Bergedorf-West. Zorn richtet sich, wie schon in Lohbrügge-Nord, gegen den Energieversorger. Hohe Rechnungssummen schocken viele Bewohner.
Da hat sie sich gerade wieder aufgerappelt, die 86-jährige Edith W.. Nach drei Schlaganfällen ist die Rentnerin zwar zum Pflegefall geworden, doch auf dem Weg der Besserung. Auch weil ihr Sohn Osman (44) vorübergehend mit in die Drei-Zimmer-Wohnung in der fünften Etage in eines der für Bergedorf-West charakteristischen Hochhäuser am Ladenbeker Furtweg gezogen ist, um sich um die Mama zu kümmern. Doch das, was da letztens im Briefkasten lag, ist ein neuer Tiefschlag, diesmal allerdings ein finanzieller: Die ältere Dame hat für das Jahr 2022 eine sehr hohe Jahresabrechnung des Energielieferanten E.on erhalten – wie so viele aus dem Arbeiterstadtteil, der von einem mit Gas befeuerten Fernheizkraftwerk und einem weiteren Blockheizkraftwerk versorgt wird. In der Regel fordert E.on jetzt Summen im Bereich von 500 bis 2000 Euro.
Das kennen Fernwärmekunden aus Lohbrügge-Nord nur zu gut. Sie kämpfen seit Herbst 2022 gegen aus ihrer Sicht vollkommen überhöhte Jahresabrechnungen und monatliche Abschläge, die E.on ihnen postalisch präsentierte. Der Kampf hat sich bisweilen gelohnt und die recht erfolgreiche Interessengemeinschaft Wir hervorgebracht. Aus alldem, anderen Interessengemeinschaften aus dem Bundesgebiet und mithilfe des Bundesverbands der Verbraucherzentralen wurde eine Sammelklage gegen das Versorgungsunternehmen initiiert, die unter anderem die hohen Forderungen obsolet machen könnte.
Bergedorf-West brodelt: Ärger über E.on-Abrechnungen
Doch richtig gezündet hat die Sammelklage gegen E.on noch nicht. Nicht mal 4000 deutsche Fernwärmekunden haben sich kostenlos registrieren lassen, etwa 300 davon kommen aus dem Lohbrügger Norden. Möglicherweise kommen nun weitere verärgerte Menschen hinzu, die erst kürzlich von der Klage erfuhren – die Menschen aus Bergedorf-West. Sie wissen: Nur wer sich registriert, kann bei einem erfolgreichen Verfahren der Musterfeststellungsklage vor dem Oberlandesgericht monetär profitieren (www.sammelklagen.de/eon/faq).
Einer, der für die große Klage die Werbetrommel in der Pförtnerloge Ladenbeker Furtweg 252 bis 256 rührt, ist Ali Simsek, Bürgerschaftsabgeordneter der SPD aus Lohbrügge Nord und somit selbst ein Betroffener. Durch seine Erfahrungen hat Simsek auch ein paar strategische Tipps für die etwa 40 Anwohner aus Bergedorf-West, die mehr zur Klage erfahren wollen. „Bezahlen Sie erstmal die Hälfte der Jahresabrechnung, um ein Mahnverfahren zu verhindern“, rät der Politiker – der aber selbst nicht vorhersagen kann, wie kulant E.on tatsächlich reagieren wird. Simsek blickt voraus, um die Leute auch zu beruhigen: „Vor den Abrechnungen 2023 brauchen sie sich keine Sorgen zu machen.“ Da greife der von der Bundesregierung verabredete „Fernwärmedeckel“ von 9,5 Cent pro Kilowattstunde.
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Hört sich für Nicole N. gut an. Doch prinzipiell ist 32-jährige, hochschwangere Anwohnerin seit dem E.on-Schreiben skeptisch. Sie bewohnt mit ihrem elfjährigen Sohn eine Zwei-Zimmer-Wohnung in der Siedlung. Sparsam, wie sie betont: „Ich brauche nicht viel zu heizen. Deshalb ist mir diese Abrechnung für vergangenes Jahr ziemlich unklar und macht mich wütend.“ 1500 Euro werden da für die Heilerziehungspflegerin aufgerufen, die erstmal Widerspruch eingelegt hat.
Das sagt der Energieriese zu der Situation in Bergedorf-West
Bei Rentnerin Edith W. sind es fast 1400 Euro, die E.on einfordert. Das entspricht der monatlichen Rente der 86-Jährigen. Osman W. findet das „nicht nachvollziehbar“. Zumal: Fast 800 Euro stehen als verbleibender Restposten aus 2021 in der neuen Rechnung. Doch hat sich Osman W. genau darum zuletzt gekümmert, Ratenzahlung mit E.on vereinbart. Natürlich hat der 44-Jährige ebenfalls Widerspruch eingelegt. Er arbeitet als Versorgungsassistent am BG Klinikum in Boberg und wird sichim Auftrag seiner Mutter auf alle Fälle an der Sammelklage beteiligen. Er appelliert an mehrere Tausend Siedlungsbewohner, es ihm möglichst schnell gleichzutun: „Großkonzerne dürfen nicht einfach so die Leute abziehen. Damit darf man sie nicht durchkommen lassen.“ W. weiß von vielen, die erstmal vorsichtshalber die hohen Beträge bezahlt haben, ohne ihren Protestmöglichkeiten zu kennen.
Im SerrahnEins (Serrahnstraße 1) soll es nach Ende der großen Ferien auch vier bis fünf Beratungstermine mit Politiker Simsek und Verbraucherschützern geben und die Möglichkeit, sich für die Klage zu registrieren. Voraussichtlich startet das Oberlandesgericht, bei dem die Klageschrift seit Ende 2023 vorliegt, zum Jahreswechsel 2024 auf 2025 mit dem Verfahren. Dem sieht E.on nach Angaben einer Sprecherin deshalb unbesorgt entgegen, „weil wir die Einschätzung des Klägers nicht teilen“. Alle Abrechnungen basierten auf Daten des Statistischen Bundesamts und sehen deshalb jederzeit einsehbar. Grundsätzlich bestehe aber für jeden Kunden die Möglichkeit, E.on-Mitarbeiter anzusprechen und mit ihnen die Rechnungen durchzugehen. Die Pressesprecherin kündigte des Weiteren an, dass das Unternehmen mit Edith W. aus Bergedorf-West Kontakt aufnehmen werde, um den Sachverhalt zu klären.