Lohbrügge. Heizkosten der Siedlung haben sich vervielfacht. Dabei stammt die Fernwärme aus einem Holzheizkraftwerk. Das sagen Versorger.
Der Schock sitzt tief: Seit voriger Woche haben die Bewohner des Lohbrügger Nordens ihre Heizkostenrechnungen für das vergangene Jahr mit den zu leistenden Vorauszahlungen vom Versorger E.on erhalten – und Empörung und Wut sind groß: Die monatlichen Kosten sind mehrheitlich um 150 bis 300 Prozent gestiegen, teilweise noch um ein Vielfaches mehr. In der Regel bedeutet das: 800 bis 2000 Euro an Nachzahlungen, 400 bis 850 Euro an monatlichen Abschlägen.
Das sorgt für Existenzängste und Unverständnis über die Höhe der Kosten in der Siedlung, in der zu 80 Prozent ältere Menschen wohnen. Denn: Etwa 7500 Haushalte aus dem Gebiet werden mit Fernwärme aus dem Holzheizkraftwerk (HHK) am Havighorster Weg versorgt. Wie auf der Rechnung angegeben, bedeutet das, dass die Energie zu 72 Prozent aus Holzabfällen, jedoch nur zu 22 Prozent aus Gas hergestellt wird. Der Rest sind Biomethan und Strom. Viele verstehen nun bei dem relativ geringen Gasanteil nicht, wieso die Summen so hoch sind.
Hohe Heizkosten: Lohbrügger Fernwärme-Kunden protestieren
Dr. Markus Kostron von der KWA Constructing GmbH, die das HHK in Lohbrügge betreibt, bedauert die Preisentwicklung für alle Kunden und bittet auch um Verständnis für den Vertragspartner E.on: „Die Übeltäter sind diejenigen, die E.on Gas liefern und daran reichlich profitieren.“
Warum die Rechnungen derart explodierten, leitet Kostron aus den Indizes für den Wärmepreis sowie für Holzprodukte zur Energieerzeugung im Jahr 2021 her. Während Holz laut Kostron „nur“ doppelt so teuer wurde, sei der Gaseinkaufspreis bis Dezember 2021 fast um das Sechsfache gestiegen. Und der Wärmepreis ist an den Gaspreis gekoppelt. Ein E.on-Sprecher ergänzt, dass sich das Unternehmern „Preisentwicklungen auf den Energiemärkten nicht entziehen“ könne. Der „Unmut“ der Kunden sei verständlich.
Tatsächlich ist der Fernwärmepreis dort seit jeher an den Gaspreis gekoppelt, erklärt E.on: „Die durch Holz erzeugte Wärme wird nach einem sogenannten Erdgasäquivalent berechnet, bei dem die Einkaufspreise an die Preisentwicklung von Erdgas gekoppelt sind“, so ein Sprecher. Diese Vereinbarung sei zu einer Zeit getroffen worden, „als Erdgas deutlich günstiger war als Holz“, davon hätten die Fernwärmekunden lange profitiert durch günstige Konditionen. Nun habe sich durch die Marktentwicklung der Effekt umgekehrt.
Heizkosten: 91-Jährige soll fast 2000 Euro nachzahlen
Diese Antwort genügt den Lohbrügger Kunden nicht. Stephan Pütz, der in seiner und den umliegenden Straßen Rechnungen dokumentiert und eine Liste mit fast 500 Unterschriften zusammengestellt hat, versuchte es unlängst bei der Verbraucherzentrale: „Die wollten mich gleich an die Schuldnerberatung weiter vermitteln“, berichtet er ungläubig. Mehrere Anwohner von Häußlerstraße, Schärstraße, Röpraredder, Binnenfeldredder, Perelstraße, Korachstraße und weiteren Straßen haben bereits schriftlich Widerspruch eingelegt oder wollen dies tun, spielen zudem mit Gedanken, ihre Einzugsermächtigung für den Energieversorger zurückzuziehen.
Auch dass die Kriegsfolgen wohl erst im kommenden Jahr voll auf die Energiekosten durchschlagen, beunruhigt viele, die auf Einladung von Pütz zur Häußlerstraße gekommen sind. Wie diesen Anwohner: „Wir sind alle Bezieher von Fernwärme, müssen das nehmen und sind denen quasi ausgeliefert.“ Patrick Jenß sagt: „E.on verdient sich mit diesem Holzheizkraftwerk dumm und dusselig.“ Dorothea Webs meint: „Es geht darum, dass die Leute das nicht bezahlen können. Dagegen muss etwas getan werden.“
Das findet auch Hanne-Lore Nissen. Die 91-Jährige kann sich noch sehr gut erinnern, als sie im Jahr 1968 in den Bungalow an der Häußlerstraße einzog. Damals kostete die Versorgung mit Gas 55 D-Mark im Jahr. Als die Rentnerin vergangene Woche den Brief von E.on öffnete, traute sie ihren Augen nicht: Sie allein muss nun zum Heizen ihres 90-Quadratmeter-Zuhauses ab 1. November 834 Euro monatlich (bisher 211 Euro) und als Nachzahlung bis zum 28. Oktober 1946,67 Euro bezahlen.
Um zu sparen: Sohn und Familie ziehen wieder ein
„Als ich das gelesen habe, bin ich fast umgefallen“, berichtet Hanne-Lore Nissen. Sie friere leicht, gibt die Lohbrüggerin zu, traut sich aber derzeit nicht, Wohnzimmer und Bad mit mehr als Stufe 2 zu heizen. Wer weiß denn schon, was die nächste Kostenabrechnung bringt?
Der Sorge vor weiteren Schockbriefen baut auch die 52 Jahre alte Arzu Junge vor – zumindest möchte die Bewohnerin eines Reihenhauses (90 Quadratmeter) am Fritz-Lindemann-Weg das nicht allein durchstehen. „Mein Sohn, meine Schwiegertochter und meine beiden Enkel ziehen vorübergehend aus Barmbek zu mir. Das machen wir, um die Rechnungen bezahlen zu können. Ich allein könnte es nicht“, sagt die Verwaltungsangestellte. Sie habe üblicherweise 170 Euro monatlich für Gas überwiesen. Jetzt sollen es 745 Euro monatlich plus die Nachschlagszahlung von 1487 Euro sein.
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Dabei bleibt die Heizung im Haus der 52-Jährigen kalt. Arzu Junge macht zunächst einmal nur den Kamin im Wintergarten an, hofft, dass die Wärme durch das gesamte Haus zieht. Der Geschirrspüler werde nun eben nur alle zwei bis drei Tage angestellt – um Energie zu sparen. Wie lange Junge sich ihr Haus teilen wird, bleibt ungewiss: „Bis sich die Energiekosten beruhigen.“
Heizkörper abgedreht, maximal zweimal pro Woche wird geduscht
Ähnlich behutsam mit ihrem Energiehaushalt muss Ingrid Ludwig umgehen. Die 68-Jährige lebt allein in einer 2-Zimmer-Wohnung (50 Quadratmeter) der Saga und schränkt sich stark ein: Maximal ein- bis zweimal die Woche darf warm geduscht werden, nicht ein Heizkörper ist aufgedreht. Vorher zahlte Ludwig mal 79 Euro monatlich für ihre Heizung, jetzt soll es viermal so viel pro Monat sein. Und dann die knackige Nachzahlung.
Die 68-Jährige stellt insgesamt die Preisentwicklung infrage: „Warum gibt es diese Entwicklung schon seit dem vergangenen Jahr? Da war doch noch kein Krieg.“ Ludwig weiter: „Ich hätte mir von E.on früher Ehrlichkeit über die Preise gewünscht“, sagt die Frau, die nun 317 Euro für Wärme allein bezahlen muss. Zwar sei eine Erhöhung bei vielen postalisch im September 2020 angekündigt worden, die Größenordnung blieb jedoch unklar – bis zur vergangenen Woche.
Anwohner planen Demonstration vor Holzheizkraftwerk
Hanne-Lore Nissen hat ihren Notfallplan entwickelt: „Ich muss an meine finanziellen Reserven gehen“, sagt die Frau mit kleiner Rente. Das Geld war eigentlich für ihre Kinder bestimmt, die davon irgendwann mal ihre Beerdigung bezahlen sollten. Nissen ließ den Brief vom 7. Oktober nicht unerwidert und hat direkt an die Geschäftsführung der E.on Energie Deutschland geschrieben. „Sie müssen sich irren, rechnen Sie lieber noch einmal nach“, sei der Tenor des Schriftstücks gewesen, „ich habe einfach so geschrieben, wie ich empfinde“.
Stephan Pütz und seine Nachbarn wollen ihren Energieärger größtmöglich öffentlich machen, auch an Fernsehstationen, über soziale Medien und an die Parteien der Bergedorfer Politik herantreten. Sollte sich in den nächsten Wochen nichts vonseiten der Versorgungsbetriebe tun, ist am 30. oder 31. Oktober ein Demonstrationsmarsch zum Holzheizkraftwerk geplant – inklusive Straßenblockade auf dem Reinbeker Redder.