Hamburg. Das Schicksal der Babys von Zwangsarbeiterinnen ist heute fast vergessen – eine Bergedorfer Initiative will Stolpersteine verlegen.

Christine Wolosch kam am 31. März 1944 in Lohbrügge zur Welt. Ihre Mutter Stanislawa lebte nicht freiwillig in dem Bergedorfer Stadtteil. Die deutschen Besatzer hatten die junge Polin aus ihrer Heimat Dobroń bei Lodz verschleppt. Stanislawa leistete Zwangsarbeit in der Nagelfabrik Bergedorf GmbH und war in einem Lager in der heutigen Wilhelm-Bergner-Straße untergebracht. Dort lebte auch ihre Tochter Christine. Am 13. September 1944 wurde das Kind in die Klinik in Langenhorn eingeliefert. Diagnose: „Ernährungsstörungen“. 13 Tage später starb das völlig ausgezehrte Mädchen. Christine wurde fünf Monate, drei Wochen und fünf Tage alt.

Eine Initiative aus Bergedorf will jetzt an Christine Wolosch und 74 weitere Kinder von Zwangsarbeiterinnen erinnern, die ihr meist kurzes Leben im Hamburger Bezirk verbrachten. Für jedes der Opfer soll in Bergedorf ein Stolperstein verlegt werden. Ein ambitioniertes Vorhaben. Würde es Realität, lägen allein 56 der Messingtafeln vor dem heutigen Obi-Markt an der Kurt-A.-Körber-Chaussee 9, der ehemalige Standort der Kap-Asbest-Werke. Margot Löhr, die sich seit Jahren mit den Opfern des Nationalsozialismus beschäftigt, hält den Aufwand für angemessen: „Wir wollen jedem Kind einzeln gedenken und ihnen so ein Stück ihrer Würde zurückgeben.“

Stolpersteine sollen an das Schicksal von 75 Kindern von Zwangsarbeiterinnen erinnern

Löhr ist eigentlich Psychologin und hat sieben Jahre lang die Schicksale der Kinder in Hamburg recherchiert. Bei ihrer Arbeit über die 400.000 bis 500.000 ausländischen Zwangsarbeiter, die in Hamburg eingesetzt wurden, stieß sie in den Sterberegistern immer wieder auf Säuglinge mit ausländisch klingenden Namen, als deren Wohnort war ein Lager angegeben. Daraufhin durchforstete Löhr die Unterlagen von Krankenhäusern und Standesämtern, redete mit Zeitzeugen. Ihre Ergebnisse hat in zwei Büchern festgehalten. In den beiden Bänden von „Die vergessenen Kinder der Zwangsarbeiterinnen in Hamburg“ sind zahlreiche Lebenswege von Kindern aufgezeichnet. 418 Fälle hat Margot Löhr erforscht. Die Biografien sind meist grausam kurz.

Wir wollen jedem Kind einzeln gedenken und ihnen so ein Stück ihrer Würde zurückgeben.
Margot Löhr - erforscht die Biografien von NS-Opfern

Von den 418 erforschten Kindern stammten 342 von Zwangsarbeiterinnen aus Polen oder der Sowjetunion. Die Frauen waren in ihren Heimatländern meist zwangsrekrutiert worden. „Manche von ihnen brachten ihre kleinen Kinder mit, manche Frauen waren schon schwanger“, berichtet Löhr. Häufig seien die Frauen jedoch erst in Hamburg schwanger geworden. Die Väter bleiben bis heute unbekannt. Die Forscherin vermutet, dass es zwar auch zu Vergewaltigungen gekommen sei. Oft stammten die Kinder aber aus Beziehungen mit anderen Zwangsarbeitern. Während Frauen, die in der Rassenideologie der Nazis als „westlich“ galten, nicht abtreiben durften, drängte man die „Ostarbeiterinnen“ oft zum Schwangerschaftsabbruch.

Säuglinge wurden in Baracken oft von älteren Kindern betreut

„Die schwangeren Frauen mussten bis zur Entbindung arbeiten“, sagt Löhr. Nach der Geburt trennte man die Kinder rasch von ihren Müttern und brachte sie in sogenannten „Ausländerkinderpflegestätten“ unter. Löhr stellt klar: „Das waren Baracken, in denen man die Kinder fast sich selbst überlassen hat.“ Während die Mütter zehn Stunden arbeiten mussten, kümmerten sich oft ältere Kinder oder einzelne Zwangsarbeiterinnen um die Säuglinge. Im Lager Reichsstraße in Geesthacht war zum Beispiel nach Aussage einer Zeitzeugin zeitweise nur ein neunjähriges Mädchen für die Kinder in der Baracke zuständig. Sie selbst habe ihren Sohn nur sonntags sehen dürfen.

Ein systematisches Mordprogramm – wie für andere verfolgte Bevölkerungsgruppen – existierte für die Kinder nicht, aber „ihr früher Tod war voraussehbar und einkalkuliert“, wie Löhr in ihrem Buch schreibt. Sie bezeichnet die Lebensbedingungen als „qualvoll und menschenunwürdig“. Einige Frauen schafften es jedoch, ihre Kinder durchzubringen – meist mithilfe ihrer Leidensgenossinnen oder der Unterstützung durch bessergestellte „westliche“ Arbeitskräfte sowie aus der deutschen Bevölkerung.

Ein aus zahlreichen Glaswürfeln zusammengesetztes Denkmal auf dem Friedhof Ohlsdorf erinnert an das Schicksal der Kinder, die auf dem Friedhof begraben wurden.
Ein aus zahlreichen Glaswürfeln zusammengesetztes Denkmal auf dem Friedhof Ohlsdorf erinnert an das Schicksal der Kinder, die auf dem Friedhof begraben wurden. © Unbekannt | Garten der Frauen e.V.

Seit Mai 2022 existiert auf dem Friedhof Ohlsdorf im Garten der Frauen ein Glaswürfel, der an die gestorbenen Kinder von Hamburger Zwangsarbeiterinnen erinnert, die dort begraben wurden. Mit dem Stolpersteinprojekt möchten Löhr und ihre Verbündeten, die zum Teil aus der Arbeitsgemeinschaft der Woche des Gedenkens kommen, den Bergedorfer Opfern vor Ort ein Denkmal setzen. Viele Kinder starben in Krankenhäusern, in die sie trotz der Vernachlässigung kurz vor ihrem Tod doch eingeliefert wurden. Die Steine sollen im Bezirk jedoch an den Orten des Leides gesetzt werden, wie der „Ausländerkinderpflegestätte“ in den Asbestwerken an der heutigen Kurt-A.-Körber-Chaussee. Zehn Steine sollen in den Vier- und Marschlanden verlegt werden.

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Die Stolpersteine verlegt der Künstler Gunter Demnig, ein Stein kostet 120 Euro. Die Initiatoren des Projekts suchen daher jetzt Spender. Das Geld kann auf das Konto des Freundeskreises KZ-Gedenkstätte Neuengamme überwiesen werden (IBAN DE97 2005 0550 1502 9009 60, Stichwort: „Zwangsarbeiterkinder Bergedorf“). „Es wird spannend“, betont Helmuth Sturmhoebel, der auch die Woche des Gedenkens in Bergedorf mitorganisiert. Um das Geld aufzutreiben, wollen die Beteiligten auch Firmen und Kirchen ansprechen oder mit Schulen über Spendensammelaktionen sprechen.

Auch Zeitzeugenberichte oder Fotos von den Zwangsarbeiterinnen, ihren Arbeitsstätten und ihren Unterkünften werden weiterhin gesucht. Wer weiterhelfen kann, wendet sich telefonisch oder per E-Mail an Anke Bendt-Soetedjo (040/7355921; anke.bendt@web.de) oder Helmuth Sturmhoebel (040/ 7245545; helmuth.sturmhoebel@t-online.de)