt. Seine Mutter Jewdokija aus Rublanka in Polen musste die Beerdigung selbst bezahlen.
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Ein weiterer Stein gedenkt Nina Wasilenko, geboren am 14. März 1945. Ihre Mutter Wera aus der Ukraine arbeitete in Lohbrügge bei Bauer Ernst Eggers in der damaligen Adolf-Hitler-Straße. Als Nina im Alter von zwei Wochen und fünf Tagen starb, zeigte Bauer Eggers den Sterbefall mündlich an. Als Todesursache wird „Lebensschwäche“ angegeben. Der Stolperstein liegt an der heutigen Adresse Heidhorst 1. Das letzte tote Kind, dem jetzt mit einer Messingplatte gedacht wird, hatte nicht einmal einen überlieferten Vornamen. Die Mutter des Jungen mit dem Familiennamen Martinuk arbeitete am heutigen Röpraredder 59 in der Stockschen Ziegelei.
Große Spendenbereitschaft für das Stolpersteinprojekt
Der Lohbrügger Helmut Sturmhoebel hatte sich im Februar 2024 gemeinsam mit Margot Löhr an die Öffentlichkeit gewandt. Löhr erforscht seit Jahren das Schicksal der Kinder von Zwangsarbeiterinnen in Hamburg. Der ehrgeizige Plan: Alle 75 Kinder, die im Bezirk Bergedorf in den Baracken der Verschleppten oder in Krankenhäusern starben, sollen einen Stolperstein bekommen. Mittlerweile sind alle 75 Steine dank des enormen Spendenaufkommens finanziert. Im kommenden Jahr sollen weitere Verlegungen folgen. Vor dem heutigen Obi-Markt an der Kurt-A.-Körber-Chaussee werden 56 der Gedenktafeln in den Boden gelassen. Dort befanden sich im Krieg die Kap-Asbestwerke.
Bezirksamtsleiterin Cornelia Schmidt-Hoffmann (SPD) bezeichnete die Stolpersteine als „Fenster in die Vergangenheit“. Jeder Stein erzähle von einem einzelnen Menschen und seinem Schicksal. „Die Erbarmungslosigkeit der NS-Zeit reichte bis zu den Allerjüngsten“, betonte Schmidt-Hoffmann. Die polnische Künstlerin Aneta Barcik sang den toten Kindern ein Wiegenlied in ihrer Muttersprache.