Hamburg. Heinz Buchholz (90) vergisst ganz schön viel. Dank ambulanter Pflege, die sein Sohn organisiert hat, lebt er noch allein. Ein Besuch.
Ein hübsch-verliebtes Paar im verzierten Bilderrahmen. So auch im Flur das Foto von der Lohbrügger Erlöserkirche. Wie hieß denn die hübsche Braut? „Ooch, da komme ich jetzt gerade nicht drauf. Aus dem Sudetenland“, antwortet Heinz Buchholz (Name geändert). Er ist schon schrecklich lange Witwer, seit fünf Jahren. Und dement.
Seine Augen strahlen charmant mit dem Blau seines Pullovers um die Wette. Frisch rasiert empfängt er heute den „kleinen Damen-Überfall“. Er sei gerade wirklich besonders gut drauf, meint Anja Reetz, die seine Stimmungsschwankungen kennt. Sie arbeitet seit 1996 in der Pflege. Seit vier Jahren kommt sie zu dem inzwischen 90-Jährigen und hilft ihm zweimal täglich in seiner Wohnung. Dritter Stock, Leuschnerstraße: Hier will er nicht mehr weg, nur mit den Füßen zuerst raus. Bloß kein Altersheim.
Ambulante Pflege: Angehörige sind dankbar für Hilfen
„Früher wohnten wir direkt am Lohbrügger Markt. Kennen Sie die alte Friedenseiche? Ist unter Denkmalschutz“, sagt Heinz Buchholz – und nimmt die Flasche mit dem Multivitaminsaft, die ihm gereicht wird.
„Trinken nicht vergessen“ steht auf einem Zettel. „Mittwoch ist Familientag“ auf einem anderen. Dann kommt sein einziges Kind vorbei, Sohn Bernhard mit seiner MS-kranken Frau Angelika. „Es ist ja auch anstrengend, das geht auf die eigene Gesundheit. Dass ich chronische Leukämie habe, weiß mein Vater gar nicht“, sagt er – und holte sich dankbar Hilfe durch den Aka-Pflegedienst.
„Der Alkohol beschleunigt die Demenz“
Vaters Vergesslichkeit kam schleichend: Erst habe er sich an Geburtstagen nicht mehr gemeldet, sich nichts im Kalender notiert. Dann sollte er was auf den Einkaufszettel schreiben, für Sonnabend. „Er brauche nichts, hieß es, aber montags ging er dann zum Kiosk und holte sich ‘ne Flasche Schnaps“, erzählt der Sohn. Das mit dem Alkohol sei so eine Sache bei dem alten Tischler, der „einen Knochenjob hatte, zuletzt bei Möbel Zieske in Bergedorf angestellt war“.
Einmal in der Woche bringe er seinem Vater zwei Sixpacks Bier mir, „damit er ein gewisses Level hat und nicht austickt“, erklärt Bernhard Buchholz (Name geändert), der vor drei Jahren die Einwilligung vom Amtsgericht bekam, alle finanziellen Dinge zu regeln: „Zweimal im Monat gebe ich ihm 200 Euro. Aber es ist eben leider so: Der Alkohol beschleunigt die Demenz.“
Ambulante Pflege: Am liebsten alle zwischen 8 und 9 Uhr besuchen
Längst ist der Kiosk-Pächter gewarnt. Ebenso der Lieferdienst, wo sich der Senior manchmal Korn bestellte. Nach Absprache nehmen die seine Bestellung auch immer noch förmlich auf, bloß liefern sie nicht mehr. Und natürlich weiß es auch der Hausarzt und stellt die Blutdruck-Medikamente entsprechend ein. „Ich übernehme die Grundpflege und unterhalte mich gern mit Herrn Buchholz. Damit er das Sprechen nicht verlernt und die Gehirnzellen nicht weiter absterben“, sagt Pflegedienstleiterin Anja Reetz, die um seinen Pflegegrad 3 (ohne Zuzahlung) weiß und sich gern Zeit nimmt – auch, wenn es manchmal 15 Klienten pro Tour sind: „Es gibt viele Frühaufsteher, die Insulinpatienten sind um 6 Uhr als Erstes dran. Aber eigentlich wollen am liebsten alle genau zwischen 8 und 9 Uhr besucht werden“, sagt sie lächelnd und schulterzuckend zugleich.
Manchmal verschieben sich die Begriffe: Einmal wöchentlich geht Selim mit Heinz Buchholz spazieren, der „junge Mann“ ist schon gut 50 Jahre alt. Anschließend gibt es „abends“ wieder Medikamente, gegen 16.30 Uhr darf es dann auch schon mal der Schlafanzug samt Bademantel sein. Dann sitzt der 90-Jährige zufrieden auf seinem Sofa neben dem Plüschhasen namens Emil oder winkt vom Balkon, wenn das Aka-Auto wegfährt. Das ist Routine, denn er weiß, dass morgen wieder jemand kommt. Bis dahin guckt er auf die Wand oder aus dem Fenster. „Fernsehen mag ich überhaupt nicht“, wehrt er sich entschieden gegen die Reizüberflutung. „Und im Radio sabbeln sie zu viel.“
Ambulante Pflege warnt vor Trickbetrügern
Man wolle mit Zeit, Wertschätzung und Herz dabei sein, betont Esma Arslan, die den Pflegedienst mit 15 Außendienstmitarbeitern betreibt (darunter zwei Männer) und etwa 80 Klienten betreut. Sie alle haben ein Klingelzeichen ausgemacht, erkennen die richtige Dienstkleidung. „Das ist wichtig, denn derzeit sind auch Trickbetrüger unterwegs, die sagen, sie kämen vom Pflegedienst und klauen Geld. Wir haben längst die Polizei verständigt“, sagt Arslan, die stets froh ist, wenn ihre Mitarbeiter einen Schlüssel bekommen: „Manchmal ist jemand gestürzt und macht die Tür nicht auf. Oder sie haben es nicht rechtzeitig zur Toilette geschafft. Oder sie haben alle Möbel umgestellt.“ Jedenfalls müsse man immer wieder mit einer neuen Überraschung rechnen.
Dabei will sie den Senioren doch eigentlich so viel Freiheit wie eben geht ermöglichen. Damit sie in ihrem vertrauten Trott bleiben können – so wie diejenigen, die sich an die sparsamen Kriegsjahre erinnern: „Da wurde nur sonnabends gebadet. Erst er, danach sie in der Wanne. Und sonntags ging es in die Kirche.“ Täglich duschen? „Darin sehen sie keine Notwendigkeit. Wir können solche Gewohnheiten nur sehr langsam und vorsichtig umstellen“, sagt Esma Arslan.
Im vergangenen Jahr übrigens wurde ihr ambulanter Pflegedienst 25 Jahre alt. „Aber wir haben nicht gefeiert, es gab ja das schlimme Erdbeben in der Türkei.“ Daher habe sie lieber gesammelt und etwa 7000 Euro gespendet, um einen Lastwagen voller Brot in die Krisenregion zu schicken und einen mit Tierfutter.
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Jetzt aber soll das Jubiläum nachgeholt werden: Am Mittwoch, 3. April, sind Angehörige, Freunde, Neugierige und Nachbarn in die Lohbrügger Landstraße 80–82 eingeladen, um zwischen 9 und 15 Uhr lecker zu essen und zu plauschen. Als Rednerin ist die Lohbrügger Apothekerin Sabine Haul eingeladen: Von 13.30 bis 14.15 Uhr hält sie einen kostenfreien Vortrag. Das Thema: Demenz im Alter.
Die Alzheimer Gesellschaft Hamburg feiert übrigens am Freitag, 26. April, ihr 30-jähriges Jubiläum. In der Kulturküche in Hamburg Alsterdorf kommen zwischen 13.30 und 17 Uhr pflegende Angehörige zu Wort, ebenso spricht Hamburgs Sozialsenatorin Melanie Schlotzhauer (SPD). Dazu sollen Buttons verteilt werden mit der Aufschrift „Ich habe eine Demenz und bitte um Geduld“. Diese Buttons dienen nicht nur als Symbol der Solidarität, sondern sollen auch das Bewusstsein für Demenz stärken. Außerdem stellt der Tagestreff Wandsbek sein selbst kreiertes Kochbuch mit dem Titel „Probier mal!“ vor – gefüllt mit leckeren Rezepten, Bildern und persönlichen Geschichten. Besucher sind zu Kaffee, Kuchen und musikalischer Begleitung am Alsterdorfer Markt 8 willkommen.