Hamburg. Niemand lebt länger in der Vierländer Hippie-WG als der 62-Jährige. Etwa 60 Mitbewohner kamen und gingen. Was er in 20 Jahren erlebt hat.
Sie gelten vermutlich noch immer als Exoten, obwohl sich in dem großen, 1880 erbauten Reetdachhaus am Kirchwerder Hausdeich 180 im Laufe der Jahrzehnte im Vierländer Hippie-Hof vieles verändert hat und die Bewohner längst keine echten Hippies mehr sind. Die fünf Männer und drei Frauen, die dort auf drei Etagen leben, arbeiten etwa als Informatiker, Lehrer, Erzieher, Kauffrau, Ingenieur oder Unternehmensberaterin.
Sie eint der Wunsch, gemeinsam mit anderen unter einem Dach wohnen zu wollen. „Dienstältestes“ Mitglied der großen Wohngemeinschaft, in der auch drei Kinder leben, ist Peter Pajewski. Der 62-Jährige ist 2004 in das Haus eingezogen – und hat seitdem dort knapp 50 Erwachsene und 13 Kinder als Mitbewohner erlebt.
Vierländer Hippie-Hof: Peter Pajewski hat mit mehr als 60 Menschen in einer WG gelebt
Pajewski unterteilt die vergangenen 20 Jahre in drei Phasen: In der ersten lebte er dort mit Menschen zusammen, die dort schon als Freunde eingezogen waren. „Zehn Jahre lang hat sich die Besetzung der WG nicht verändert“, sagt der geborene Harburger. In der zweiten Phase haben 25 verschiedene Leute innerhalb von sieben, acht Jahren die WG bewohnt. „Das war eine experimentelle Phase“, sagt Pajewski. „Damals wohnten hier viele Menschen für kurze Zeit, die aus der Stadt kamen und Sehnsucht nach dem Land hatten.“ Phase drei ist das Hier und Jetzt: „Die meisten Mitbewohner leben hier schon seit einigen Jahren.“
Pajewski war 2004 mit einem gebrochenen Herzen aus Ottensen auf den Hippie-Hof gezogen und froh, nicht allein zu sein. „Ich war vorher schon oft zu Besuch, weil mein Bruder in der WG lebte. Bis 2016 haben wir dann dort zusammen gewohnt.“
Damals standen den Bewohnern neun Zimmer zur Verfügung, darunter auch Wohnbereiche aus eineinhalb Zimmern. Heute ist es eines weniger, denn es wird über das Internetportal Airbnb an Kurzzeitgäste vermietet. Die Gesamtwohnfläche beträgt fast 400 Quadratmeter. Hinzu kommen knapp 600 Quadratmeter Scheune und Dachboden. Das Grundstück mit seinen großen Gartenflächen umfasst etwa 6000 Quadratmeter. Die Einnahmen aus der Vermietung des Zimmers und auch zweier Garagen teilen sich die WG-Bewohner. Sie mussten neue Wege einschlagen, um sich ihre Zimmer weiter leisten zu können: „Die Mieten sind im Laufe der Jahrzehnte deutlich gestiegen“, sagt Pajewski.
Um sich sein schönes Zimmer leisten zu können, muss Pajewski es gelegentlich vermieten
Mit den gestiegenen Preisen habe sich auch die WG verändert, betont er: Als der Hamburger einzog, lebte er vor allem mit Lehrern, Erziehern und Fahrradkurieren zusammen. Heute haben seine Mitbewohner, deren Altersspanne von Ende 30 bis Anfang 60 reicht, oft besser bezahlte Berufe. Pajewski selbst ist gelernter Erzieher, arbeitet als solcher aber nur noch aushilfsweise auf Honorarbasis. Sein zweites Standbein war und ist seine Selbstständigkeit mit handwerksähnlichen Dienstleistungen (Renovierungen, die Anfertigung von Möbeln). Viel Zeit investiert er auch in seine Arbeit als Künstler, die mit seinen Werken – von der Musik-CD über eine dem Körper angepasste Gitarre bis zum Riesen-Kaleidoskop – verdiene er nur wenig Geld.
Deshalb vermietet der Hippie-Hof-Veteran gelegentlich auch sein WG-Zimmer über Airbnb, „jeweils für ein paar Tage“. Pajewski schläft dann in seiner „Musikerbox“, einem schalldichten Mini-Raum auf dem großen Dachboden der an das Haus angrenzenden Scheune. Dort hat er auch die Lieder für seine CD aufgenommen.
Im Laufe der Jahre ist der gelernte Erzieher innerhalb des Hauses mehrfach umgezogen
Die Möbel für sein gut 40 Quadratmeter großes, eigenes Hippie-Hof-Reich (Wohnzimmer, Schlafzimmer) hat Pajewski fast alle selbst gebaut. „Das Handwerkliche habe ich wohl im Blut. Mein Vater war Karosseriebaumeister.“ Im Laufe der Jahre ist er innerhalb des Hauses mehrfach umgezogen, konnte er immer schönere Zimmer beziehen. Nun blickt er in Richtung Südosten auf Bäume und den benachbarten Vierländer Rosenhof. Dem Vater des Rosenhof-Betreibers gehört der Hippie-Hof, sein Elternhaus.
Alle Zimmer werden von jeweils nur einem Erwachsenen bewohnt, wobei einige Bewohner wochenweise ihre Kinder da haben. „Natürlich sind hier auch oft andere Menschen im Haus, etwa Freunde oder Partner, die dann manchmal auch hier übernachten“, sagt Pajewski, der selbst Single ist und keine Kinder hat.
Aus der Wohngemeinschaft heraus bildeten sich auch Paare, die Kinder bekamen
Auch aus der WG heraus haben sich Paare gebildet, von denen einige auch Kinder bekommen haben, die ihre ersten Lebensjahre in dem großen Haus verbrachten. Auch Pajewski war zwei Jahre lang mit einer früheren Mitbewohnerin zusammen, allerdings ohne Folgen. „Einmal hatte sich eine Frau um ein Zimmer beworben. Als sie mit ihrem Kind hier war, lief ein Mitbewohner rot an. Er hatte mit ihr Jahre zuvor einen One-Night-Stand gehabt und gedacht, dass es sich um sein Kind handeln könnte. Das war aber wohl nicht der Fall“, erinnert sich der 62-Jährige.
Damals gab es ein WG-Buch, in dem alles, was alle betraf, notiert wurde, erinnert sich Pajewski. „Inzwischen werden alle relevanten Infos per E-Mail-Verteiler verschickt.“ Auch die monatlichen WG-Sitzungen gebe es inzwischen seltener: „Die Hausbewohner sind beruflich zu sehr eingebunden. Abstimmungen mit der Gruppe laufen nun mehr nebenbei.“
Heute ist die Wohngemeinschaft funktionaler und zweckmäßiger ausgerichtet
Früher saß man abends häufiger zusammen, gab es sonnabends ein großes gemeinsames Frühstück, zu dem auch Freunde mitgebracht wurden. „Die Küche war proppevoll“, sagt der 62-Jährige. Heute gehe es „privater“ zu, seien die Hausbewohner mehr in ihren Räumen. „Damals war man sehr in Kontakt miteinander, wurde offener miteinander kommuniziert.“ Heute stehe Funktionalität und Zweckmäßigkeit im Vordergrund, gehe es bei Gesprächen beispielsweise mehr um die Vermietung der Gemeinschaftsräume. „Damals umwehte uns ein bisschen mehr von diesem Hippie-Geist.“
„Wir putzen auch mehr als früher – obwohl wir inzwischen sogar eine Putzkraft haben.“ Schließlich müssten die Gemeinschaftsräume, etwa die gut 20 Quadratmeter große Küche und die Bäder und WCs, schon wegen der Kurzzeitgäste sehr sauber sein. Das funktioniere – obwohl auf freiwilliger Basis geputzt werde – gut. „Früher wurden Dienste eingeteilt, mussten 15 Euro Strafgeld gezahlt werden.“
Ehemaliger Airbnb-Gast ist der jüngste ständige Mitbewohner in dem Haus
Der Begriff „Hippies“ stehe am Kirchwerder Hausdeich 180 heute für bunte Autos auf dem Hof, für die „alternative Insel“, die das Grundstück darstellt, meint Pajewski. Wann die erste WG in das Haus einzog, weiß der 62-Jährige nicht genau. „Es soll hier bereits Ende der 70er-Jahre eine WG gegeben haben. Irgendwann haben hier auch mal nur Frauen zusammen gewohnt.“
Erst vor Kurzem ist ein neuer Mitbewohner eingezogen, ein Lehrer, Anfang 50. „Er kannte das Haus, war hier Airbnb-Gast.“ Ansonsten wird in WG-Zimmer-Foren im Internet annonciert, sobald ein Mitbewohner ausziehen möchte. „In meiner Zeit hier habe ich mehr als 150 Interessenten erlebt“, sagt Pajewski.
Guten Draht zu früheren Mitbewohnern: „Uns verbindet eine gute gemeinsame Vergangenheit.“
Unter seinen Mitbewohnern, unter denen sich immer auch „bunte Leute“ befanden, habe es so manche hitzige Debatte gegeben, „etwa, als wir Ratten auf dem Dachboden hatten“. Damals, in der zweiten Phase, sei die WG in zwei Lager gespalten gewesen: „Tierfreunde und Rattenjäger“. Er selbst habe die Situation entspannt gesehen, gehörte also zu den Tierfreunden. Seine „Gegner“ fürchteten eine Ausbreitung der Viecher, etwa in den Vorratsraum.
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„Dann haben gut verdienende Mittvierziger eifrig recherchiert und nach Quellen gesucht, um die Wirksamkeit von Bekämpfungsmaßnahmen belegen zu können.“ Sogar eine Wildkamera sei installiert worden. „Das Ratten-Foto wurde dann hochgeladen und im WG-Verteiler verschickt, außerdem ein Kammerjäger engagiert.“ In dessen Fallen sei dann aber nur eine Maus gefunden worden. „Die Ratten haben sich von selbst verflüchtigt, nachdem wir den Dachboden aufgeräumt hatten.“
Bewerber sind in der Regel zweimal zu Gast: Einmal, um sich umzusehen, und mit den Bewohnern zu sprechen, die gerade im Haus sind. Meist folgt ein zweiter Termin, an dem alle WG-Mitbewohner da sind. „Es gab schon immer ein Vetorecht. Wenn nur ein Bewohner gegen den Bewerber ist, kann er nicht einziehen.“ Mit einigen früheren Mitbewohnern ist Pajewski noch immer befreundet. „Uns verbindet eine gute gemeinsame Vergangenheit.“