Bergedorf. Mit der Alten Holstenstraße erhält auch Lohbrügge 1985 eine Bummelmeile. Aber bewähren sich die Pflastersteine zum Schnäppchenpreis?
Ein Schnitt mit der Schere von Bezirksamtsleitern Christine Steinert, und es ist geschafft. Das rot-weiße Band an der Kreuzung von Alter Holstenstraße und Ludwig-Rosenberg-Ring ist zerschnitten. Lohbrügge hat eine eigene Fußgängerzone. Die Zeremonie am Freitag, 26. April 1985, ist der Auftakt zu zehn Tagen Feierlichkeiten, wie die Bergedorfer Zeitung am folgenden Sonnabend auf ihrer Titelseite verkündet. Unstetes Aprilwetter kann den Lohbrüggern das Feiern nicht vermiesen.
Unsere Zeitung berichtet in den folgenden Tagen von 1300 Bergedorfern, die gemeinsam in den Mai tanzen. Von Modenschauen und Gokart-Rennen, von Auftritten der Musikstars Siw Inger und Toni Holiday. Ein Höhepunkt, der Tausende Zuschauer auf den Sander Markt lockt, ist das große Schweinerennen. Wildschweine, Hängebauchschweine und ungarische Wollschweine flitzen gemeinsam die 50 Meter lange Piste um die Wette.
Lohbrügge feiert die Eröffnung der neuen Fußgängerzone
Der Weg zur „Lohbrügger Bummelmeile“, so die gern genutzte Formulierung der bz in diesen Tagen, war ein langer und mühsamer. „Froh bin ich, dass diese Fußgängerzone, die um die zwanzig Jahre diskutiert wurde, endlich fertig ist“, sagt Bezirksamtsleiterin Steinert bei der Einweihung. Die Geschichte der Straße, die sich über Lohbrügge und Bergedorf erstreckt, erzählt unsere Zeitung in einer zehnteiligen Serie von Chefreporter Heinz Blumenthal, gewissermaßen als Countdown zur großen Eröffnungsfeier.
Der bz-Redakteur blickt zurück auf 450 Jahre Geschichte der Alten Holstenstraße in Lohbrügge, die allerdings den Löwenanteil ihrer Existenz schlicht als Große Straße bekannt war. Als solche war sie Teil einer Verbindung zwischen Hamburg und Berlin und bildete die Keimzelle der Gemeinde Sande. Wie der Name es schon erahnen lässt, war es kein attraktives Gebiet für Bauern, zwischen einem von Sand verwehten Dünengelände und der sumpfigen Niederung der Bille in Bergedorf. Stattdessen siedelten sich entlang der Straße Ende des 16. Jahrhunderts Fuhrleute und Handwerker an, die vom Verkehr in Richtung Berlin profitierten und Dienstleistungen anboten – darunter auch „die schweren Kaufmannswagen der Hamburger Pfeffersäcke durch den Sand zu ziehen“, wie Heinz Blumenthal schreibt.
Alte Holstenstraße wird zur Verkehrsader
Das spätere Lohbrügge wuchs mit der Zeit, wegen des 1864 von Geesthacht nach Sande umgezogenen Bergedorfer Eisenwerks und anderer Industriebetriebe. Redakteur Blumenthal erinnert immer wieder an die Rivalität zum Bergedorfer Nachbarn und die Streitigkeiten. Sowohl zwischen den Obrigkeiten – Lübeck und Hamburg auf Bergedorfer Seite, den Holsteiner Grafen und Dänen auf Sander/Lohbrügger Seite – als auch zwischen rauflustigen Jugendbanden.
Mit dem Wachstum des Ortes Lohbrügge und der Industrialisierung nahm auch der Verkehr auf der Großen Straße zu, eine Entwicklung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg drastisch beschleunigte. Da gehörten Straße und Ortschaft aufgrund des 1938 umgesetzten Groß-Hamburg-Gesetzes der Nazis schon längst zur großen Hansestadt, und die Verkehrsader hieß Alte Holstenstraße. „Allerdings gab‘s da noch ein Zwischenspiel, über das heute zwar niemand mehr gern spricht: Für kurze Zeit wurde aus der Großen Straße die Hermann-Göring-Straße“, ruft bz-Schreiber Blumenthal in der Ausgabe vom 12. April in Erinnerung.
Die Alte Holstenstraße erblühte jedenfalls in der Nachkriegszeit, vor allem weil in der Umgebung – trotz etlicher Defizite einer selbstverliebten Stadtplanung im Bergedorfer Rathaus – mächtig Wohnraum geschaffen worden war. Doch das bedeutete auch: „Der Autoverkehr wuchs und wuchs. Die Staus reichten vom Weidenbaumsweg in Bergedorf bis weit über den Lohbrügger Markt. Erst der Bau der Bergedorfer Straße brachte eine Entlastung (...) Nun ging man daran, der alten Einkaufsstraße mit den anerkannten Fachgeschäften ein neues Gesicht zu geben und sie attraktiver zu machen“, zitiert Blumenthal die Erinnerungen des Lohbrügger Bürgers Richard Krell.
Helmut Schmidt legte den Grundstein für den Umbau des Stadtteils
Jahrelang kam die Bezirkspolitik jedoch nicht so recht in die Gänge. Immer wieder warfen die Verantwortlichen den B-Plan Lohbrügge 10 über den Haufen. Es gab Streitereien, wie groß das Angebot an Ladenflächen in der Lohbrügger Einkaufsstraße werden sollte. Ehrgeizige Pläne, wie für eine vollständig überdachte und klimatisierte Fußgängerstraße, scheiterten. „Es ist im Grunde müßig, noch darüber nachzusinnen, ob wo dabei gekunkelt wurde“, lautet das Fazit von bz-Autor Heinz Blumenthal am 17. April. 1977 segnete die Hamburger Bürgerschaft den B-Plan jedenfalls ab, nachdem er bereits 1965 das erste Mal von der Bezirksversammlung beschlossen worden war. Den Grundstein legte 1978 Bundeskanzler Helmut Schmidt.
Selbst kurz vor der Eröffnung macht die eigentlich schon fertig gestellte Fußgängerzone noch einmal Ärger. „Billiges Pflaster muß in Lohbrügge erneuert werden“, titelt die Bergedorfer Zeitung am 6. März. Eigentlich hatte Bergedorf Granitplatten für die Bummelmeile verbauen wollen, wie Bezirksamtsleiterin Christine Steinert gegenüber unserer Zeitung beteuert. Doch die Hamburger Baubehörde kaufte billige Betonplatten ein. Vier Monate nach seiner Verlegung war der Bodenbelag zum Schnäppchenpreis bereits brüchig geworden.
Suba-Center soll Lohbrügge zusätzlich beleben
Die Fußgängerzone reicht den Lohbrüggern allerdings nicht. Nicht nur die Bürger, sondern auch die Einzelhändler fordern mit Vehemenz die Umsetzung des „Suba-Centers“. Das spätere Marktkauf-Center soll kaufkräftige Kunden in den Stadtteil locken und außerdem für Parkflächen sorgen. „Im Herbst muss der Bau des Einkaufszentrums spätestens beginnen, sonst können wir hier im alten Sande wieder Tannen pflanzen“, macht Wolfgang Schmahl, damals Vorsitzender der „Lohbrügger Fachgeschäfte“, am 31. März in der bz deutlich.
Die Arbeiten beginnen tatsächlich 1985, auch wenn die Bergedorfer Zeitung den offiziellen Baustart erst für den Februar 1986 vermeldet. Fertiggestellt wird das Shopping-Center im Jahr 1987. Da aus dem ehemaligen Sande bis heute kein Tannenwald geworden ist, kam das Projekt anscheinend nicht zu spät zur Rettung des Einzelhandels in Lohbrügge.
Anschlag auf Kernkraftwerk Krümmel: Otto Maak wird auf Gut Hasenthal Augenzeuge
Das Jahr 1985 hat für die Bergedorfer Zeitungsleser mit einer dramatischen Schlagzeile begonnen. Am 26. Januar titelt die Bergedorfer Zeitung „Anschlag auf Krümmel“. Der Nuklearunfall im amerikanischen Harrisburg liegt sechs Jahre zurück, die Katastrophe von Tschernobyl wird sich erst im nächsten Jahr ereignen. Tatsächlich ist das Geesthachter Kernkraftwerk unbeschädigt. Unbekannte haben lediglich zwei Hochspannungsmasten spektakulär zum Einsturz gebracht.
Otto Maak, Gutsherr von Gut Hasenthal, schildert der bz, wie er den Anschlag in den frühen Morgenstunden erlebt hat: „Ich hörte einen fürchterlichen Knall, stürzte ans Fenster und sah noch die weißbläulichen Lichtbögen, die von Mast zu Mast sprangen.“ Weil der Mast auf seine Stromleitung stürzt, fällt auf Gut Hasenthal der Strom aus. Das Kraftwerk Krümmel wird automatisch abgeschaltet. Die Betreiber beteuern in unserer Zeitung, dass das Werk auf solche Notfälle ausgelegt sei. Schon am Montag kann die bz verkünden, dass sich eine Gruppe von Atomkraftgegnern mit dem Namen GHWDS (Gruppe Hau Weg Den Scheiß) zu dem Anschlag bekannt hat.
Tragödie vom Heysel-Stadion schockiert Fußball-Europa
Zwei historische Sportereignisse beschäftigen die Menschen im Verbreitungsgebiet der Bergedorfer Zeitung im Sommer 1985. Den Auftakt macht eine Tragödie. Am 29. Mai treten der FC Liverpool und Juventus Turin im Brüsseler Heyel-Stadion zum Endspiel um den Europapokal der Landesmeister an. Eine Stunde vor Spielbeginn werfen Hooligans unter den Anhängern des englischen Fußballvereins zunächst Flaschen und Feuerwerkskörper auf die italienischen Fans. Dann stürmen Hunderte Liverpooler den eigentlich neutralen Nachbarblock, der aber voller Juventus-Anhänger ist.
Die Turiner Fans geraten in Panik und versuchen zu entkommen. In dem Chaos bricht eine Betonwand auf der Tribüne des maroden belgischen Stadions zusammen und begräbt zahlreiche Besucher unter sich. 39 Menschen sterben an diesem Tag, Hunderte werden verletzt. Um die aufgeheizte Stimmung zu beruhigen, wird das Endspiel tatsächlich angepfiffen. Das deutsche Fernsehen bricht die Übertragung ab. Der 1:0 Erfolg von Juventus Turin wird zur Randnotiz.
Boris Beckers Stern geht am Tennishimmel auf
„Es ist absolut grausam“, zitiert die bz HSV-Manager Günther Netzer im Sportteil. Rudi Michel, Chef des Südwestfunks, sieht das Ende der Europapokalwettbewerbe gekommen, genau wie der ehemalige französische Nationaltrainer Michel Hidalgo. In der Folge wird immer wieder der schließlich umgesetzte Ausschluss britischer Mannschaften vom Europacup gefordert.
Am 31. Mai zitiert die bz auch italienische Regierungsvertreter, die diplomatische Schritte gegen Gastgeberland Belgien fordern. Die Polizei habe während der Katastrophe versagt. Auf den Straßen Italiens bezeichnen Menschen die englischen Fans als „Bestien“ und „barbarische Horden“. Am 3. Juni meldet die Bergedorfer Zeitung vereinzelte antibritische Ausschreitungen in Italien.
Im Sommer verfolgen die Leser unseres Blattes dann gebannt, wie ein neuer Stern am Tennishimmel aufgeht. Der gerade 17 Jahre alte Boris Becker aus dem kurpfälzischen Leimen bei Heidelberg fällt schon im Januar durch einen Turniersieg in Portland auf. Im Sommer macht er dann beim Höhepunkt der Saison Furore und beginnt seinen Siegeszug in Wimbledon. „Welch ein Talent“, titelt die bz am 2. Juli, als Becker den Schweden Joakim Nyström bezwingt und ins Achtelfinale einzieht. „Niemand hätte dieses Match schöner, erregender, qualvoller inszenieren können“, beschreibt unser Blatt die enge Partie, in der Boris Becker seinen legendären Kampfgeist unter Beweis stellt.
Einen Tag später schlägt der Leimener den Amerikaner Tim Leconte, der eine Runde zuvor überraschend den Tschechen Ivan Lendl besiegt hatte. Danach schaltet das Tennistalent den Schweden Anders Jarryd aus, ehe im Finale der Amerikaner Kevin Curren wartet. Boris Becker siegt in vier Sätzen und ist am Montag, 8. Juli, auf der Titelseite der Bergedorfer Zeitung zu sehen. „Unglaublich. Boris Becker Tennis-König“ lautet die Schlagzeile.
Bergedorfer Zeitung trauert um Axel Springer
Die bz vergleicht Beckers Leistung mit den WM-Triumphen der Fußballnationalmannschaft 1954 und 1974 sowie den großen Erfolgen von Boxer Max Schmeling. „Becker entwich in die Welt der Philosophie, wo nicht mehr Beweisbares diskutiert wird. Becker ist kaum noch erklärbar, nicht seine Kraft, nicht seine Psyche, nicht sein Selbstvertrauen“, schwärmt unsere Zeitung leidenschaftlich – und mit einem vielleicht etwas löchrigen Verständnis von Philosophie. Recht hat der Autor allerdings mit seiner Überschrift „So veränderte Boris Becker die Tenniswelt.“ Tatsächlich löst der rotblonde Leimener einen jahrelang während Tennisboom in Deutschland aus.
Ein zumindest für die Redaktion der Bergedorfer Zeitung auch lokal bedeutsames Ereignis ist der Tod von Axel Springer am 22. September. Schließlich gehörte das Blatt schon seit 1970 zum Verlag des Medienmoguls – und das aus gutem Grund. Der Verleger hatte sein journalistisches Volontariat in Bergedorf absolviert und war angeblich stets ein treuer Leser seines alten Arbeitgebers geblieben. So prangt nun auch Springers Bild auf der Titelseite der bz, die Todesmeldung schwarz umrandet. „Unablässig mahnte der Verleger zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volk“, würdigt unsere Zeitung Springers politisches Erbe.
Einen Tag später finden sich die Reaktionen aus Politik und Gesellschaft, von Bundeskanzler Helmut Kohl genau wie von SPD-Chef Hans-Jochen Vogel. Der Sozialdemokrat will aber auch in diesem Moment nicht verschweigen, dass es „gegensätzliche Auffassungen über den Gebrauch gab, den der Verstorbene von seinem politischen Einfluss gemacht hat.“
Bergedorfer Astronom entdeckt Ungewöhnliches am Halleyschen Kometen
Eine überraschenden Bezug zu ihrer Heimat erfahren die Bergedorfer ausgerechnet bei der Ankunft eines kosmischen Besuchers. Der Halleysche Komet, der im Mittel alle 75,3 Jahre in Sichtweite der Erde kommt, nähert sich unserem Planeten. Die 82-jährige Ida Glahn aus Geesthacht kann den Himmelskörper im Dezember 1985 jedoch nicht vom Elbufer erspähen, wie die bz berichtet. Glahn hatte den leuchtenden Kometen als sechsjähriges Mädchen im Jahr 1910 bewundern dürfen, während sie am selben Fluss stand. Damals allerdings noch in Dresden.
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Während der verhangene norddeutsche Himmel Ida Glahn noch einen Strich durch die Rechnung macht, kann der Astronom Lubos Kohoutek die kosmische Erscheinung durch ein Teleskop im spanischen Calar Alto beobachten. Kohoutek, der eigentlich Hauptobservator der Bergedorfer Sternwarte ist, sieht dabei, wie der Halleysche Komet eine ungewöhnliche Menge Gas und Staub von sich wegschleudert – ein Ereignis, das den Himmelskörper heller erstrahlen lässt. Auch die optischen Gerätschaften im spanischen Observatorium stammen übrigens ursprünglich aus Bergedorf, wie die bz stolz vermerkt.
Zum Jahresende wirft die bz einen Blick in die fern erscheinende Zukunft des Jahres 2000. In Reinbek fragt unsere Zeitung junge Menschen, wie sie sich das Weihnachtsfest um die Jahrtausendwende wohl vorstellen. Optimistisch sind die jungen Reinbeker nicht. „Ich halte es für möglich, daß bis zum Jahr 2000 die Natur zerstört ist“, sagt die 19-jährige Fatima Jean-Baptiste. Der gleichaltrige Axel Freudig befürchtet, dass es bis zu diesem Jahr „vielleicht gar kein Weihnachtsfest mehr geben wird.“ Plastikbäume und Roboter als Geschenke wirken da fast schon wie optimistische Prognosen.