Bergedorf. Er saß am Bahnhof Bergedorf, erkennbar krank. Sandra G. rief den Krankenwagen. Nun hadert die junge Frau damit, dass er dennoch starb.
Sie hat es festgehalten, in einem kurzen Video, nur 18 Sekunden lang. Da sitzt Pawel Nowak (Name geändert, der richtige Name ist der Redaktion bekannt) auf einer Isomatte, kratzt mit einem Stöckchen den Schmutz aus den Ritzen des Asphalts. Tee und Franzbrötchen vor sich hat der polnische Obdachlose nicht angerührt. Hände und vor allem die Füße des Mannes sind weiß und verschrumpelt. Sein Gesicht ist nicht zu sehen, doch er muss ein desolates Bild abgeben, denn Stimmen sind zu hören, es müsse sich jemand kümmern. Sandra G., die die Szene am Bergedorfer Bahnhof filmt, sagt, ja, sie kümmere sich, ein Krankenwagen sei bereits unterwegs.
Der Krankenwagen kam auch wirklich an diesem 9. Oktober 2023. Und doch ist Pawel Nowak jetzt tot. Der Pole starb zwei Tage später im Agaplesion Bethesda Krankenhaus Bergedorf im Alter von erst 46 Jahren. Und Sandra G., 28-jährige Auszubildende aus Bergedorf, ringt deswegen noch immer um Fassung. Hatte Pawel Nowak wirklich die Hilfe, die er brauchte? Wartete er zu lange und ohne Hilfe in der Notaufnahme? Ging alles korrekt im Bethesda zu?
Obdachloser stirbt im Agaplesion Bethesda Krankenhaus Bergedorf
Sandra G. stellt das alles infrage. Die Klinik betont indes: „Wir haben alles in unserer Macht Stehende getan. Auch mit hohem finanziellen Aufwand“, sagt Sprecher Matthias Gerwien. Mit Blick auf den Datenschutz darf die Klinik zwar keine weiteren medizinischen Details nennen. Sie ist aber bereit, sich allen Fragen zu stellen, die vielleicht von offizieller Stelle kommen mögen, da die junge Frau online Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung erstattet hat.
Nun könnte dies eine Geschichte sein von David und Goliath. Von einer jungen Frau, die gegen eine mächtigere Klinik kämpft. Von Behandlungsabläufen, die vielleicht optimal waren, vielleicht auch nicht. Vielleicht ist es aber eher eine Geschichte, die jenseits gegenseitiger Vorwürfe erzählt werden sollte. Eine Geschichte, die einfach traurig sein darf.
Sandra G. half ihm öfter mit Spenden: „Er war eine liebe Seele“
Denn Pawel Nowak starb allein und fern seiner Heimat. Er starb in einem Land, dessen Sprache er fast gar nicht beherrschte. Sandra G., die ihm öfter Kleidung und Schuhe brachte und mit ihm Polnisch sprach, sagt über ihn: „Er war eine liebe Seele.“ Man habe auch gemerkt, dass er ein Mann war, der mal ein bürgerliches Leben geführt hat. Als sie ihn gefragt habe, warum er auf der Straße gelandet sei, habe er ihr an jenem Tag im Krankenwagen geantwortet: „Das ist eine lange und sehr traurige Geschichte.“ Doch er konnte sie nicht mehr erzählen.
Vielleicht auch deshalb ringt Sandra G. mit dem Geschehenen. An jenem Montag habe sie den Krankenwagen gerufen, weil es dem 46-Jährigen erkennbar nicht gut ging, erzählt sie. Er habe zunächst aber nicht in die Klinik gewollt: „Er hatte Angst um sein Hab und Gut. Ich habe gesagt, er soll sich keine Sorgen machen: Ich kaufe ihm eine neue Isomatte, einen neuen Schlafsack und eine neue Decke.“
Sie habe Pawel Nowak dann ins Bethesda begleitet, durfte aber nicht in den Wartebereich der Notaufnahme mit hinein. Als sie um 22 Uhr mit ihrem Freund zurückgekehrt sei, um dem Obdachlosen wie versprochen Kleidung zu bringen, habe sie die Auskunft bekommen, dass er noch immer warte und nicht auf einem Zimmer sei.
Die Leber des Mann soll unrettbar zerstört gewesen sein
Später dann habe sie erneut angerufen, um sich nach ihm zu erkundigen und erfahren, dass Pawel Nowak ins Koma gefallen sei. Informationen, die die junge Frau nur erhielt, weil sie sich als Nichte des Mannes ausgab. Am nächsten Tag sei die Info dann am Telefon präzisiert worden. Pawel Nowak sei im Behandlungszimmer bewusstlos auf dem Boden liegend vorgefunden worden, mit Herzstillstand. Seitdem liege er im Koma. Am Mittwochabend dann habe die Klinik sie abends angerufen, um ihr mitzuteilen, dass Pawel Nowak gestorben sei.
Warum fiel der 46-Jährige ins Koma? Wurde ihm rechtzeitig geholfen? Wurden rechtzeitig Blutwerte genommen? Sandra G. wollte Antworten und erhielt später am Telefon umfangreiche Infos aus der Klinik. Die Leber des Mannes sei unrettbar geschädigt gewesen, sagten ihr Ärzte. „Seine Leber hat irgendwelche Stoffe ausgeschieden, die seine Blutbahn vergiftet haben“, gibt sie wieder. Das habe auch den Herzstillstand verursacht. Ihr wurde auch gesagt, „dass man das nicht hätte verhindern können, selbst wenn er früher ins Krankenhaus eingewiesen worden wäre. Es wäre so oder so passiert.“ Schon vor dem Moment, als er die Klinik betrat, sei sein Schicksal vorgezeichnet gewesen, er hatte keine Chance. Die Leber war zu kaputt.
Pawel Nowak wollte sich nicht an Überwachungsmonitor anschließen lassen
Doch sie wisse eben nicht, ob es stimme, und ob wirklich alles getan worden sei. Zumal Pawel Nowak wohl auch kein einfacher Patient war. Der Arzt habe ihr gesagt, dass die Kommunikation mit dem Polen sehr schwierig gewesen sei. Er sei rebellisch gewesen, habe beispielsweise im Behandlungszimmer geraucht. Nach bz-Informationen wollte sich Pawel Nowak auch nicht an einen Überwachungsmonitor anschließen lassen, weshalb alle paar Minuten nach ihm geschaut wurde. Es soll ihm aber alle Hilfe zuteilgeworden sein.
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Auch das Bethesda trauert. „Wir treten als Krankenhaus an, um Menschenleben zu retten“, sagt Bethesda-Sprecher Matthias Gerwien. Aber es gebe immer Fälle, dass ein Patient, der mit schweren Erkrankungen in die Notaufnahme kommt, nicht gerettet werden könne: „Gerade bei jungen Menschen sind solche Verluste immer auch eine Katastrophe.“
Sandra G. hat sich zunächst selbst Vorwürfe gemacht. Inzwischen weiß sie, dass sie alles Menschenmögliche getan hat. Und sie tröstet sich, dass sie im Krankenwagen mit Pawel Nowak noch ein bisschen reden konnte, dass er dort nicht allein war. „Er hat mich gefragt, warum ich so lieb bin und ihm helfe.“ Und dass sie „wie eine Göttin“ sei, weil sie ihm einmal eine warme Daunendecke gebracht habe, als er fror. Und er versprach, ihr seine Lebensgeschichte zu erzählen. Dazu kam es nie. Sandra G.: „Ich hätte sie so gerne erfahren.“