Bergedorf. Der Tierschutz-Chef und der Reiseleiter leben auf der Straße, haben noch Träume. Und wie geht es Stephan mit der zerrissenen Hose?

In Bergedorf gibt es zahlreiche Obdachlose, die noch immer draußen übernachten, auch bei frostigen Temperaturen. Zwar gibt es das städtische Winternotprogramm, aber nur zehn Plätze finden sich in Bergedorf. Zu wenige, um Menschen wie Thomas Hölscher einen warmen Schlafplatz anbieten zu können.

Hölschers Name, Geburtstag und eine Telefonnummer stehen auf dem Notfall-Armband, das er trägt: „Da gibt es ein liebes Ehepaar in Elmshorn, das mir schon ein paar Mal geholfen hat, wenn ich in Not war“, erzählt Thomas Hölscher. Und das war wohl nicht selten: Hölscher ist obdachlos. Bis vor Kurzen saß der 54-Jährige noch häufiger betrunken im Rollstuhl. „Ich war verwahrlost und habe mir die Beine weggesoffen. Aber seit fast sechs Monaten bin ich clean. Die Entgiftung habe ich diesmal ganz allein geschafft, ohne Psychologen“, sagt er stolz.

Bergedorfs Obdachlose – wie sie wurden, was sie sind

Wir treffen uns bei McDonald’s am Bergedorfer Bahnhof, wo er nach einem veganen Burger fragt – „den Tieren zuliebe“. Hier will mir Peppi, wie ihn viele nennen („nach dem Hund aus dem Buch ,Das kleine Arschloch‘“), seine Geschichte erzählen. Und dass er so dankbar ist, gerade ein Einzelzimmer im Hotel am Kurfürstendeich bewohnen zu dürfen, das ihm die Bergedorfer Engel besorgt haben – er braucht Wärme und Ruhe.

„Die Bergedorfer Engel drücken mich nicht in eine Richtung, das Zimmer ist nicht an Bedingungen geknüpft. Das ist toll, denn eine Überforderung würde mich vielleicht wieder in die Sucht treiben“, fürchtet er. Dabei braucht er gerade seine ganze Kraft für den Papierkram: Die Erwerbsminderungsrente reicht nicht, mithilfe der Caritas will er eine Grundsicherung beantragen. Und eine Krankenversicherung.

Der Tierschutz-Chef: Die Alkoholsucht warf ihn immer wieder zurück

Warum ist er aber überhaupt auf der Straße gelandet? Der Start ins Leben war schon nicht leicht: Das Jugendamt nahm der Mutter den Jungen weg, so wuchs er „bei erzkatholischen Adoptiveltern“ als Einzelkind im Sauerland auf. „Wahrscheinlich habe ich noch einen Haufen Halbgeschwister, aber Genaues weiß ich nicht. Bloß einmal habe ich meinen leiblichen Bruder im Ruhrpott getroffen. Wir mochten uns aber nicht so“, sagt Thomas Hölscher.

Das Notfall-Armband trägt die Telefonnummer eines Ehepaares: „Die helfen mir dann, wenn ich zum Beispiel ins Krankenhaus muss.“
Das Notfall-Armband trägt die Telefonnummer eines Ehepaares: „Die helfen mir dann, wenn ich zum Beispiel ins Krankenhaus muss.“ © bgz | Anne Strickstrock

Nach der Schule brach er eine Lehre zum Straßen- und Tiefbauer ab, arbeitete in einem Sägewerk, bis er mit 19 Jahren nach Frankfurt abhaute: „Das war meine erste Bruchlandung auf der Straße.“ Was macht man dann so den ganzen Tag über? „Schnorren und saufen“, erinnert er grinsend: „Aber ich habe den Sechs-Euro-Schnaps immer bezahlt. Ich kann nicht klauen.“

Wegen „Altlasten“ ein Jahr im Gefängnis

Zwischendurch jobbte er im Garten- und Landschaftsbau, in Tierheimen und auf einem Gnadenhof. Dann kam eine richtige Arbeitsstelle: „In Hessen war ich bei der Stiftung Tierschutz, sogar in der Teamleitung. Das war toll, bloß mit den Kollegen hatte ich Stress.“ Also tingelte er weiter, schlief einen Sommer an der Nordsee, verbrachte Monate in Süddeutschland, auch mal zweieinhalb Wochen in Köln: „Das ist das einzige Mal, dass ich unschuldig verhaftet wurde. Dabei habe nicht ich die Touristen ausgenommen, sondern eine Bekannte“, meint der 54-Jährige, der „All Cops are Bastards“ auf seinen Fingern tätowiert hat.

Ein bisschen was von Gewalt stehe schon in seiner Akte. Und das Fahren ohne Führerschein oder andere „Altlasten“, wegen derer er zuletzt ein Jahr in der JVA Billwerder saß. „Das war meine letzte offizielle Adresse, denn seit 2003 bin ich in Hamburg und schlief meist auf der Reeperbahn, direkt neben dem Schmidt Theater“, sagt der St.-Pauli-Fan.

Nicht aufgeben, am liebsten nie mehr trinken

Sein Leben auf der Straße wurde mehrfach unterbrochen: Da gab es einen Alkoholentzug in Sachsenwaldau bei Reinbek und das betreute Wohnen in Ochsenzoll. „Aber Menschen machen mir Angst. Und wenn ich das Wort ‚muss‘ höre, wird es schwierig“, erklärt Peppi auch, warum er nicht lange in Brunstorf gelebt hat, beim Obdachlosenhilfeverein „Zwischenstopp Straße“.

Auf seinem Wunschzettel steht eine eigene Wohnung in Bergedorf: „Das ist eine schöne Kleinstadt. Und bei der Bergedorfer Tafel gibt es sogar veganen Brotaufstrich.“ Er will eben nicht aufgeben, am liebsten nie mehr trinken: „Es ist noch zu früh zum Sterben.“ Außerdem freut er sich jeden Donnerstag darauf, den Hund einer Freundin betreuen zu dürfen. Ansonsten brauche er nicht viel – bloß Kaffee, Zigaretten und „gute Punkmusik“.

Winternotprogramm hat nur zehn Plätze

Hölscher geht es gerade verhältnismäßig gut. Aber in Bergedorf gibt es zahlreiche Obdachlose, die noch immer draußen übernachten, auch bei frostigen Temperaturen. Zwar gibt es das städtische Winternotprogramm, aber nur zehn Plätze finden sich in Bergedorf, in den Containern der Freikirche am Ladenbeker Weg. „Wir haben Leute aus Polen, Litauen und Bulgarien bei uns. Obwohl wir uns kaum unterhalten können, läuft es ganz gut“, sagt Klaus Spicher, der das Team der ehrenamtlichen Betreuer leitet.

Schwieriger indes haben es die Frauen, die derzeit auf Bergedorfs Parkbänken schlafen oder in Bankfilialen. Eine Frau übernachtet im Bahnhof, sie kommt abends um 20 Uhr, ist morgens um 7 Uhr schon wieder weg. „Wir haben insgesamt bestimmt 20 Leute, die komplett unversorgt sind“, weiß Sabine Fehr von der sozialen Beratungsstelle am Weidenbaumsweg. Vor allem aber bekomme sie nahezu täglich Anfragen von besorgten Bürgern zu Stephan: Wie geht es ihm? Der 41-Jährige, der lange Zeit barfuß und mit zerrissener Hose in der Fußgängerzone unterwegs war, ist inzwischen wohl jedem Bergedorfer bekannt. Viele Menschen hatten Hilfe angeboten, doch er lehnt alles ab und redet nicht gern. „Er blockt ab und nimmt auch seine Medikamente nicht“, weiß Fehr, die längst auch das Gesundheitsamt und die Polizei informierte.

Viele Bergedorfer sorgen sich um Stephan mit der zerrissenen Hose

Auf Hamburgs Straßen sind seit November vergangenen Jahres mindestens 14 Obdachlose gestorben. Ein großes Problem ist, dass es in Bergedorf noch immer keine Tagesaufenthaltsstätte gibt, wie Sozialpolitiker sie seit Jahren fordern. Aktuell aber muss sich niemand sorgen, dass Stephan in Bergedorf erfriert: Der Mann ist psychisch krank und wird derzeit im Bethesda-Krankenhaus versorgt.

Unterdessen sorgen sich die Ehrenamtlichen des 2014 gegründeten Vereins „Bergedorfer Engel“ um andere Menschen, die kein Zuhause haben: „Wir haben Spenden gesammelt und könnten fünf Leute bis Februar in einem Hotel unterbringen. Das Problem ist nur, dass viele Betten von ukrainischen Flüchtlingen belegt sind“, sagt Vize-Vorsitzende Susanne Diem. Im vergangenen Winter konnten Obdachlose bei „My bed“ am Kurfürstendeich untergebracht werden. Diesmal war hier bloß ein Zimmer frei, für Thomas Hölscher. Andere Obdachlose wollen die Helfer nun in Barsbüttel unterbringen: „Da gibt es noch ein paar Betten. Aber wir suchen dringend weiter nach Hotels mit Einzelzimmern, die höchstens 45 Euro pro Nacht kosten“, sagt Susanne Diem.

Reiseleiter Tomás: Ein Autounfall veränderte sein Leben

Darüber würde sich auch Tomás Jaros freuen, der seit etwa drei Wochen links neben dem leeren Karstadt-Haus schläft. Der 30-Jährige kommt frisch aus dem Gefängnis: „Mich haben sie für fünf Monate inhaftiert, weil ich mehrfach schwarzgefahren bin“, erzählt der Tscheche, der seit elf Jahren in Deutschland lebt und einst als Reiseleiter gearbeitet hat – bis zu jenem Unglückstag, an dem sein Partner bei einem Autounfall starb.

Tomás Jaros (31) nächtigt am Karstadt-Haus in der Bergedorfer Fußgängerzone.
Tomás Jaros (31) nächtigt am Karstadt-Haus in der Bergedorfer Fußgängerzone. © bgz | Anne Strickstrock

„Da bin ich von einer Brücke gesprungen und habe seitdem Schrauben im Rücken“, erinnert er seinen Suizidversuch, der von viel Alkohol begleitet war. „Aber seit drei Jahren bin ich trocken, habe mich auch bei einer Therapie stabilisiert“, sagt der Mann, der im Sommer noch zwischen Bergedorfer Friedhof und Sternwarte nächtigte. Jetzt sucht Tomás wieder eine Arbeit, am liebsten an einer Hotelrezeption. Wer den Mann, der sich tagsüber mit psychologischen Themen und Kreuzworträtseln beschäftigt, kontaktieren möchte, schreibt eine Mail an jarost385@gmail.com.

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Wer Geld für Bergedorfs Obdachlose spenden möchte, wendet sich an das Konto der Bergedorfer Engel bei der Vierländer Volksbank (IBAN: DE282 01901 0900 8906 0090), aber auch Schlafsäcke sind jederzeit willkommen: Am 17. Dezember verteilen die Ehrenamtlichen zudem wieder Lebensmittel an Bedürftige auf der Reeperbahn. „Meistens ist das Problem, dass obdachlose Menschen keine Papiere mehr haben und keine Krankenversicherung“, sagt Susanne Diem, die eng mit der Sozialberatung zusammenarbeitet. Auch die übrigens braucht gerade Hilfe, fest angestellt: Sozialpädagogen, die in Bergedorf arbeiten wollen, melden sich unter Telefon 040/713 76 21.