Hamburg. Die RAF mordet und setzt Helmut Schmidt unter Druck. Angst bestimmt den Alltag. Eine Bergedorferin hält dagegen – mit Kronjuwelen.
Silvester 1977 dürften viele Bundesbürger das zurückliegende Jahr mit einem Gefühl großer Erleichterung verabschiedet haben. Wie kein anderes Nachkriegsjahr zuvor stand 1977 im Zeichen der Angst und des Schreckens – was sich auch in der Region bemerkbar machte. Der Terror der Roten Armee Fraktion, kurz RAF, hatte die Republik und ihre Menschen verändert. Bundeskanzler Helmut Schmidt, 1977 seit drei Jahren im Amt, musste im „Deutschen Herbst“ schließlich brutale Entscheidungen treffen.
Den Auftakt dieses blutigen Terrorjahres markierte die Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback in Karlsruhe. Am 7. April 1977 wurde der Chefankläger mit seinem Fahrer und einem Personenschützer in seinem Auto mit 15 Schüssen brutal ermordet. Die Kugeln wurden von einem Motorrad aus abgegeben, das an einer Ampel neben dem Auto hielt.
150 Jahre bz: 1977 bewegt der Terror der RAF auch Bergedorf
Es war der Beginn einer neuen Qualität des Terrors. Von den Tätern fehlte zunächst jede Spur. Entsprechend titelte die Bergedorfer Zeitung in ihrer Osterausgabe in großen Lettern von „Alarmfahndung“ und veröffentlichte Fotos der drei Hauptverdächtigen: Günter Sonnenberg, Knut Folkerts und Christian Klar. Die drei zählten zur zweiten Generation der Roten Armee Fraktion und kannten sich aus einer Wohngemeinschaft in Karlsruhe.
Die linksextremistische Vereinigung hatte sich 1970 gegründet und wird bis zu ihrer Selbstauflösung 1998 für 33 Morde an Führungskräften aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung, deren Fahrern, an Polizisten und Zollbeamten und Unbeteiligten verantwortlich gemacht. Wie eng die Täter auch mit dem Großraum Bergedorf verbunden waren, wurde Jahre später mit einer spektakulären Verhaftung im Sachsenwald deutlich.
Zwei der Hauptverdächtigen konnten schon kurz nach der Ermordung Bubacks festgenommen werden: Zuerst Günter Sonnenberg, der am 3. Mai von der Polizei in Singen überwältigt wurde. Knut Folkerts wurde im September 1977 in den Niederlanden festgenommen und dort zu 20 Jahren Haft verurteilt, später in Deutschland erneut zu zweifacher lebenslanger Freiheitsstrafe. Christian Klar allerdings gelang es, unterzutauchen – womöglich schon gleich nach der Tat im Großraum Bergedorf: Laut bz wurde der Terrorist am 26. April 1977 in Hamburg gesichtet.
Nach Mord an Siegfried Buback: Trauermarsch durch Bergedorf
Die Bestürzung über den brutalen Mord an Siegfried Buback seinen Begleitern war groß. Auch in Bergedorf: „Dieser Mord trifft uns alle“, titelte die bz am 14. April, dem Tag des Staatsbegräbnisses für die Ermordeten. Das Zitat stammte aus der Trauerrede des Bergedorfer CDU-Bundestagsabgeordneten Stephan Reimers, die er während einer Gedenkstunde auf dem Bergedorfer Markt hielt.
Rund 100 Teilnehmer aus unterschiedlichen politischen Lagern beteiligten sich und zogen anschließend als Trauermarsch durch die Bergedorfer Innenstadt. „Jedoch nach der Kundgebung kam es zu einer privaten Debatte zwischen den Christ- und Sozialdemokraten über die gesetzgeberischen Folgerungen, die aus dem Attentat zu ziehen seien“, heißt es im Bericht unserer Zeitung.
Bergedorfs Junge-Union-Chef Geerd Dahms beschimpft und verprügelt
Eine Debatte, die nicht auf Bergedorf beschränkt bleiben sollte. Die problematische Sicherheitslage im Land und die Frage, wie mit den Terroristen umgegangen werden sollte, lösten eine tiefe Vertrauenskrise in der Bonner Regierung aus. Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) sprach von „Verschleiß“, SPD-Vorsitzender Willy Brandt (SPD) brachte einen Regierungswechsel ins Gespräch. Die CDU/CSU-Opposition mit Helmut Kohl pochte auf härtere Gesetze und brachte sogar die Wiedereinführung der Todesstrafe ins Spiel. Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) erhielt mit dem Missbilligungsantrag der CDU/CSU einen Tadel, die Regierung war geschwächt.
Viele Bergedorfer werden die heftigen Debatten mit besonderem Interesse verfolgt haben, denn schließlich war Bergedorf Schmidts Wahlkreis. Hier meldete er sich regelmäßig und persönlich in der bz-Kolumne „Unser Mann in Bonn“ zu Wort. Wie aufgeladen die Stimmung war, zeigt eine Meldung unserer Zeitung von Ende Mai 1977. Nur elf Tage nach seiner Wahl zum neuen Vorsitzenden der Jungen Union wurde der 19-jährige Bergedorfer Geerd Dahms von Linksradikalen auf offener Straße verprügelt und als „Faschistensau“ beschimpft.
Lisa Marks holt die „Kronjuwelen“ zu Möbel Marks an den Mohnhof
Doch nicht alles drehte sich in Bergedorf im Frühjahr 1977 um den Terror: Über einen ungewöhnlichen Großeinsatz der Polizei am Mohnhof weiß die „bz“ unter der Überschrift „Die Kronjuwelen sind da“ ebenfalls in der Osterausgabe zu berichten. Unter großem Polizeiaufgebot waren Nachbildungen wertvollster Kronjuwelen aller Königshäuser Europas nach Bergedorf gebracht worden – und wurden für zehn Tage im Möbelhaus Marks ausgestellt.
Darunter fanden sich unter anderem die mit Diamanten und Perlen besetzte Krone der Kaiserinnen von Österreich und Ungarn, die Hauskrone der englischen Königin Viktoria und der persischen Kaiserin Farah Diba, die mit 1469 Diamanten, 36 Smaragden und genauso vielen Rubinen und 105 Perlen besetzt war. Die Bergedorfer strömten in das Möbelhaus. Insgesamt sahen sich 15.000 Besucher die Juwelen an, und Unternehmenschefin Lisa Marks lächelte zufrieden „als erstes gekröntes Haupt in Bergedorf“ in die Kamera.
Mike Krüger singt über Geesthacht – und der NDR will‘s nicht spielen
Für Schmunzeln sorgte in den Apriltagen auch Schauspieler und Komiker Mike Krüger. Der ließ sich am Ortsschild Geesthacht für die Bergedorfer Zeitung ablichten – und das nicht ohne Grund. Krüger war sauer, denn der NDR wollte partout seinen neuen Song „Auf der Autobahn nachts um halb eins“ nicht im Radio spielen.
Das bedauerten vor allem die Geesthachter, denn der Song hätte ihre Elbestadt bekannter gemacht. Im Refrain heißt es nämlich: „Wer noch nie an der Auffahrt Geesthacht einen Auffahrunfall gemacht, kann Steuern sparen“. Zugleich gestand Krüger dem Reporter, dass er nicht so genau wisse, wo diese Auffahrt Geesthacht eigentlich liege und an die Stadt nur „schwache Erinnerungen“ habe.
HSV holt mit Sieg beim RSC Anderlecht den Europapokal nach Hamburg
Im Jubeltaumel war (fast) ganz Hamburg, als es dem HSV am 11. Mai 1977 gelang, erstmalig in seiner 90-jährigen Vereinsgeschichte den Europapokal mit nach Hause zu bringen. Die Mannschaft gewann in Amsterdam 2:0 gegen den RSC Anderlecht. 4000 Fans empfingen die Fußballer am nächsten Tag am Flughafen. Die Freude über den Sieg sorgte für ein kurzes Ablenken in der angespannten Lage.
Denn die Sorgen um ihre Sicherheit wogen schwer, dazu kam noch die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren. „Konjunktur tröpfelt nur: Immer noch eine Million ohne Arbeit“, titelte die Bergedorfer Zeitung am 6. April. Die Arbeitslosenquote lag bei 4,8 Prozent und sollte im Laufe des Jahres trotz aller Anstrengungen nur leicht sinken. Vor allem Frauen und Jugendliche waren von der Arbeitslosigkeit betroffen. Anfang September waren in Bergedorf 1620 Arbeitslose registriert.
Angst vor Arbeitslosigkeit: Bergedorfs größtes Bauunternehmen ist pleite
Eine Zahl, die heute Jubel auslösen würde, im damals aufschwungsverwöhnten Nachkriegsdeutschland aber für Sorgenfalten sorgte. Hinzu kamen immer häufiger Berichte von Pleiten: So meldet das dato größte Bergedorfer Bauunternehmen, die Firma Bruno Dunkelmann, Anfang des Jahres Konkurs an. „In Bergedorf sind noch mehr Unternehmen bedroht“, malen daraufhin Bergedorfer Wirtschaftsexperten den Teufel an die Wand.
Nur die deutschen Automobilhersteller trotzten der Konjunkturflaute: Ende August steuerten die Hersteller auf einen Produktionsrekord von vier Millionen Autos im Jahr zu. Der 10.000 VW Golf, der medienwirksam in die DDR exportiert wurde, hatte im angespannten Ost-West-Verhältnis hohen Symbolwert.
In Bergedorf-West wird der Grundstein für das Berufsschulzentrum gelegt
Zugleich wurden in dem Jahr in Bergedorf und Umgebung viele große Infrastrukturprojekte angestoßen. In Bergedorf-West wurde im Juli der Grundstein für das Schulzentrum mit drei Gewerbe- und Berufsschulen gelegt. Es wurde weiter an der Sanierung und Modernisierung der Alten Holstenstraße und des Billebogens gearbeitet sowie das Schwesternheim für das Krankenhaus Bethesda gebaut. In Geesthacht erhielt das Otto-Hahn-Gymnasium für 1,3 Millionen Mark einen Anbau und das stark wachsende Glinde am dortigen Oher Weg „ein Schulzentrum der Zukunft mit Platz für 2000 Schüler“.
Die Barsbütteler freuten sich über ein neues Schwimmbad, und die Reinbeker entschieden sich, ein Freizeitbad für sieben Millionen Mark zu bauen. Eine kleine Starthilfe in Höhe von 6000 Mark überreichte das Reinbeker Unternehmen Lutz, das 1977 sein 50-jähriges Firmenjubiläum feierte, wie die „bz“ vermeldete.
Schleusengraben-Querung der A25 wird Hamburgs drittgrößtes Brückenbauprojekt
Zudem nahm die Stadt Hamburg Ende April die „Endmontage ihres derzeit größten Brückenbaus in Angriff“, so die bz. Nach der kurz zuvor fertiggestellten Köhlbrand- und der Kattwykbrücke handelte es sich dabei nun um die immerhin 30 Meter breite Überquerung des Schleusengrabens in Bergedorf im Verlauf der neuen Marschautobahn. Die Stahlbrücke verfügt über eine Stützweite von 83 Metern und eine Bauhöhe von 3,50 Meter.
Mit Brückenbauten allerdings hatte die Stadt Hamburg 1977 wenig Glück: Zwei Tage vor Fertigstellung der 4,3 Millionen Mark teuren Autobahnbrücke am Rande von Bergedorf stürzte ein 60-Tonnen-schwerer Verbindungsträger bei der Endmontage in den Schleusengraben und riß einen Bauarbeiter mit sich. Der kam schwer verletzt ins Krankenhaus. Die Bergung des Bauteils wurde zum Problem. Es musste ein riesiger Schwimmkran geordert werden, um den Kanal für die Schifffahrt wieder frei machen.
Köhlbrandbrücke schon 1977 ein Sanierungsfall – drei Jahre nach ihrer Einweihung
Kaum besser war es um Hamburgs Jahrhundertbauwerk, die Köhlbrandbrücke, bestellt: „Die Super-Brücke rostet“, titelte die „bz“ am 10. Juni 1977. „Wir machen uns erhebliche Sorgen um Qualität und Dauerhaftigkeit der Brücke“, sagte der Baudirektor vom Amt für Strom und Hafenbau, Hans Dieter Höft. An acht der insgesamt 88 Tragseile seien Drähte gebrochen. Sie müssten ausgetauscht werden.
Die 147 Millionen Mark teure Schrägseilbrücke, eine technische und architektonische Pionierleistung, war da gerade mal drei Jahre alt. „So ein Bauwerk muss 50 oder 60 Jahre halten“, sagt Höft, als im Laufe des Jahres immer neue Roststellen auftauchen.
Bis Ende 1977 wurden alle Seile ausgetauscht. Das einzig Gute an der Sache: Die Gewährleistungsfrist war noch nicht abgelaufen. Für die Kosten kam die Dortmunder Herstellerfirma auf. Pro Seil fielen immerhin 125.000 Mark an. 50 Jahre nach ihrer Einweihung ist die Köhlbrandbrücke heute so marode, dass sie komplett ersetzt werden muss.
Vierländer in Aufregung: Bahn will Güterstrecke durch das Landgebiet bauen
Ein weiteres Mammut-Infrastrukturprojekt geriet 1977 ins Stocken – wegen erheblichen Widerstands aus dem Bezirk Bergdorf. Die Bahn wollte eine neue Güterstrecke von Allermöhe über Reitbrook und Ochsenwerder quer durch die Marschlande bauen. Die Pläne dafür lagen bereits seit den 1920er-Jahren in den Schubladen.
Als sie 1977 wieder hervorgeholt und bekannt wurden, formierte sich umgehend eine Bürgerinitiative um Pastor Jürgen Probst, deren Mitglieder sich angesichts des bis zu vier Meter hohen Bahndamms nicht nur um die Umwelt und die Existenz von 300 landwirtschaftlichen Betrieben sorgten, sondern auch den Lärm fürchteten – und einen schlechten Fernsehempfang. Schon damals wussten die Landwirte die Größe und Macht ihrer landwirtschaftlichen Fahrzeuge zu nutzen und fuhren aus Protest mit Traktor & Co. im Konvoi durch die Hamburger Innenstadt.
Reinbek feiert 25 Jahre Stadtrechte, Glinde bangt um seine Zukunft
Der kurze Hitze-Sommer war da fast wieder vorbei. Der hatte 1977 schon sehr früh begonnen: „Puh, war das schon eine Hitze“, schreibt die „bz“ am 14. Juni und vermeldet 30 Grad im Schatten – damals ein seltener Extremwert. Die Menschen strömten in die Freibäder, Besucherrekorde wurden aufgestellt. Allein im Bille-Bad tummelten sich 5000 Bergedorfer an einem einzigen Frühsommertag.
Doppelt so viele Besucher, rund 10.000 Menschen, feierten ein paar Tage später am 18. Juni in der Nachbarkommune das 25-jährige Stadtjubiläum Reinbeks. Mit vielen Sonderseiten und in höchsten Tönen lobte der bz-Redakteur den Geburtstag: „So etwas hat Reinbek in seiner 740-jährigen Geschichte noch nicht erlebt.“ Die Menschen kamen in den Schlosspark, feierten und bestaunten das Feuerwerk.
Wenig Grund zum Feiern hatten indes die benachbarten Glinder. Denn die Gemeinde Oststeinbek wollte sich von Glinde trennen und mit eigener Verwaltung selbstständig werden. Das gefiel den Glindern gar nicht. Sie zogen vor das Verwaltungsgericht – und verloren. Schon am 1. August 1977 stand Oststeinbek mit einem eigenen Bürgermeister und neuem Rathaus in der alten Schule auf eigenen Beinen.
Bergedorfs Nachwuchs macht Urlaub im TSG-Ferienlager Behrensdorf
Zum gleichen Zeitpunkt, mit Beginn der Sommerferien, brach ein Teil der Bergedorfer Kinder zum TSG-Feriencamp nach Behrensdorf auf, das in diesem Jahr sein 25. Jubiläum feierte. Doch der Spaß dürfte sich in Grenzen gehalten haben. Denn auf die kurze Hitzeperiode folgte ein nasser Sommer mit viel Regen. Die Wasserstände stiegen gefährlich, auf Lauenburg rollte eine Flutwelle zu, Campingplätze wurden vorsorglich evakuiert.
Am 30. Juli dann ein erneuter Terror-Schock: Jürgen Ponto, Vorstand der Dresdner Bank, wurde das nächste Mordopfer der RAF. Er wurde beim Versuch einer Entführung in seinem Haus in Frankfurt am Main erschossen. Susanne Albrecht, RAF-Mitglied, deren Familie mit den Pontos befreundet war, bekannte sich wenige Tage später zur Tat. Die Bergedorfer nahmen wieder großen Anteil und trugen sich in die Kondolenzliste ein, die in der Bergedorfer Filiale der Dresdner Bank – heute Commerzbank – an der Alten Holstenstraße auslag.
Steine von Bergedorfs altem Holstentor kommen bei Bauarbeiten ans Tageslicht
Nur ein paar Meter weiter, am Serrahn, tauchten im August 1977 bei Bauarbeiten drei große Findlinge auf, die bis heute als Denkmal an der Schleusenbrücke beim Schlossteich liegen und tagtäglich von Kindern erklommen werden. Einem aufmerksamen und geschichtsversierten Bergedorfer war es zu verdanken, dass diese Findlinge nicht abtransportiert wurden. Bei ihnen handelt es sich um Überreste des 1601 erbauten Holstentors, das einst die Bergedorfer beschützten sollte.
Eine solche Schutzmauer um ihr Zuhause hätten sich viele Bergedorfer im Jahr des Terrors sicher gewünscht, in dem die Angst vor weiteren Anschlägen den Alltag bestimmte. Nur fünf Monate nach dem Mord an Siegfried Buback gab es einen Anschlag auf den Karlsruher Amtssitz der Bundesanwaltschaft. Die RAF-Gruppe „Roter Morgen“, zu der auch Christian Klar gezählt wurde, bekannte sich zu der Tat und kündigte weitere Anschläge an.
Der Terror erreicht Hamburg: Molotow-Cocktails fliegen auf das IBM-Hochhaus
Nur wenige Tage später kam der Terror den Hamburgern gefährlich nah: Am 28. August wurde ein Attentat auf das Bürohochhaus des amerikanischen Konzerns IBM an der Hamburger Ost-West-Straße verübt. Unbekannte warfen zwei brennende Molotow-Cocktails durch Fensterscheiben in das Gebäude. Doch der Brand konnte gelöscht werden, verletzt wurde niemand. Hier vermutete die Polizei die Täter in der Anarchistenszene.
Keine Pause, kein zur Ruhe kommen war möglich. Der nächste Terrorakt folgte umgehend und sollte die Deutschen sieben Wochen lang in Atem halten: Am 5. September 1977 wird Arbeitgeber-Präsident und Vorstands-Mitglied von Daimler Benz, Hanns Martin Schleyer, in Köln-Braunsfeld vom RAF-Kommando „Siegfried Hausner“ in einer blutigen Aktion aus seinem Auto entführt.
Ein wahrer Kugelhagel wird auf Schleyers Fahrzeug gefeuert, die Polizei zählt später 119 Schüsse. Der Fahrer und die drei Leibwächter sterben. Mit Schleyer als Geisel erpressen die Entführer anschließend die Bundesregierung, fordern die Freilassung von elf inhaftierten RAF-Mitgliedern. Sonst sollte Hanns Martin Schleyer sterben.
Bangen um den entführten Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer
43 Tage lang wurde Schleyer als Geisel festgehalten, stellten die Entführer immer neue Ultimaten, wechselten oft den Aufenthaltsort. Bundeskanzler Helmut Schmidt stand in dieser Zeit vor der wohl schwersten Entscheidung seines politischen Lebens. Nach 31 Tagen in Geiselhaft richtete ein sichtlich geschwächter Hanns Martin Schleyer einen erschütternden Appell an die Bonner Regierung: „Entscheidet über mein Schicksal. Dieser Zustand ist nicht mehr lange zu verkraften“. Zugleich bittet Ehefrau Waltrude Schleyer in dramatischen Worten darum, ihren Mann nicht zu opfern. Doch die Bundesregierung bleibt hart und lässt sich nicht erpressen.
Die Lage spitzt sich erneut zu, als am 13. Oktober 1977 das Passierflugzeug „Landshut“ der Lufthansa mit 90 Passagieren an Bord auf dem Weg von Palma de Mallorca nach Frankfurt am Main entführt wird. Verantwortlich sind vier palästinensische Terroristen, die so den Druck auf die Bundesregierung erhöhen wollen.
Drama der entführten Lufthansa-Maschine „Landshut“ – Befreiung durch die GSG 9
Nach der Ermordung des Flugkapitäns und mehreren Zwischenstopps landet die „Landshut“ in Mogadischu, der Hauptstadt von Somalia. Dort wird sie fünf Tage später von der GSG 9, einer Spezialeinheit des Bundesgrenzschutzes, gestürmt. Eine Flugbegleiterin wird verletzt, alle weiteren Geiseln kommen aber unverletzt frei. Noch in der Nacht begeht die in Stuttgart Stammheim inhaftierte RAF-Spitze Selbstmord: Gudrun Ensslin, Andres Baader und Jan Carl Raspe bringen sich um.
„Wunderbar – erleichtert– aufatmen – Sieg der Demokratie“, lauten die einhelligen Meinungen der Bergedorfer einen Tag nach der Landshut-Befreiung. Nur Peter Fischer, Richter aus Lauenburg, stellt in der Umfrage unserer Zeitung die bange Frage: Ist dies nun das Todesurteil für Schleyer? Wie berechtigt die Frage ist, sollte sich wenig später zeigen. Die Entführer töteten Schleyer tatsächlich noch am selben Tag, dem 18. Oktober 1977, mit drei Schüssen in den Hinterkopf. Seine Leiche wurde einen Tag später im Kofferraum eines in Mülhausen in Frankreich abgestellten Audi 100 entdeckt. Schleyer wurde 62 Jahre alt.
Helmut Schmidt kommt nach Fünfhausen: Tausende Bergedorfer wollen ihm zuhören
Eine grenzüberschreitende Großfahndung nach seinen Mördern wurde eingeleitet, die beeindruckende Summe von 800.000 Mark für Hinweise ausgelobt. Unter den acht per Steckbrief gesuchten Mördern war wieder Christian Klar, acht weitere Terroristen galten als Mittäter. Nach ihnen wurde in halb Europa – in Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Schweiz und Italien – gefahndet. 15.000 Hinweise aus der Bevölkerung gingen im Laufe der nächsten Tage ein, bundesweit wurden Personenkontrollen durchgeführt, allein in Hamburg waren es 4133, schrieb die Bergedorfer Zeitung.
Als Bundeskanzler Helmut Schmidt wenige Tage nach der geglückten „Landshut“-Befreiung, am 21. Oktober, zum Wahlkreisbesuch in den Gasthof Witte nach Fünfhausen kam, strömten die Bergedorfer herbei. Nach den nervenaufreibenden Wochen erlebten sie einen gelösten, aber nicht minder besorgten Bundeskanzler. „Wir werden noch schlimme Sachen erleben. Es kann sehr schwer werden“, stimmte Schmidt auf harte Zeiten ein. Seine Rede wurde per Lautsprecher nach draußen übertragen, denn längst nicht alle hatten in dem restlos überfüllten Saal Platz.
7. November 1977: Unternehmer und Mäzen Kurt A. Körber eröffnet das Haus im Park
Anfang November war der Anlass erfreulicher, der den Bundeskanzler erneut nach Bergedorf führte: Am 7. November 1977 wird das Senioren-Centrum Haus im Park eingeweiht. Das wollte sich Schmidt nicht entgehen lassen, denn schließlich war das Haus mit großem Foyer und Atrium, einer medizinischen Abteilung, Bücherei, Konferenzraum, Theatersaal und Werkstätten nicht nur ein Novum, sondern auch „ein Geschenk des Unternehmers Kurt A. Körber an die Bergedorfer“, wie die bz schrieb. Körber, ein enger Freund von Schmidt, hatte am Gräpelweg ein ganzes Haus für Senioren geschaffen.
Nach den Terrormonaten verspürten viele zum Jahresende 1977 eine große Sehnsucht nach Ruhe und Normalität. In Scharen strömten die Menschen auf die Weihnachtsmärkte und in die Geschäfte. 15.000 allein besuchten den Weihnachtsmarkt am Reinbeker Schloss, der 1977 so seine erfolgreiche Premiere feierte.
Bergedorfs alte Post ist Geschichte – Glunz öffnet das Ärztehaus an gleicher Stelle
Und die Bergedorfer freuten sich, dass sie pünktlich zum Weihnachtsgeschäft einen vielseitigen Neubau gleich neben dem Bahnhof bekamen: Anfang Dezember wurde die „Alte Post“ am Weidenbaumsweg eröffnet. Der Name täuschte darüber hinweg, dass der Gebäudekomplex gegenüber dem Bahnhof eigentlich ein Neubau war, der das alte Postgebäude komplett ersetzte.
Als „Kleinod im Städtebau“ lobte die bz das Gebäude im Stil hanseatischer Handelshäuser, das die Firma Gebrüder Glunz des Bergedorfer Kaufmanns Claus Brendel aufwendig erstellen ließ und in das Einzelhandelsgeschäfte, Arztpraxen und Dienstleistungsgewerbe einzogen.
- Bergedorfs APO hebt Helmut Schmidts Wahlkampf aus den Fugen
- Feuerhölle in Reinbek: „Hier war nichts mehr zu retten“
- Bergedorfer Polizeist entpuppt sich als Serienbankräuber
Die Suche nach den RAF-Tätern lief unterdessen weiter. Am 2. Dezember wandte sich Alfred Klar, Vater von Christian Klar, in einem offenen Brief über die Medien an seinen Sohn: „Gib auf“, forderte der Vizepräsident des Oberschulamtes Karlsruhe seinen Sohn auf. Die Eltern und die vier Geschwister wollten nicht auf unabsehbare Zeit unter all dem leiden.
Christian Klar wird 1982 im Sachsenwald bei Friedrichsruh gefasst
Doch der „besonders gefährliche Gewaltverbrecher“, wie das BKA Klar einstufte, gab nicht auf. Fünf weitere Jahre lang gelang es ihm unterzutauchen, bis er 1982 im Sachsenwald bei Friedrichsruh festgenommen wurde. Am 16. November hatte der letzte Kopf der zweiten Generation hier ein Erddepot mit Waffen, Geld und Papieren aufgesucht, das offenbar schon seit Jahren etwas abseits der Wanderwege existierte.
Die Polizei war auf das Versteck aufmerksam geworden und lauerte dem Top-Terroristen mit einem massiven Aufgebot an Beamten über Wochen auf, bis die Falle zwischen Aumühle und Friedrichsruh schließlich zuschnappte. Klar konnte endlich festgenommen werden – fünf Jahre, sieben Monate und neun Tage, nachdem der „Deutsche Herbst“ mit dem tödlichen Anschlag auf Generalbundesanwalt Siegfried Buback begonnen hatte.