Bergedorf/Altona. Jochen (60) und Mitstreiter bieten Krisenhilfe rund um die Uhr. Warum sich der Bergedorfer die Sorgen der anonymen Anrufer anhört.
Es ist das aufrichtige Zuhören und das Mitleiden: „Jeder Anrufer hat in diesem Moment niemanden sonst. Aber ich bin da.“ So beschreibt Jochen seine Motivation für das Ehrenamt, das ihn wöchentlich vier Stunden telefonieren lässt. Auch mitten in der Nacht.
Es gebe so schrecklich viele einsame Menschen und „mehr Leute, die in ihrer eigenen Welt leben“, sagt der Bergedorfer, der seit zwölf Jahren bei der Telefonseelsorge (TS) der HamburgerDiakonie arbeitet.
Telefonseelsorge, das ist Krisenhilfe rund um die Uhr
Mittwochmorgen: „Meine Frau ist schwer krank und gerade in die Klinik gekommen. Jetzt muss ich den ganzen Papierkram machen, aber ich kann nicht mehr“, erzählt ein über 80-Jähriger und fügt leise hinzu: „Ich habe jahrzehntelang ihre Wutanfälle ertragen.“ Geduldig hört der Mann mit der tiefen Stimme zu und sagt dann: „Übermorgen reicht. Schreiben Sie sich das am besten auf einen Zettel. Es muss alles nicht jetzt sofort sein. Gönnen Sie sich eine Pause.“
Das Gespräch wurde natürlich nicht abgehört, die Beispiele sind verändert, denn bei der TS ist alles anonym – bis hin zum Altonaer Bürositz der Seelsorger, die sich auch selbst schützen müssen: Vielleicht vor dem frustrierten Bäcker, der den Hörer aufknallte, nachdem er nicht die gewünschte Bestätigung erfahren hatte. „Er legte einer jungen Frau immer wieder Brötchen und Blumen vor die Haustür und akzeptierte nicht ihr Nein. Das habe ich ihm so resolut gesagt“, schildert der Bergedorfer Kaufmann.
Anruf vom betrunkenen Soldaten, der nicht mehr leben will
Auch weiß der 60-Jährige von gemobbten Schülern, deren Eltern sie nicht ernst nehmen („hab dich nicht so“). Von dem Sektenmitglied, das sich der Erwartung verweigert, Kinder zu züchtigen. Von dem „Tätergespräch“ mit dem Soldaten, der einst im Kosovo-Krieg geschossen hat und nun selbst nicht mehr leben will. Weil er im deutschen Alltag nie mehr ankam: Er habe gerade reichlich angetrunken in einer Kneipe randaliert, gesteht er nachts um 4 Uhr, erinnert Jochen schulterzuckend. „Das war eine total hoffnungslose Situation. Mitunter muss man gemeinsam Hilflosigkeit aushalten.“
Das weiß der freiwillige Seelsorger noch aus Zeiten, als es ihm selbst nicht gut ging: „Mir muss man keine Depression beschreiben. Ich weiß, wie sich das anfühlt.“ Und so sei es bei vielen seiner 80 ehrenamtlichen Kollegen: „Ich glaube, ein Großteil von uns ist mal allein ganz unten gewesen. Und hat es irgendwie geschafft, wieder herauszukommen.“
In einem Notizbuch vermerken die Seelsorger wohltuende Dankesworte
Ihre Dienstpläne für alle Schichten rund um die Uhr hängen im Gemeinschaftsraum, der mit Rosen und hölzernen Engeln geschmückt ist. Im Buchregal finden sich Titel wie „Nur einen Seufzer lang“, „Der seidene Faden“ oder auch „Pflücke den Tag“. In einem Notizbuch vermerken die Seelsorger untereinander wohltuende Dankesworte. „Frau hofft, den Seelsorger von gestern Abend nicht runtergezogen zu haben“, steht da geschrieben. Oder: „Mann von Montag sagt, die TS habe sein Leben gerettet, ohne den Notarzt wäre er jetzt nicht mehr da.“
Manchmal liegen die tödlichen Tabletten schon bereit oder jemand steht auf der Balkonbrüstung im zehnten Stock. Es sind die Unentschlossenen, die dann anrufen. Aber nur, wenn jemand wirklich Hilfe möchte und seinen Namen samt Adresse nennt, kann der sozialpsychiatrische Notdienst gerufen werden, betont Pastorin Babette Glöckner, die seit 2009 die TS leitet: „Damit sich niemand erschreckt, erkläre ich dann, dass die Helfer von der Polizei begleitet werden müssen. Das ist eine großartige Zusammenarbeit.“
Zu 70 Prozent geht es um heftigen Beziehungsstress
Schluchzen, weinen, auch mal motzen oder schweigen – alles ist erlaubt und manchmal auch dringend notwendig. Nach einem Überfall, nach einer Vergewaltigung, nach einem Vertrauensbruch, nach einem großen Entsetzen. Zum Glück sind die Telefonseelsorger lange geschult, erhalten alle zwei Wochen eine Supervision und haben ihre eigenen, persönlichen „Baustellen befriedet“, wie es die Pastorin formuliert.
Ein „Oh Gott, da würde ich mich anstelle ihrer Frau auch trennen“ dürfe natürlich niemals rausrutschen. Dabei gehe es zu 70 Prozent um heftigen Beziehungsstress, nicht nur unter Partnern: „Das kann auch der nervige Zimmergenosse in einer geschlossenen Einrichtung sein. Auch aus dem Gefängnis darf man uns anrufen“, sagt Babette Glöckner, die immer wieder betont, dass sich die TS zu absoluter Verschwiegenheit verpflichtet.
„Die Leute sind beziehungsunfähiger geworden“
Wer mit Gott und der Welt hadert, braucht vertrauensvolle Gespräche. Nur so hört man die Sehnsucht im Klagen der verstockten Mutter, die häufiger vom Sohn besucht werden möchte, der aber „unverschämterweise“ zehn Minuten zu spät zum Weihnachtsessen kam. Oder das genervte Stöhnen des überlasteten Sohnes, der die stets empörte Miene seiner Mutter nicht ertragen, ihr nie etwas recht machen kann. Und doch so sehr Anerkennung sucht. „Die Leute sind beziehungsunfähiger geworden, können nicht mit Konflikten umgehen. Aber sie wollen doch gesehen und wahrgenommen werden“, weiß die TS-Leiterin, die Mut zusprechen und Impulse zur Selbstwahrnehmung geben möchte.
Manche Anrufer seien schlicht „crazy, durchgeknallt und gewaltbereit“. Aber es gibt auch die gequälten Seelen, die täglich anrufen, um ihren Alltag stabil zu strukturieren: „30 bis 40 Prozent sind seit Jahren Dauerkunden, so wie die ältere Dame im Rollstuhl, die sich dreimal täglich meldet und ganz verzweifelt ist, wenn sie uns nicht erreicht.“
Jährlich etwa 19.000 Anrufe kommen durch
Das geht vielen Menschen so. Etwa 19.000 Anrufe werden jährlich bei der 1959 in Hamburg gegründeten Telefonseelsorge angenommen. „Das sind vielleicht 20 Prozent aller Anrufe, denn viele hören nur das Besetztzeichen, manche drücken frustriert immer wieder auf Wahlwiederholung“, sagt Glöckner. Wenn etwa im Fernsehen bei einem Tatort-Krimi die Nummer der Seelsorge eingeblendet werde, klingelt es nonstop, so die 65-Jährige.
„Zwar gibt es auch noch zwei Telefone bei der katholischen Seelsorge der Hamburger Caritas, aber wir sind viel zu wenige, vor allem nachts.“ Im Norden sind sie mit Kiel, Lübeck und Sylt verschaltet und teilen sich die anonymen Anrufe. Trotz steigendem Bedarf indes müsse heftig gespart werden, denn „die Einnahmen durch Kirchensteuern sind eingebrochen. Wir bräuchten dringend Spenden, am liebsten von großen Firmen“, bittet Babette Glöckner. Daher werde sie auch nicht müde, bis zu ihrem Ruhestand Ende des Jahres das Spendenkonto vom Diakonie-Hilfswerk bei der Evangelischen Bank zu nennen (IBAN DE27 520 604 100 006 421 016).
Und natürlich werden auch noch ehrenamtliche Mitstreiter gesucht, die der traurigen Schwangeren zuhören, die gerade ihr Baby verloren hat. Dem Mädchen, das zwangsverheiratet werden soll. Oder dem ehemaligen Selbstständigen, der nach Corona nicht wieder auf die Füße gekommen ist. Es muss aber nicht immer gleich die große Verletzung sein, manchmal reicht auch eine kleine Schramme, um zum Hörer zu greifen, sich aufbauende Worte zu erhoffen und ein bisschen Trost. Inzwischen schaffen das sogar zu 40 Prozent männliche Anrufer, das Gros ist zwischen 50 und 65 Jahre alt.
Gern auch mal auf Plattdeutsch
Jochen aus Bergedorf ist jedenfalls gern ein „Kummerkasten“ und hört bei allen Themen erstmal ruhig zu – von Kirche über Sex bis Politik. Probleme zu benennen, sich einfach mal auszusprechen sei wichtig und befreiend. Das war auch bei der älteren Dame so, die mit ihm am liebsten auf Plattdeutsch sprach. Andere wünschen sich ein Gebet. Bloß wenn jemand „verschwörungstheoretisch oder rechtsextremistisch schwadronieren will“, werde seine Geduld arg strapaziert.
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Manchmal hilft selbst das rote Buch voller Adressen von Anlaufstellen und Beratungsangeboten nicht: „Es gab mal eine lebensmüde Frau im Rollstuhl, die sich offenbar in meine Stimme verliebt hatte und nahezu täglich nach mir fragte“, erinnert er sich und wird tatsächlich noch ein bisschen rot. Wie das ausgegangen ist? „Die ist wohl tot, jedenfalls ruft sie nicht mehr an.“ Und auch das ist manchmal für die Helfer schwer auszuhalten: „Wir wissen nie, wie es ausgeht.“