Hamburg. Unter Mietshäusern in der Chrysanderstraße liegen riesige, alte Gewölbe – die Eiskeller. Was es hier Geheimnisvolles zu entdecken gibt.

Hier könnte wohl problemlos ein Krimi spielen. Diese lange Treppe, die den Hang hinunter zu einer grünen Kellertür führt. Was mag dahinter sein? Oder auch der steinerne Torbogen ein Stück weiter, hinter ihm nur tiefe Schwärze. Keine Frage, die alten Eiskeller, die sich unter Mietshäusern in der Chrysanderstraße in Bergedorf erstrecken und die mehreren Eigentümern gehören, haben so manches Geheimnis preiszugeben.

Denn die unter dem Sand des Geesthangs gelegenen Keller der ehemaligen Actien-Bier-Brauerei zu Bergedorf sind bis heute recht gut erhalten. Und die Gewölbe, die ab 1864 dazu dienten, das Wintereis der Brauereiteiche bis zum Sommer zu lagern, werden auch immer noch, zumindest teilweise, genutzt. Wenngleich für ganz andere Zwecke: Die Hamburg-Rahlstedter Baugenossenschaft – Eigentümerin der Häuser an der Chrysanderstraße 142 – hat hier beispielsweise Garagen und Lagerräume vermietet. Vor allem aber hat sie einen reichlich skurrilen Mieter in den drei Gewölben hinter der grünen Tür.

Lost Place: In Bergedorfs Eiskeller wohnen die „Schlaraffia im Sachsenwald“

Denn dort hat eine Männergruppe ihr Refugium, die sich ganz und gar dem gehobenen Unsinn verschrieben hat: die Schlaraffen, genauer die „Schlaraffia im Sachsenwald“. Wer die Treppe hinab in den Hang hinein durch die grüne Tür tritt, der kann mal alles vergessen, was er zu wissen meint. Denn was auf den ersten Blick aussieht, wie ein großer gemütlicher Vereinskeller mit allem drum und dran, ist eine „Burg“, die Hubertusburg. Und hier sitzen keine Logen-, Karnevals- oder Kegelbrüder zusammen. Hier werden „Sippungen“ im einstigen Gärkeller abgehalten. Aber bitteschön: Alles nicht so ernst nehmen. Es geht ums gehobene Quatschmachen, erklären die aktuell fungierenden Oberschlaraffen Peter Rauen (78) und Stefan Schier (75).

Der Eingang zu den Räumen von „Schlaraffia im Sachsenwald“.
Der Eingang zu den Räumen von „Schlaraffia im Sachsenwald“. © Christina Rückert | Christina Rückert

Schlaraffen gibt es überall auf der Welt. „Sie sind um 1859 in Prag entstanden“, sagt Peter Rauen. Damals verweigerten arrogante Großbürger einem deutschen Theaterdirektor, einen bestimmten Tenor in den gemeinsamen Bund einzuladen. Der Tenor war den arroganten Großbürgern nicht gut genug. Der Theaterdirektor gründete daraufhin eine Protestbewegung, vereinte Künstler um sich. Diese nahmen fortan jede Art von Obrigkeit und Adel kräftig auf die Schippe. Mitsamt ihren Ritualen, Orden, Hierarchien und ihrer Arroganz. Bis heute gibt es Schlaraffen überall auf der Welt, selbst in Australien oder Südafrika. Und überall werden die gleichen Rituale auf Deutsch gepflegt. Gerne besucht man sich auch untereinander, selbst in der völligen Fremde.

Die Schlaraffen treiben es mit den Hierarchien, Orden und Ritualen auf die Spitze, das ist Teil der Ironie. Es gibt jede Menge eigene, mittelalterlich anmutende Begriffe. Sie schmücken sich mit prächtigen Umhängen, verneigen sich vorm ausgestopften Uhu, werfen sich gegenseitig für jede kleine Frechheit ins Gefängnis. Denn ja, auch ein kleines Verlies gibt es hier im Bergedorfer Eiskeller. Für viele ist es gar keine Strafe, dort einzusitzen, sondern der größte Spaß. Bei allen Ritualen geht es immer darum, „den Anderen zum Lächeln zu bringen“, wie Peter Rauen sagt. Allerdings: Beruf, Politik und Religion müssen draußen bleiben. Schließlich soll das Ganze ja Laune machen.

Die „Schlaraffia im Sachsenwald“ bei einer ihrer Sippungen.
Die „Schlaraffia im Sachsenwald“ bei einer ihrer Sippungen. © Stefan Schier | Stefan Schier

Quatsch ist an der Tagesordnung: So sieht ein Sippungsabend aus

Aber wie sieht so ein Sippungsabend aus? Zunächst einmal nehmen die drei Oberschlaraffen auf dem Thron Platz „und tun so, als wären sie die Größten“, erklärt Stefan Schier. Im ersten Teil des Abends geht es eher um Formalitäten, ehe dann im zweiten Teil Kleinkunst gefragt ist. Ein gedichteter Vierzeiler, eine Geschichte, Musik: Jeder kann etwas beisteuern, oft zu einem vorgegebenen Thema. Da kann es schon mal vorkommen, dass ein Ritter darüber sinniert, welches Rad am Auto das Wichtigste ist. Und dass etwas richtig Tolles dabei herauskommt.

Aber wehe, ein Teilnehmer hält die vielen Regeln nicht ein! Dann wird er gepönt, also bestraft. Vielleicht hat er Glück und kommt damit davon, ein paar Reichsmark (Cent oder Euro) in den Säckel zu werfen. Vielleicht muss er aber auch – zum Amüsement der Anderen – im Büßerhemd hinter Gitter. Das kleine Gefängnis steht direkt neben der langen Tafel im großen Raum.

In den Räumen der
In den Räumen der "Schlaraffia im Sachsenwald" im Eiskeller Bergedorf gibt es große Säle, eine weise Eule, ein Gefängnis und selbstgemalte Wappen. © Christina Rückert | Christina Rückert

Das Spiel ist kompliziert, hat Dutzende Regeln und eigene Vokabeln und will gelernt sein. Entsprechend müssen Neueinsteiger erst einmal klein anfangen und hoffen, irgendwann zum Ritter aufzusteigen. Wobei es aktuell nicht so viele Neueinsteiger gibt: Die etwa 35 Bergedorfer Schlaraffen (davon zirka 20 Aktive) sind im Schnitt um die 70 Jahre alt – und würden sich freuen, immer donnerstags ab 19.30 Uhr (allerdings nur im Winterhalbjahr) auch mal neue Gesichter begrüßen zu können. „Wir sind überzeugt, dass Schlaraffen im Schnitt sieben Jahre älter werden als der Durchschnitt der anderen Männer“, sagt Stefan Schier. Das ist halb Scherz, halb Ernst, denn Kleinkunst und Humor, meinen sie, würden frisch im Kopf halten.

Peter Rauen (78) aus Schönningstedt und Stefan Schier (75, rechts) aus Bad Oldesloe gehören zu „Schlaraffia im Sachsenwald“, das im Eiskeller residiert. Hier stehen sie vorm Thron.
Peter Rauen (78) aus Schönningstedt und Stefan Schier (75, rechts) aus Bad Oldesloe gehören zu „Schlaraffia im Sachsenwald“, das im Eiskeller residiert. Hier stehen sie vorm Thron. © Christina Rückert | Christina Rückert

Frauen sind nur zu besonderen Anlässen in der Burg erwünscht

Frauen dürfen die heilige Burg auch betreten. Aber nur zu besonderen Anlässen. Oder in ihrem eigenen, kleinen Raum am anderen Ende der „Burg“. „Das geht nicht gegen Frauen“, stellt Peter Rauen fest. Sondern um die Dynamik: Das Quatschmachen, so meinen sie, funktioniert nicht, wenn die Ehefrau danebensitzt und den albernen Witz vielleicht nicht so lustig findet.

Wobei sich die Männer auch selbst als vermeintlich starkes Geschlecht auf die Schippe nehmen. So beginnt jeder Beitrag mit „Schlaraffen hört!“, weil „Männer sonst nicht aufpassen, wenn man sie nicht direkt anspricht“, wie Peter Rauen augenzwinkernd sagt. Und auch die Unmengen an Orden haben ihren Zweck – denn Männer werden doch „so gerne gelobt“.

Auch interessant

Doch was reizt erwachsene Männer daran, jeden Donnerstagabend in einem Kellergewölbe Kostüme anzuziehen und Quatsch zu machen? Es geht darum „den Alltag abzuschütteln“, sagt Peter Rauen. Egal, was die Männer dort draußen sind und welche Sorgen sie haben: In der Hubertusburg können sie all das mal ablegen. Deshalb verneigen sie sich gleich am Anfang vor dem ausgestopften Uhu und schlüpfen in ihre Kostüme, schütteln „das Profane der Welt“ da draußen ab. Dann mag es kühl sein hier unten im Eiskeller, aber in den Herzen ist es warm.

Lost Place: Hier leben die Schlaraffen
Lost Place: Hier leben die Schlaraffen

weitere Videos