Bergedorf. Benjamin Maack (45) erzählt in Bergedorf von seiner Erkrankung, von der auch immer mehr Schüler betroffen sind. Was sie tun können.
Dieses Igelbaby da auf der Veranda... windet sich. Will es spielen oder stirbt es gerade? Die Mutter möchte es zum Tierarzt bringen. Der Vater indes nimmt die Schaufel und stapft in den Wald. Das war zu Jugendzeiten. Dann sprachen sie sieben Jahre lang nicht miteinander, der Vater und der Sohn. „Ich dachte, er sei ein richtiges Arschloch, aber eigentlich war er immer vom Leben überfordert“, sagt Benjamin Maack heute. Irgendwann traute er sich: „Bist Du glücklich?“, fragte er den Vater dann wieder, kurz bevor dieser im Rentenalter starke Depressionen bekam. Und wenig später an einem Schlaganfall starb.
Solche zusammengesetzten Bruchstücke finden ihren Weg zu einem verständlichen Bild, manchmal voller kreativer Metaphern: „Man kann die Dinge, die einem passiert sind, vielleicht ein bisschen anders, aber wahrer erzählen. Wie durch ein Kaleidoskop“, sagt Benjamin Maack. Der bekannte Autor und Spiegel-Redakteur sitzt auf einem Tisch und lässt die Beine baumeln, während er vor Elftklässlern der Bergedorfer Stadtteilschule aus seinem Leben plaudert und Texte vorliest – ganz heimelig neben einem Weihnachtsbaum und vor einem Knisterfeuer auf dem Bildschirm. Insgesamt sieben Autoren haben sich zu einer Lesung eingefunden. Das Thema Depression interessiert insbesondere die Oberstufe, „denn zuletzt hatten wir zwei Suizide an der Schule“, weiß Organisatorin Barbara Schrader. Maack kennt sich damit aus.
Mit Improvisationstheater die eigene Kreativität entdecken
„Ich leide unter schweren, wiederkehrenden Depressionen. Mein jüngstes Buch handelt von einem Aufenthalt in der Psychiatrie“, erzählt Benjamin Maack, der seit neun Jahren in Therapie ist – und bei den neugierigen Jugendlichen auf offene Ohren trifft: „Meine Freundin wird stark von ihrer Helikopter-Mutter kontrolliert und leidet unter Depression und Essstörung“, erzählt eine Schülerin. „Ist das eigentlich ansteckend oder erblich?“, fragt ein junger Mann.
Einerseits gebe es da eine gewisse „Gehirnchemie“, so Maack. Aber es komme unbedingt auch darauf an, „wie man zu Hause angenommen wird“, meint der Autor: „Depressionen sind total zerstörerisch, die wollen dich kaputtmachen“, sagt der 45-Jährige und unterscheidet deutlich von der Traurigkeit: „Traurig zu sein ist ja durchaus ein produktiver Prozess.“
Krankenkasse: „Jeder Siebte ist in Hamburg von Depression betroffen“
„Mehr Menschen mit Depressionen in Hamburg. Jeder Siebte ist betroffen, Rückfälle nahmen stark zu“, informiert gerade die Kaufmännische Krankenkasse (KHH) und schaut damit auf 14,5 Prozent ihrer Hamburger Versicherten. Neben genetischen und neurobiologischen Faktoren können „auch traumatische Erlebnisse wie Gewalt und Missbrauch, Krisen wie Trennungen und Jobverlust eine Rolle spielen“.
„Das Risiko, psychisch zu erkranken, ist bei Kindern und Jugendlichen heute deutlich höher als früher: Nicht nur die soziale Isolation während der Pandemie hat sie belastet, auch Ängste vor dem Klimawandel und die Kommunikation über soziale Medien machen vielen zu schaffen“, sagte zuletzt Joachim Gemmel, der Vorsitzende der Hamburgischen Krankenhausgesellschaft, auf der Landeskonferenz Versorgung. Dazu ergänzt Heike Piper, die Präsidentin der Psychotherapeutenkammer: „Isolation, Verunsicherung, erhöhter Medienkonsum, aber auch Diskriminierung, Armut, Gewalt und familiäre Konflikte sind Risikofaktoren für die psychische Gesundheit.“
Das wissen viele Jugendliche bereits: „In meiner Vergangenheit sind schlimme Sachen passiert. Es tut immer noch weh, aber jetzt kann ich damit umgehen“, erzählt etwa eine GSB-Schülerin. Lehrer Bernd Ruffer weiß von häuslicher Gewalt und sexuellem Missbrauch: „Viele Schüler haben schon Erfahrung mit Psychotherapie, weil sie schwierige Situationen meistern müssen. Ein junger Mensch ist zum Beispiel gerade im Prozess der Geschlechtsumwandlung.“
Umso hilfreicher ist es, darüber sprechen zu können. Es müsse ja „nicht krass literarisch sein“, meint der zweifache Vater Benjamin Maack, aber: „Schreiben ist verdichtete Realität, so kann ich mein Leben besser verstehen“, fordert er die Schüler auf, selbst zur Tastatur zu greifen. Es kann ja auch anonym sein, denn „manches würde ich Freunden erzählen, aber nicht meiner Mutter“, betont ein Schüler. Da wäre an Verbotenes zu denken wie illegale Graffiti oder wenn man angetrunken etwas Peinliches gesagt hat.
Manche Szenen lassen sich gut dramaturgisch umsetzen, weiß Bernd Ruffer, der vier Stunden wöchentlich das Theaterprofil unterrichtet: „Man kann für die eigene Lebenswelt eine künstlerische Ausdrucksform finden“, fordert er die Schüler auf, eigene Texte zu entwerfen. Als Chef der Hamburger Theaterlehrer will er ein großes Schultheater-Festival auf die Beine stellen, das im Juni 2024 im „Centralcomitee“ am Steindamm öffentlich gezeigt werden soll. Schüler jeden Altes können sich bewerben (Bernd.Ruffer@fvts.hamburg), die Stadtteilschule Lohbrügge sei schon dabei.
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„Wir wollen theatral mit Biografien umgehen und über psychische Ausnahmezustände sprechen“, kündigt der Lehrer an, der die GSB ebenfalls für das „europaweit größte Schülertheater-Festival“ anmelden will. Da sind dann alle Bundesländer dabei, im kommenden Jahr wird es von Bremen ausgerichtet, 2027 ist dann Hamburg dran und erwartet 500 Teilnehmer. Auch das Bergedorfer Improvisationstheater „Steife Brise“ wird die Schüler bei Workshops unterstützen, denn Unerwartetes anzunehmen, das mögen seine Schüler lernen: „Improvisation heißt, zu akzeptieren, was ist.“