Hamburg. Soziale Beratungsstelle Bergedorf warnt vor Tricksereien und hat jetzt im Winter große Not, die Menschen hier im Bezirk unterzubringen.

„Da hinten bei der Pagode im Schlosspark hab ich geschlafen, war wenigstens trocken.“ Ganze sechs Monate habe er im Freien übernachtet, also „Platte gemacht“, erzählt der Bergedorfer Dieter Fricke – und erinnert sehr unschöne Begegnungen: „Ich wurde von Hunden gebissen und von drei jungen Leuten bedroht, musste mich mit ihnen schlagen. Außerdem haben sie meine Tasche samt Papieren in den Schlossteich geschmissen.“

Solche Geschichten von Obdachlosen kennt Sabine Fehr, die seit 26 Jahren die Soziale Beratungsstelle am Weidenbaumsweg 19 leitet, zu Hunderten. Derzeit seien gut 40 Obdachlose in Bergedorf, die Hilfe brauchen: „Sie sind meist ziemlich jung, bloß 25 bis 30 Jahre alt. Und sie kommen aus Osteuropa, aus den neuen Bundesländern und eben auch aus unserer Nachbarschaft.“

Wohnungsnot: obdachlos wegen Eigenbedarfskündigung

Auffallend sei, dass viele Männer sogar ein festes Arbeitsverhältnis haben, aber eben keine Unterkunft finden, nachdem sie sich etwa von der Partnerin getrennt haben: Der Wohnungsmarkt ist bekanntlich leergefegt, da könne auch die Bergedorfer Fachstelle für Wohnungsnotfälle kaum etwas ausrichten.

Ein sehr häufiger Grund für die Obdachlosigkeit sei neuerdings aber auch eine Eigenbedarfskündigung, so Fehr: „Da wurde einer am Sander Damm unter dem Vorwand des Eigenbedarfs gekündigt, aber niemand ist eingezogen. Stattdessen wird billig renoviert und mit Ikea-Möbeln vermietet. Jetzt kostet die Ein-Zimmer-Wohnung mal eben 940 Euro.“ Und dies sei wahrlich kein Einzelfall in Bergedorf.

Kündigung wegen Eigenbedarf: Bergedorfer landet auf der Straße

Wohl ähnlich wie bei „Didi“, wie der 48-Jährige am liebsten genannt werden will: Seine Vermieterin war gestorben, der Nachfolger knallhart. „Nach 22 Jahren wurde mir an der Bleichertwiete wegen Eigenbedarfs gekündigt. Danach stand die Wohnung aber zwei Jahre lang leer“, ärgert sich Dieter Fricke, der in Lohbrügge aufgewachsen ist und 30 Jahre als Steinsetzer gearbeitet hat. Mit diesem Datum begann seine Abwärtspirale: Nach dem Auszug am 15. August 2022 schlief er zunächst in Bergedorfer Parks, ab und an bei Freunden, wo er sich rasieren und duschen konnte. Und nicht zuletzt im Container des Winternotprogramms der Friedenskirche am Ladenbeker Weg. In diesem Jahr nehmen die Ehrenamtlichen jedoch nur acht statt bislang zehn Männer auf.

Dieter Fricke
„Ist schon schlimm, wie viele Wohnungen in Bergedorf nicht bewohnt sind, zum Beispiel an der Holtenklinkerstraße“, meint Dieter Fricke. © bgz | Anne Strickstrock

All das bietet aber keine offizielle Meldeadresse. Und deshalb habe er seine Arbeit verloren, sagt Fricke. „Danach hat sich auch meine Familie von mir abgewendet. Jedenfalls will mich meine 17-jährige Tochter seit zwei Jahren nicht mehr sehen.“ Mit Hilfe der Beratungsstelle („ich bin so sehr dankbar“) habe er schließlich ein Zimmer im Hotel Hanseat an der Bergedorfer Straße bekommen: „Das ist von außen nicht schön, aber die Zimmer sind echt toll und gemütlich.“

Die staatliche Unterstützung reiche nicht, daher sei er froh um die Bergedorfer Tafel und den Suppentopf. „Ich liebe meinen Job und würde so gern wieder arbeiten. Aber dafür brauche ich eine Wohnung. Da ist es schon blöd, wenn man sieht, dass etwa an der Holtenklinker Straße echt viele Wohnungen leerstehen“, meint der Mann auf dessen Jacke „Hero by choice“ steht, also „Held aus Überzeugung“.

Kritik an gesetzlicher Betreuerin, die „skandalös“ arbeitet

Als für eine Person angemessen gilt den Behörden (also Jobcenter und Grundsicherungs- und Sozialamt) eine etwa 50 Quadratmeter große Wohnung zu einer Bruttokaltmiete von 573 Euro. Wer helfen und vermieten kann, meldet sich in der Beratungsstelle des Trägervereins Integrationshilfen unter Telefon 040/713 67 21.

4,5 Personalstellen sind in der Sozialen Beratungsstelle besetzt, seit Sommer ist auch der Sozialpädagoge Bastian Hanraets (42) mit im Team, dazu seine 36-jährige Kollegin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen mag: „Ich wohne hier in Bergedorf und möchte nicht, dass unsere Klienten an meiner privaten Wohnungstür klingeln.“

Sie hilft den Obdachlosen bei der Geldverwaltung, bei der Schuldenbearbeitung und beim neuen Ausweis, den man leider nicht in Bergedorf, sondern in der Caffamachereihe beantragen muss. Derzeit begleitet sie einen schwerstkranken Mann, der eigentlich eine gesetzliche Betreuerin hat. „Aber die hat skandalös gearbeitet, der hat nicht einmal eine Krankenversicherung. Geschweige denn, man hätte längst mal einen Antrag auf Altersrente gestellt. Jetzt habe ich einen Betreuerwechsel beantragt.“

Am Curslacker Neuen Deich sollen Zelte aufgestellt werden

Sabine Fehr sorgt sich unterdessen, dass sie Wohnungslose in Bergedorf nicht mehr direkt an öffentliche Einrichtungen von Fördern & Wohnen vermitteln kann: „Das geht alles nur an die Übernachtungsstätte Pik As oder an das FrauenZimmer in der Hinrichsenstraße in Borgfelde. Das ist also keine Garantie, dass die Obdachlosen hier in Bergedorf bleiben können.“

„Das war schon immer so mit der zentralen Vergabe, aber unser System ist voll, es gibt quasi keine Plätze mehr“, entgegnet Susanne Schwendtke. Die Sprecherin des städtischen Sozialunternehmens Fördern & Wohnen klingt verzweifelt: „Wir bauen ja schon so schnell wir können, aber es ist ein Kampf um jeden Platz.“ Wie berichtet, sollen am Curslacker Neuen Deich 80 bald im Winter sieben Zelte aufgestellt werden, um zusätzlich 70 Menschen aufzunehmen – ein Thema zuletzt im Bergedorfer Sozialausschuss: „Alle Menschen sind gleich, das gilt auch für Flüchtlinge. Und Zelte sind nunmal unmenschlich, dürfen nur ein allerallerletztes Mittel der Verwaltung sein“, mahnt Maria Westberg (Die Linke).

Obdachlose in Bergedorf: Reserveflächen seien schon ausgenutzt

Es sei eben eine Notmaßnahme, die man hoffentlich nicht allzuoft nutzen müsse. Doch die Reserveflächen seien schon ausgenutzt, erklärt Bergedorfs Integrationsbeauftragte Mirjam Hartmann: „Die Unterkunft ist schon sehr groß, und zusätzliche Container wären ja noch mehr regelhafte, feste Plätze.“

Immerhin, so Susanne Schwendtke: „Wenn jemand einen Anspruch auf eine öffentliche Unterbringung hat, dann darf der Mensch auch tagsüber im PikAs bleiben. Muss dann also nicht vor die Tür.“ Das helfe jedoch selten jemandem in Bergedorf, wo jetzt auch noch das Männerwohnheim am Achterdwars sein Konzept umgestellt hat und für langjährige Gäste sogenannte „Lebensplätze“ anbietet. „Aber es gibt auch noch ein paar andere Plätze“, stellt Schwendtke in Aussicht.

Bergedorfer Engel sammeln Spenden

Immerhin konnte die Soziale Beratungsstelle nun Dank Spenden drei Menschen über den Verein Bergedorfer Engel in Hotelzimmern unterbringen. „Spenden für eine warme Nacht“ heißt die Hilfsaktion, die 40 bis 50 Euro braucht für eine ruhige Nacht in einem warmen Zimmer. Wer mag, spendet an die Vierländer Volksbank (IBAN DE28 2019 0109 0089 0600 90). Doch es sei nicht immer unkompliziert, wenn Touristen, Geschäftsreisende, Monteure und obdachlose Menschen in den Hotels zusammenkommen, betont Vereinsvorstand Thorsten Bassenberg. Könne kein Zimmer gefunden werden, „investieren wir die Spenden in winterfeste Schlafsäcke, warme Mahlzeiten, Drogerieartikel, wintertaugliche Kleidung, Handschuhe und Mützen“.

Dieter Fricke
Die jüngste Pfandstudie von fritz-kola besagt, dass 30 Prozent der Pfandsammler in Deutschland über 55 Jahre alt sind. Ein Viertel (26 %) sind 35 bis 44 Jahre alt, 19 Prozent sind zwischen 25 und 34 Jahre alt, 16 Prozent haben ein Alter von 45 bis 54 Jahren und acht Prozent sind im Alter von 18 bis 24 Jahren.  © bgz | Anne Strickstrock

Kleidung habe er genügend und auch neue Schuhe geschenkt bekommen, sagt Dieter Fricke dankbar. Er schlendert unterdessen weiter durchs Bergedorfer Sachsentor – und schaut immer wieder in die roten Mülleimer: „25 Cent Pfand helfen immerhin, wenn ich ein Brötchen kaufen will. Aber es gibt echt ziemlich viele Pfandsammler hier.“

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Zuletzt hatte die Initiative „Pfand gehört daneben“ von fritz-kola 1.191.700 aktive Pfandsammler in Deutschland gezählt. Die repräsentative Studie in Zusammenarbeit mit dem Meinungsforschungsinstitut YouGov ergab, dass 43 Prozent Abitur haben oder eine Fachhochschulreife. 28 Prozent der Pfandsammler leben alleine, 23 Prozent sagen aus, dass die staatliche Hilfe bzw. die Rente nicht ausreiche. Das Ziel der Studie sei es übrigens, das Bewusstsein für die Lebensrealität von Pfandsammlern zu schärfen und Vorurteile abzubauen.