Bergedorf. Zunächst wenig geliebt, dann mehr als beliebt: Bezirksamtschef Lindemanns Tod schockt Bergedorf 1978. Auf den „Kaiser“ folgt ein König.
58 Jahre ist kein Alter. Auch wenn der Mann damals schon seinen unmittelbar bevorstehenden beruflichen Ausstieg angekündigt hatte. Wilhelm Lindemann wollte sowieso nicht länger als bis 60 im Amt bleiben. Seine Nachfolger sollten doch auch noch etwas zu tun haben, soll Bergedorfs Bezirksamtschef geflachst haben. Doch seine 16 sehr erfolgreichen Jahre als Bergedorfs „Bürgermeister“ endeten am 21. April 1978 sehr abrupt, völlig unerwartet, für viele sehr schmerzhaft. „Unerwartet“ aufgrund des recht jungen Alters und „nach langer schwerer Krankheit“ sei der Bezirksamtsleiter verstorben, weiß bz-Lokalreporter Heinz Blumenthal in seiner Titelgeschichte vom 22. April zu berichten. Der „Fürst von Bergedorf“ ging viel zu früh, dafür tritt in diesem Jahr 1978 ein wesentlich jüngerer Emporkömmling in Erscheinung.
„Ich verneige mich in großem Respekt vor diesem Mann.“ Das kommt von allerhöchster Stelle – leider nur nach dem Ableben des Adressaten. Selbst Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) spricht über den verstorbenen Parteikollegen von einem „guten Freund“, wie er exklusiv auf der Titelseite der Bergedorfer Zeitung formuliert. Und noch einiges mehr hat der Kanzler zu sagen. Zum Beispiel, wann ihm Lindemann erstmals aufgefallen sei, und zwar in seiner Finkenwerder Leitungsrolle und als guter Manager der Flutkatastrophe im Frühjahr 1962. „Ich habe damals ein bisschen nachgeholfen“, gesteht Schmidt nun, „dass der Senat ihn am 1. Mai 1962 zum Bezirksamtsleiter in Bergedorf bestellt hat.“ Schmidt war damals Innensenator. Die ultimative Lobhudelei des deutschen Regierungschefs von damals geht noch weiter. Wilhelm Lindemann sei es gewesen, der den einzigartigen Bergedorfer Charakter herausgearbeitet habe: „Eine Mischung aus liebenswürdiger Individualität, guter städtebaulicher Architektur und grüner Lunge für erholungsbedürftige Großstädter.“
„Fürst von Bergedorf“: Hilfe von einem deutschen Staatsmann
Der Weg Wilhelm Lindemanns zu einem Liebling der Bergedorfer soll aber nicht zwingend vorgezeichnet gewesen sein. Reporter Heinz Blumenthal kommentiert im Nachruf, dass es zuerst „viele Neider“ gegeben habe, weil die Sturmflut den doch relativ unbekannten Lindemann „auf den Schultern des Innensenators“ nach Bergedorf geschwemmt habe: „Einen Unbekannten, den hier keiner kannte – und auch keiner wollte.“ Nicht eben redselig, wie Blumenthal vom ersten Zusammentreffen mit Lindemann aus dem Frühjahr 1962 weiß.
Doch der bz-Korrespondent erinnert sich auch, wie der Fremdling äußerst schnell zurechtkam. Bei seinem ersten öffentlichen Auftritt am 1. Mai 1962 habe der Bezirksamtschef nach Kundgebungen und Ansprachen vor Größen aus Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften „ungeniert“ platt gesprochen. „Das wärmte an“, so Heinz Blumenthal. Was weiterhin gut ankam: seine Art, weniger nach seinem sozialdemokratischen Parteibuch zu entscheiden, sondern städtische Dinge auch mal nach eigener Denke anzugehen. So geschehen bei der Entwicklung, Planung und Umsetzung von Bergedorf-West und Lohbrügge-Nord, dem Einkaufsparadies Sachsentor, der Fachhochschule, dem Haus im Park. Dieses Vertrauen auf die eigene Entscheidungsfreudigkeit soll ihm schnell die Titel als „Fürst von Bergedorf“ und „Kaiser Wilhelm“ eingebracht haben. Oder eben „Bürgermeister“, was ja per se nicht der korrekten Beschreibung der Tätigkeit Lindemanns entsprach, aber: „Er fühlte sich als Vater seiner Stadt“, so schreibt es Heinz Blumenthal. Zu seiner Beerdigung auf dem Ohlsdorfer Friedhof am 27. April erscheint nicht nur Hamburgs Bürgermeister Hans-Ulrich Klose (SPD) und weitere Politprominenz, sondern sind auch viele Bergedorfer Institutionen und Bürger anwesend.
Der Kaiser ist tot, es lebe der König
16 Jahre war Lindemann Bergedorfs „Bürgermeister“. Noch 1977 hatte er sein 40-jähriges Dienstjubiläum im hanseatischen Verwaltungsdienst gefeiert. Redakteur Blumenthal indes titelt am 16. Juni schon sehr gewiss: „Neuer ,Bürgermeister‘ in Bergedorf wird Jörg König“. Diese Meldung basiert auf der bevorstehenden Nominierung Königs von der örtlichen Delegiertenversammlung wenige Tage darauf. Des Kandidaten Wahl am 13. Juli von der Bezirksversammlung gilt auch einen guten Monat vorher als gesichert, weil die Sozialdemokraten, zu denen der damals 35-Jährige gehört, seit den Bezirkswahlen am 4. Juni wieder die absolute Mehrheit im Bergedorfer Rathaus besitzt.
Und tatsächlich wird König allein durch die 22 Stimmen seiner Partei (die CDU votiert komplett gegen ihn, die beiden FDP-Abgeordneten enthalten sich) in die neue Funktion gewählt. Am 19. Juli bezieht er sein Arbeitszimmer. Anfang September hat König dann bei den Partnerschaftstagen mit der französischen Metropole Marseille einen seiner ersten öffentlichen Auftritte. Übrigens hatte die Bergedorfer SPD mit dem Wahlsieg mit Christine Steinert (38) zum ersten Mal eine Frau an die Fraktionsspitze befördert. Steinert wiederum wird König 1983 als Verwaltungschefin folgen.
Warum Jörg Königs Installierung als Bezirksamtschef erstmals anders war
König, examinierter Pädagoge aus Nettelnburg, geht mit neuen Eckdaten in die bezirkliche Führungsposition. Durch die Reform des Bezirksverwaltungsgesetzes von 1971 ist seine Amtszeit erstmals auf sechs Jahre beschränkt. Er musste sich zudem als „Wahlbeamter“ von der Bezirksversammlung nominieren und wählen lassen. Lindemann wäre noch als Beamter auf Lebenszeit durchgegangen.
Bis dato hatte sich Jörg König als Beauftragter für Wirtschaft im Bezirksamt einen Namen gemacht. König erlebt unter anderem mit, dass die Bergedorfer Maschinenfabrik Robert Blohm am 17. März pleite und somit 250 Arbeitsplätze auf einen Schlag verloren gehen. In einer bz-Umfrage zum Blohm-Konkurs unter Politikern und Wirtschaftsexperten soll auch der damalige SPD-Mann zu Wort kommen, weilt aber zu der Zeit im Urlaub.
Industriewerke gehen pleite – Bergedorf auf dem Weg zur Schlafstadt?
Gut hingegen, dass ein benachbarter Betrieb Verwendung für einen Großteil der Arbeitskräfte findet: „Hauni nimmt Blohm-Leute“ heißt die Titelmeldung der Bergedorfer Zeitung, weil sich Unternehmer Kurt A. Körber frühzeitig die Dienste von 165 Personen sichert. Trotz der Bemühungen aus der Bürgerschaft und der internationalen Wirtschaft wird zunächst am 19. April eine denkbare Rettung als gescheitert erklärt. Die Hauni wiederum überrascht am 12. Mai mit dieser Ankündigung: „Körbers neues Hauni-Angebot“ umfasst nun auch die Übernahme von Gebäudeteilen, Lagerbeständen und Betriebsmitteln mit dem Hintergrund, die Blohm-Produktionsstätte weiter aufrechtzuerhalten. Das wird vertraglich am 26. Mai fixiert.
Mit den Deutschen Kap-Asbest-Werken gibt zudem ein weiterer großer Bergedorfer Arbeitgeber am 10. Oktober bekannt, dass die Produktionsstätte „spätestens im Sommer 1979“ an der Kampchaussee geschlossen wird. 190 Mitarbeiter verlieren ihren Job. Dieses Aus sei unausweichlich, hält auch die Hamburger Wirtschaftsbehörde vor, denn es handele sich hierbei nicht um „ein Finanz-, sondern um ein Wettbewerbs- und Absatzproblem“, wie unsere Zeitung schreibt. Weitere Recherche ergibt, dass das Unternehmen seit 1971 jährlich Verluste machte. Die Firmenpleiten in der Region veranlassen die Redakteure von damals am 13. Oktober zu dieser Fragestellung: „Bergedorf auf dem Weg zur Schlafstadt?“
Kepa wird zu Karstadt – und alle kommen
Wohl nicht so ganz, denn es gibt auch Zuwächse: Mercedes Mühle weiht am 6. Februar seinen großzügigen Neubau am Lehfeld ein und bietet nun auch einen Lkw-Wartungsservice an. Auch die Bergedorfer Innenstadt wird belebt: Im ehemaligen Kepa-Gebäude eröffnet am 27. April Karstadt, was die Bergedorfer schon am ersten Tag in Massen anzieht. Mehr als 10.000 Kunden sollen es am ersten Tag gewesen sein, die insbesondere Artikel aus der Damen-Konfektion, Sport- und Angelsachen, Taschenbücher, Fotozubehör und Badeartikel nachfragen. Das Haus war, wie unsere Zeitung berichtet, innerhalb weniger Wochen in einer „generalstabsmäßig geplanten Aktion“ auf Warenverkauf umgebaut worden: 1900 Quadratmeter Verkaufsfläche, 130 Beschäftigte, rund 20.000 Artikel. Schon zuvor war hier mit Kepa ein großes Kaufhaus ansässig, „das größte Groschenladen-Unternehmen Deutschlands“, wie der Volksmund sagt. 1977 wurde die Auflösung des Unternehmens beschlossen und die Häuser wie in Bergedorf zu Karstadt-Spiel- und Sporthäusern umgewandelt.
Das Jahr 1978 startet für mehrere Yachtbesitzer gleich mit mehreren Schocknachrichten: In der Silvesternacht zerstört ein Feuer sieben Motorboote im Hafen Oortkaten. Für die Ermittler gilt es als sehr wahrscheinlich, „daß ein Brandstifter das Feuer gelegt hat“, wie die Bergedorfer Zeitung schreibt. Das sei beispielsweise aus der Abgelegenheit der Brandstelle ersichtlich. In der Ausgabe vom 4. Januar wird der plötzliche Wintereinbruch einem Renault-Fahrer aus Peru zum Verhängnis. Auf der B5 nur wenige Meter vom Unfallkrankenhaus Boberg entfernt „zermalmt“ ein aus dem Gegenverkehr ins Rutschen geratener Laster den Pkw mit vier Insassen. Der Fahrer Renaldo B. stirbt, die anderen drei Mitfahrenden werden mehr oder minder schwer verletzt.
Scheußlich: Gehörloser Rentner (75) überfallen und übel zugerichtet
Am 16. Mai kommen zwei Kleinkinder (2, 3) bei einem Wohnungsbrand in der Lauenburger Unterstadt ums Leben. Offenbar war zuvor ein Ölofen in Brand geraten. Auch der nächtliche Raubüberfall zweier brutaler Gangster in Kröppelshagen auf einen gehörlosen Rentner (75) schockt am 4. Juli die Leser. Die ungebetenen Gäste schlagen den hilflosen Senior nieder und stehlen 1500 Euro Bargeld sowie zwei Eheringe. Die bz besucht das Überfallopfer danach im Geesthachter Krankenhaus : „Sein Gesicht ist von zahllosen Blutergüssen entstellt, das rechte Auge ist zugeschwollen, alle Schneidezähne hat er verloren“, schreibt die bz am 5. Juli über einen übel zugerichteten Willi L..
Selbstverständlich gibt es aber auch wieder die jedes Mal überragenden Lebensretter-Geschichten: „Diese beiden Mädchen retteten Hans-Peter (8) vor dem Ertrinken“, titelt die bz am 16. August und beschreibt das glückliche Schicksal eines Lauenburger Jungen. Der Achtjährige, der noch nicht schwimmen kann, wird von einer 13- und einer 14-Jährigen vor dem sicheren Ertrinkungstod in der Elbe gerettet. Unsere Zeitung ist außerdem dabei, als Eugen Bolz den bei einem Autounfall fast tödlich verunglückten Axel Kröger im Krankenhaus besucht („Danke, Eugen Bolz!“, Titel vom 10. Februar). Kröger war am 9. Januar 1978 auf der Strecke Aumühle-Dassendorf mit seinem Auto schwer verunglückt und wurde nach 14 Stunden endlich von seinem Lebensretter Bolz aus dem Wrack befreit. „Zwei Stunden länger hätte ich nicht überstanden, haben die Ärzte gesagt“, schildert das Unfallopfer die traumatischen Erlebnisse der kalten Winteracht.
Erst ein Dunkelmann vertreibt die Lohbrügger Dunkelheit
Glück im Unglück zudem für die Bewohner Bobergs am 30. August: Ein Blitz trífft das Heck eines Jumbo-Jets, Plastikteile stürzen auf das Wohngebiet herab. Verletzte gibt es aber weder in Boberg noch unter den Flugpassagieren, die Maschine der Japan Airlines landet mit etwas Verspätung auf dem Hamburger Flughafen zwischen.
Lohbrügge muss im Winter des Jahres 1978 wegen veralteter Leitungen 14 Stunden ohne Strom auskommen, und viele Bürger bibbern. Grund dafür ist ein Kurzschluss in einem Verbindungsstück an der Leuschnerstraße. Was massive Auswirkungen hat: 200 Haushalte im Lohbrügger Norden sind betroffen, ältere Mitbürger erleiden Unterkühlungen, zwei Frauen müssen aus einem steckengebliebenen Fahrstuhl befreit werden, das Warenangebot in den Supermärkten wie etwa beim Edeka-Markt am Binnenfeldredder wird im Kerzenschein ausgeleuchtet. Der Lohbrügger Roland Gutsche ist total auf der Palme, will eine Klage gegen den Stromlieferanten HEW initieren: Bei ihm zu Hause sterben mehrere Zierfische, werden zudem zwei Lachse und sechs Rinderfilets im ausgefallenen Kühlschrank ungenießbar. „Ein Bergedorfer Goliath hat sich zum Kampf gegen Goliath HEW gerüstet“, so die bz vom 12. Januar. Kein Witz: Der Monteur, der den Schaden behebt, heißt laut unserer Zeitung vom 9. Januar Günther Dunkelmann.
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Ein bekanntlich auch finsteres Jahr für den Fußball – schon gleich zum Jahresstart: Der damaligen HSV-Ikone Kevin Keegan knallen am Silvestertag bei einem Freundschaftskick beim Amateurklub VfB Lübeck sämtliche Sicherungen durch. Der England-Star der Rothosen schlägt tatsächlich nach nicht einmal fünf Minuten Spielzeit seinen Gegenspieler k.o., nachdem der ihn gleich zu Anfang hart attackiert hat. Den frühzeitigen Knockout holt sich auch der amtierende Fußball-Weltmeister beim Turnier in Argentinien ab. Oder besser gesagt die viel zitierte „Schmach von Cordoba“, als die DFB-Elf am 21. Juni desolat und völlig überraschend durch eine 2:3-Pleite gegen Österreich in der Zwischenrunde ausscheidet.