Hamburg. Der Partner von Miriam Flüß hat Selbstmord begangen. Die Hamburgerin über ihren Verlust, über Wut, Sehnsucht und „Lebenshunger“.
An einem kalten, sonnigen Novembertag fand Miriam Flüß aus Hamburg-Eppendorf ihren Lebensgefährten tot in der gemeinsamen Wohnung. Er hatte sich im Schlafzimmer erhängt, mit 47 Jahren. Daran zerbrochen ist die heute 53-Jährige nicht. Im Gegenteil. Sie engagiert sich mittlerweile als Trauerbegleiterinund hilft Menschen, mit ihrem Verlust umzugehen.
Am Sonntag ist Welttag der Suizidprävention. Für Miriam Flüß und andere Betroffene ein besonderer Tag, an dem sie in einem Gottesdienst in der Hamburger Hauptkirche St. Jacobi der Verstorbenen gedenken, Kerzen für sie anzünden.
Depression: Weder Medikamente noch eine Therapie konnten André helfen
Am 14. November 2016 beschloss ihr Freund André, sein Leben zu beenden. Er litt an schweren Depressionen, drei Jahre lang erlebte Miriam Flüß mit ihm ein ständiges Auf und Ab. Weder Medikamente noch eine Therapie konnten ihm helfen. Nur im Tod schien André einen Ausweg zu sehen.
Fast sieben Jahre ist dieser Tag nun her. Und Miriam Flüß erinnert sich an viele Details. „Ich hatte an dem Morgen schon ein komisches Gefühl und wollte meine Sachen aus dem Büro holen und zu Hause arbeiten“, erzählt sie beim Treffen in der Eppendorfer Wohnung.
Als sie mittags aus dem Büro kam, entdeckte sie ihren Freund erhängt im Schlafzimmer. Ihre erste Reaktion war ein Aufschrei: „Nein!“ Dann schaltete sich ihr Autopilot ein. Notruf wählen, warten.
Depression: Ihr Partner war ihr entglitten – nie dachte sie daran, dass er sich umbringt
„Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass er diesen Schritt geht“, sagt sie. Sie schildert alles ruhig und bedächtig, gefasst, und sie erzählt ihre Geschichte, weil das Thema Trauer ihr so wichtig ist.
Miriam Flüß ist nach dem Tod ihres Freundes in der gemeinsamen Wohnung geblieben. „Das haben viele nicht verstanden, aber das hier ist mein Schutzraum, mein Nest.“
Traumatisch war es nicht, André erhängt aufzufinden. „Er sah ganz friedlich aus.“ Schlimm waren die vielen Polizisten, Sanitäter, der Notarzt, die Spurensicherung, die in die Wohnung stürmten. „Dieser Kontrollverlust war das Traumatische, meine Wohnung voller fremder Menschen.“
Einen Abschiedsbrief an die Hinterbliebenen hinterlassen nur die wenigsten
Ein Jahr lang haben sie die Bilder der vielen Menschen in ihrer kleinen Erdgeschosswohnung verfolgt. Aber da war auch der Polizeibeamte, der das einzig Richtige tat. „Er nahm mich einfach in den Arm, das war mein Anker.“ Später bedankte sie sich bei dem Polizisten für diesen Trost, diese Anteilnahme.
Einen Abschiedsbrief hat André ihr nicht hinterlassen. „Das machen tatsächlich die wenigsten, die Suizid begehen“, sagt sie. Und was hätte dort schon drinstehen sollen, was sie nicht ohnehin weiß. Dass sie so stark sei zum Beispiel, das habe ihr ihr Freund kurz vor seinem Tod gesagt. Und dass er sie liebt.
Depression übernahm das Leben – ihr Freund war antriebslos, voller Selbstzweifel
Bis zu diesem Montag im November hatten Miriam und André 15 gemeinsame, überwiegend schöne Jahre. Nur in den letzten drei Jahren schlich sich die Depression in Andrés und damit auch in ihr Leben. Die Krankheit übernahm sein ganzes Sein. Der Grund dafür ist gar nicht klar.
Er entwickelte die typischen Symptome: Er war antriebslos, hatte Schwierigkeiten, in den Tag zu starten, arbeiten konnte er gar nicht mehr, seine Gedanken fuhren Karussell, er sah Probleme, wo es keine gab, betrachtete so vieles von der negativen Seite, konnte keine Entscheidungen fällen, quälte sich mit Selbstzweifeln.
Und dann dieser Wechsel zwischen antriebslosen Phasen und überbordender Energie, die krankhaft war. In diesen Phasen lebte er seine Kreativität bis spät in die Nacht aus, malte, fotografierte, war gleichzeitig anderen Menschen gegenüber distanzlos.
„Gerade diese Phasen waren für mich als Partnerin besonders belastend. Er ist mir entglitten“, sagt Miriam Flüß.
Trauer: Vor dem Selbstmord war André humorvoll, ein neugieriger und offener Mensch
Dabei war André so humorvoll, als sie sich im Verlag kennenlernten. Er war neugierig auf das Leben, auf die Menschen, das hatte sie so sehr an ihm fasziniert. „Es war die ganz große Liebe, er war mein Soulmate“, sagt Miriam Flüß. Ihr Seelenverwandter.
Sie jobbte dort im Verlag als Studentin, André war im Marketing. Später betrieben die Journalistin und ihr Partner einen gemeinsamen Reiseblog, waren auch viel in Südafrika unterwegs. „Dorthin kann ich noch immer nicht reisen“, sagt sie.
Streit gab es in der Zeit seiner Depression keinen. Klar war Miriam Flüß traurig, hilflos, auch mal wütend. Aber sie wusste immer: Es ist eine Krankheit, er kann nichts für seine Stimmungsschwankungen.
Eine gute Freundin ist nach dem Suizid sofort für sechs Wochen bei ihr eingezogen, weitere Freunde, ihre Familie und auch die Familie von André standen sich gegenseitig zur Seite. Immer noch. „Andrés Schwester ist mir seitdem besonders nah.“ Eine Therapie, um das Erlebte zu verarbeiten, brauchte Miriam Flüß nicht.
Selbsthilfegruppe gibt Miriam Flüß Kraft – nun leitet sie selbst eine solche Gruppe
Sie hat einen anderen Weg der Heilung gefunden und sich drei Monate nach dem Selbstmord ihres Freundes einer Selbsthilfegruppe angeschlossen. Diese Treffen mit Gleichgesinnten geben ihr Kraft. „Du fühlst dich dort aufgehoben bei diesen unterschiedlichen Menschen jeden Alters, aus unterschiedlichen Milieus.“
Das gibt ihr so viel Kraft, dass Miriam Flüß sich zur Trauerbegleiterin ausbilden lässt und ebenfalls solche Selbsthilfegruppen mit anleitet. „Gerade bei Suizid geht es um Themen wie Schuld und das ,Warum?’“, sagt sie. Es geht darum, wie es nun weitergeht. Die Teilnehmer machen Gefühlsübungen, um herauszufinden, wo sie stehen.
„Trauer, das ist ein Gefühlschaos aus Wut, Sehnsucht, aber auch Lebenshunger“
„Trauer, das ist ein abstraktes Gefühlschaos“, sagt Miriam Flüß. Das ist nicht immer nur weinen. Dazu gehört ein wahrer Gefühlscocktail aus Wut, Sehnsucht, aber auch Lebenshunger. „Trauer hat viele Facetten und ist die natürliche Reaktion auf den Verlust eines nahestehenden Menschen oder auch Tieres.“ Trauer ist Lebensarbeit, sagt Miriam Flüß.
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Und wo steht sie gerade? „Ich bin auf einem gutem Weg. Trauer und Verlust sind da, aber ich habe meinen Weg gefunden.“ Ihr Pfad ist unter anderem die sinnstiftende Arbeit, andere Trauernde zu begleiten. „Das empfinde ich als Geschenk, ich bin im Frieden mit mir. Mal traurig, aber auch wahnsinnig dankbar für die Zeit mit André.“
Hilfe für suizidgefährdete Menschen und ihre Angehörigen in Hamburg
Hamburgisches Krisentelefon: 040–428 11 3000. Bei akuten psychischen Krisen beraten Sie erfahrene Fachkräfte in den folgenden Zeiten am Telefon: Mo–Do 17–23.30 Uhr, Fr–Sbdmorgen 17–7.30 Uhr, Sbd– Somorgen 10–7.30 Uhr, So + Feiertage 10–23.30 Uhr.
Telefon-Seelsorge (kostenfrei) 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr für alle: 116 123
Evangelische Telefon-Seelsorge: 0800 1110111, Katholische Telefon-Seelsorge: 0800 1110222, Chat– und Mail-Beratung der Telefon-Seelsorge: online.telefonseelsorge.de
Trauer: Hier finden Hinterbliebene in Hamburg Hilfe und Unterstützung
Mehr als 10.00 Menschen sind es jedes Jahr in Deutschland, die im Suizid den Tod finden. Das sind fast dreimal mehr als im Straßenverkehr sterben. Noch immer fällt es gesellschaftlich schwer, über Suizid und die Gedanken daran ins Gespräch zu kommen. Doch über Suizid zu reden, kann aus Einsamkeit befreien.
In diesen Anlaufstellen zum Beispiel:
- AGUS – Angehörige um Suizid, offene Selbsthilfegruppe, Treffen an jedem ersten Sonntag im Monat von 14 bis 16 Uhr im Gemeindesaal der St. Jakobi Kirche. Infos auf www.agus-selbsthilfe.de, direkter Kontakt zur Hamburger Gruppe hamburg@agus-selbsthilfe.de
- Vergiss mein nicht, geführte Trauergruppen für Suizid-Hinterbliebene, www.vergissmeinnicht-trauer.de
- Verwaiste Eltern in Hamburg-Eimsbüttel ist aus einer Gruppe Eltern entstanden, deren Kinder gestorben sind. Die Eltern bieten seit 31 Jahren Trauerbegleitung und Trauerberatung in Hamburg und über die Grenzen hinaus an. www.verwaiste-eltern.de
Der Gedenkgottesdienst am Welttag der Suizidprävention am Sonntag, 10. September, beginnt um 18 Uhr in der Hauptkirche St. Jacobi unter Leitung von Hauptpastorin Pröpstin Astrid Kleist.