Hamburg. 1972 eröffnet in Lohbrügge der Vorläufer der HAW. Schon früh gibt es Kritik. Auch tragische Kinderschicksale machen Schlagzeilen.

Es klang nach einem Meilenstein für den Bildungsstandort. Doch tatsächlich wurde die im Jahr 1972 eröffnete Bergedorfer Ingenieurschule für Produktion und Verfahrenstechnik, die heutige Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW), nicht ausschließlich bejubelt, sondern durchaus auch kritisch gesehen: zu speziell und vor allem zu teuer. Ein Dauerthema in den Ausgaben der Bergedorfer Zeitung jenes Jahres, das deutschlandweit vor allem durch Terrorangst und -anschläge geprägt war

Schon Volumen und Aufwand des Schulbaus waren außergewöhnlich: Die für damalige Verhältnisse revolutionäre Architektur, eine Art Elementbauweise, benötigte fünf Jahre bis zur Fertigstellung. Die Fachhochschule residierte bis zu diesem Zeitpunkt behelfsmäßig am Hamburger Hauptbahnhof.

150 Jahre bz: Ursprünge der HAW-Idee gehen auf Kurt A. Körber zurück

Doch wie kam das Projekt überhaupt nach Bergedorf? Als frühzeitiger Geldgeber einer zunächst als Schule für die Ausbildung von Produktionsingenieuren gedachten Institution erwies sich insbesondere Kurt A. Körber mitsamt seiner Stiftung, der bereits im Jahr 1959 sechs Millionen Mark zur Verfügung gestellt hatte. Der Senat der Hansestadt Hamburg trat an den Stifter heran, dachte aber in seinen Planspielen weitaus größer mit einem Studentenvolumen von bis zu 1200 jungen Menschen – der Bergedorfer Industrielle dachte eher an 300 bis 400 angehende Jungingenieure.

Die Verbindung Senat-Körber wurde in der Öffentlichkeit nicht unkritisch gesehen. Die Stadtplaner mussten sich den Vorwurf gefallen lassen „an den Bedarfen vorbei geplant“ zu haben – über 1000 Studenten schön und gut, aber wie kommen die letztlich in den Arbeitsmarkt?

Welche Fachrichtung insbesondere Frauen interessant finden sollen

Die Ingenieurschule wurde aber gebaut – oder wie die Bergedorfer Zeitung am 15. März salopp titelte, das „70-Millionen-Ding“ an der Lohbrügger Kirchstraße. Zur Einweihung am 28. April musste die Bausumme auf 67,14 Millionen Mark leicht hinunter korrigiert werde. Im ersten halben Jahr ab Semesterbeginn am 15. Mai beleben dort 45 Dozenten und 680 Studenten das Haus. Bis 1975, so berichtet unsere Zeitung, sollen es dann 950 Studenten sein. „Der Forschungsunterricht sowie der Lehrbetrieb werden noch nicht gleich auf vollen Touren laufen“, schreibt bz-Chefredakteur Karl Mührl, „sondern langsam nach den finanziellen Möglichkeiten der Hansestadt ausgebaut werden“.

Blick auf Gewirr aus Stahl, Beton und Baugerüsten am 12. August 1968 auf der Baustelle der Ingenieurschule, heute Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW), in Lohbrügge.
Blick auf Gewirr aus Stahl, Beton und Baugerüsten am 12. August 1968 auf der Baustelle der Ingenieurschule, heute Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW), in Lohbrügge. © bgz | Egon Klebe

Von der offiziellen Eröffnung berichtet Mührl wiederum am 6. Juni, schreibt von der „modernsten Fachhochschule der Bundesrepublik“, die auf Zulassungsbeschränkungen verzichtet, dafür zukunftsorientiertes Fachpersonal hervorbringen werde. Aus der Rede von Dr. Debacher, Sprecher der Fachhochschule, bleibt vor allem hängen, dass er in der Billestadt „den dritten Fuß der Wissenschaft“ auftreten sieht.

Neben Produktions- und Verfahrenstechnik soll vor allem Bio-Ingenieurswesen gelehrt werden, weil es „technische, medizinischen und biologische Kenntnisse“ vermittelt, die in Kliniken genauso gut wie in Forschung, Entwicklung sowie Industrie nachgefragt werden, schreibt unsere Zeitung. Und letztgenannte Fachrichtung sei „besonders für weibliche Bewerber“ in ihrem beruflichen Werdegang interessant.

Zentralschule Kirchwerder wird für sechs Millionen Mark neu errichtet

Doch die Kritik an der Millionen-Schule bleibt auch in der Feierstunde nicht ungehört – primär von denjenigen, die prinzipiell hier top ausgebildet werden sollen: Der AStA bemängelt an einem Informationsstand im Neubau das Verhalten der Stadt, die sich 1959 scheinbar von mit Millionen Mark herumwedelnden Millionär zur „Verschiebung bildungspolitischer Schwerpunkte“ und Ausgabe einer Unsumme dazu verleitet haben lasse, sich nur auf eine von 13 Fachrichtungen an Fachschulen zu kaprizieren. Der AStA stellt zudem die Sinnfrage, ob diese Lohbrügger Fachhochschule auch am „gesellschaftlichen Bedarf“ ausgerichtet sei. Was den Arbeitsmarkt angehe, wären Sozialpädagogen Anfang der 70er-Jahre sehr viel gefragter.

Die Bildungslandschaft in Bergedorf legt generell im Jahr 1972 um einiges zu: Sowohl der Neubau der Pädagogischen Tagesschule in Boberg als auch die Sanierung und Erweiterung der Hansa Schule (für 7,7 Millionen Mark) sind berichtenswert – wobei unsere Zeitung am 1. Dezember meldet, dass die geplante Aula für die Hansa-Schüler „aus finanziellen Gründen“ dann doch nicht realisiert werden kann.

Auch in Bergedorf wurde nach den Köpfen der RAF-Terrorgruppe, Ulrike Meinhof und Andreas Baader, gesucht, wie dieser Bericht zeigt. Schwerbewaffnete Polizisten kontrollieren Autofahrer.
Auch in Bergedorf wurde nach den Köpfen der RAF-Terrorgruppe, Ulrike Meinhof und Andreas Baader, gesucht, wie dieser Bericht zeigt. Schwerbewaffnete Polizisten kontrollieren Autofahrer. © BGDZ | Jan Schubert

Die Zentralschule Kirchwerder wird ebenfalls für die Summe von sechs Millionen DM neu errichtet, der erste Bauabschnitt zum Schuljahr 72/73 fertiggestellt. Zudem wird bekannt, dass der Sportplatz Sander Tannen, eigentlich bis dato nur den Landesliga-Fußballern des FC Bergedorf 85 vorbehalten, dann auch für den Schulsport freigegeben werden soll – was natürlich mit dem Schulbauprojekt direkt nebenan, der heutigen Stadtteilschule Bergedorf (GSB), im Zusammenhang steht.

„Neue Heimat Nord“ plant 6000 Wohnungen auf dem Billebogen

Weitere Fortschrittsprojekte aus 1972: In Geesthacht gibt es am 4. Februar „grünes Licht“ für den Bau eines Atomkraftwerks im Stadtteil Krümmel. Am 24. November rollen dann die Bagger und Laster. Dort beginnen die Bauarbeiten für das Atomkraftwerk, mit 900 Millionen Mark das bis dato teuerste Projekt im Heimatgebiet – trotz einer nicht unerheblichen Protestbewegung von 10.000 Bürgern.

Das Architektenduo Timm Ohrt und Klaus Nickels stellt am 28. Juli den Siegerentwurf eines Quartiers für 6000 Neubürger auf dem alten Gelände des Eisenwerks am Billebogen im Spiegelsaal des Rathauses öffentlich aus. Die „Neue Heimat Nord“ will dafür 220 Millionen Mark investieren und verspricht, das Landschaftsbild nicht zu ruinieren: „Keine Hochhäuser am Billebogen“ heißt es auf dem bz-Titel.

Wie bei fast allen Bauprojekten gibt es aber auch schnell Kritik. Diese kommt von der Bergedorfer CDU: Sie sieht im gesamten Planungsprozess der Bergedorfer Verwaltung, der Fachbehörden und des Bauträgers im Lohbrügger Norden die lokale Politik übergangen. Außerdem wäre der Standort Billewiesen perfekt für ein Freibad gewesen, sozusagen als „wesentliche Bereicherung des neuen Wohngebietes“, wie Bergedorfs CDU-Chef Hans-Heinrich Klemm feststellt.

„Hände hoch“ und fatalerweise abgedrückt: Elfjähriger stirbt nach Gewehrschuss

Auch tragische Geschehnisse mussten 1972 berichtet werden. Trotz der Warnung vor kaum tragfähigen Eisdecken auf zugefrorenen Seen in unserer Zeitung („Setzt euer Leben auf dem Eis nicht leichtfertig aufs Spiel!“) kommt es am 24. Januar zur Katastrophe: Der zwölfjährige Heiko Behn bricht auf dem Boberger Baggersee ein, weil er eine „Tödliche Wette“ eingeht und verliert.

Er wollte mit einem Freund herausfinden, wer schneller um den See radeln konnte – und kürzte fatalerweise mit seinem Fahrrad über das Eis ab, brach ein und konnte trotz aller Bemühungen nur noch tot geborgen werden. Am 21. Februar ertrank außerdem ein erst sechsjähriger Junge. Christian Stangl betrat nur wenige Meter neben der elterlichen Wohnung das brüchige Eis des Entensees nahe dem Unfallkrankenhaus Boberg – seine Eltern sind Ärzte und vollkommen geschockt.

Titelseite der Ausgabe vom 18. August 1972 über den Kleinkalibergewehrunfall in Geesthacht. Abgebildet ist das Haus am Finkenweg, in dem der Unfall geschah
Titelseite der Ausgabe vom 18. August 1972 über den Kleinkalibergewehrunfall in Geesthacht. Abgebildet ist das Haus am Finkenweg, in dem der Unfall geschah © BGDZ | Jan Schubert

Ein ebenfalls schlimmes, tödliches Unglück spielte sich im Sommer in Geesthacht ab. Dort spielten drei Jungs (10, 11, 13) ohne elterliche Aufsicht in einer Wohnung am Finkenweg, als der Jüngste auf die Idee kam, seinem Freund (11) das Kleinkalibergewehr des Vaters zu zeigen, das nicht weggeschlossen auf einem Schrank im Wohnzimmer lag: „Hans holte es, legte auf Kay an, rief ,Hände hoch!‘ – und drückte ab. Kay brach lautlos zusammen“, berichten die bz-Polizeireporter von diesem fürchterlichen Unglück.

Ein weiteres Unglück mit einem Kleinkalibergewehr folgt am 25. November, als der Seemann Dieter Bieck beim Schießen auf Vögel aus seiner Bergedorfer Wohnung heraus den Schüler Klaus Wolski (15) unbeabsichtigt, aber tödlich in der Stirn trifft. Der Jugendliche ist 120 Meter von der Position des Schützen entfernt, wird aber dennoch von dem Geschoss auf dem Hof der Brinkschule erwischt.

Suche nach verschwundener 14-Jährigen bewegt die Menschen der Region

In den Schockzustand versetzt ab dem 5. Juni das Verschwinden der 14-jährigen Monika Fieberg das gesamte Verbreitungsgebiet. Schnell übernimmt die Mordkommission, weil Schlimmstes befürchtet wird. Die Polizei durchkämmt in den ersten Tagen speziell das unwegsame Gelände zwischen Dassendorf und Brunstorf, dem Wohnort der Jugendlichen, stoppt an einem Abend rund 200 Pkw-Fahrer, um Hinweise zu erhalten.

Schockierend wird es dann aber am 24. Oktober für alle, die mit den Fiebergs mitfühlen, wohl die ganze Region. Denn im Sachsenwald finden Kräfte der Hamburger Bereitschaftspolizei zunächst menschliche Knochen und die Hose des Mädchens sowie Haarbüschel. Zunächst kann die Kripo noch nicht hundertprozentig bestätigen, dass auch die sterblichen Überreste von dem Teenager stammen - doch die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch.

Bei so viel Tragik sei aber auch gesagt: Es werden auch Kinder in letzter Sekunde gerettet. Am Billwerder Billdeich 272 reagiert ein Landwirt geistesgegenwärtig, als er feststellt, dass zwei Jungen (8, 7) aus einer Dose mit giftigem Saatgetreide gegessen haben. Dank des enormen schnellen Rettungseinsatzes zweier Peterwagen werden die Kinder ins Kinderkrankenhaus Borgfelde gefahren, von wo aus dann die befreiende Meldung kommt: keine Lebensgefahr mehr!

Reinhard Wagner, Verleger der Bergedorfer Zeitung, stirbt mit 71 Jahren

Auch das ist kaum zu fassen: Am 6. Mai entdecken Nachbarn im fünften Stock eines Bergedorfer Mehrfamilienhauses vier Kinder (5, 4, 3, 2), die nach einem Streit ihrer Eltern auf dem Fensterbrett sitzen und offenbar allein in der Wohnung zurückgelassen wurden. Die Feuerwehr kann die Geschwister in einer hochkomplexen Rettungsaktion über Drehleiter und Öffnen der verschlossenen Haustür unversehrt retten. Der bz-Reporter vor Ort erfährt, „dass es nicht das erste Mal sei, dass die Kinder der Familie H. allein in der Wohnung gelassen wurden“.

Es waren diese dramatischen, aber sicher auch viele andere, schönere Geschichten, die Reinhard Wagner so sehr mit der bz verbanden. Am 6. Juli erhält Wagner eine Sonderseite, nachdem der Verleger wenige Tage vor seinem 72. Geburtstag verstirbt. Der Mann agierte fünf Jahrzehnte lang als Chef der Buchdruckerei Ed. Wagner mit der Bergedorfer Zeitung, bevor ihm gesundheitliche Probleme zum Kürzertreten zwangen. Wagner verlor das Augenlicht, niemals aber das wichtigste Organ: „Sein Herz gehört der bz“, schrieb Chefredakteur Mührl und würdigte Wagners unermüdlichen Einsatz für 200 Mitarbeiter und die Überparteilichkeit seiner Heimatzeitung.

Reinbeker kuratiert TV-Übertragung von Olympischen Sommerspielen in München

1972 verbreitet die Rote Armee Fraktion (RAF) durch Terroranschlägen Angst und Schrecken, wird aber durch die Festnahmen unter anderem von Andreas Baader, Gudrun Ensslin oder Ulrike Meinhof geschwächt. Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) übersteht zunächst am 27. April das konstruktive Misstrauensvotum der CDU/CSU und bleibt auch nach den vorgezogenen Neuwahlen am 19. November im Amt. Die 20. Olympischen Sommerspiele in München (26. August bis 11. September) werden am 5. und 6. September durch die Geiselnahme von israelitischen Athleten durch arabische Terroristen im Olympischen Dorf überschattet. Am Ende kommen bei Anschlag und missglückter Befreiungsaktion 17 Menschen ums Leben.

Spannender innerdeutscher Vergleich: Die 4x100-m-Frauenstaffel der Bundesrepublik sprintet der Goldmedaille im Münchner Olympiastadion entgegen. Die Spiele wurden überschattet durch den Terrorschlag gegen israelitische Athleten im Olympischen Dorf.
Spannender innerdeutscher Vergleich: Die 4x100-m-Frauenstaffel der Bundesrepublik sprintet der Goldmedaille im Münchner Olympiastadion entgegen. Die Spiele wurden überschattet durch den Terrorschlag gegen israelitische Athleten im Olympischen Dorf. © dpa | Karl Schnörrer

Dabei sollten die Spiele doch dank dieses Mannes fröhliche und sportlich faire Bilder in alle Welt senden: Der gebürtige Reinbeker Horst Seifart ist für die mediale Inszenierung der Wettkämpfe mit seinem Team verantwortlich – und am Ende machtlos, dass blutiger Terror fast zum Abbruch Olympias führt. Seifart hat die Entscheidungsgewalt im Weltregieraum für das, was gesendet werden soll, von dem Sportspektakel schlechthin. Er „dirigiert“ 112 Redakteure aus 16 Ländern, die Bilder für 83 Sender produzieren. Die bz stellt den Mann kurz vor Beginn der Spiele groß vor.

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Auch im Großraum Bergedorf gehören in Zeiten der brutal mordenden Baader-Meinhof-Gruppe Großfahndungen und Verkehrskontrollen mit vorgehaltener Maschinenpistole im ersten Halbjahr von 1972 zum Straßenbild. In dieser Gemengelage verursacht die Ankündigung einer Verschlankung der Polizeikräfte in der gesamten Hamburger und speziell auch der Bergedorfer Polizei in der Bezirksversammlung Kopfschütteln: „1973 in Bergedorf: Keine Reiter – keine Posten – nur noch eine Wache“, lautet die Titelzeile der bz zu den Plänen der Hamburger Innenbehörde. Unsere damaligen Reporter Herbert Godyla und Heinz-Jürgen Spors sind übrigens am 1. Juni hautnah dabei bei einer RAF-Fahndungsoffensive im Heimatgebiet: „Nach Norden gab es keinen Fluchtweg“.