Escheburg/Lohbrügge. Eisenbahnfan (79) dokumentiert Fotos von historischen Inschriften und erklärt, was die Walzzeichen in den Schienen bedeuten.
Am Computerbildschirm klebt ein Zettel: „Louis, lila Stick, Bilder im blauen Feld öffnen“. Olaf Mensch hat immer viele Fragen, wenn Louis Stulken bei ihm in Escheburg vorbeikommt. Der 17-Jährige hilft dem 79-Jährigen dabei, seine gut 3500 Fotos von Eisenbahnen und Walzzeichen auf der eigenen Webseite zu sortieren. Das ist viel Arbeit für den Stadtteilschüler vom Richard-Linde-Weg. Seinen Lohn bekommt er von der 1999 gegründeten Schülerfirma Netthelp. Sie kennt sich mit Webdesign und Servertechnik aus – nicht aber mit den kilometerlangen Eisenbahnschienen, die einst durchs Deutsche Kaiserreich führten, „einschließlich Elsaß-Lothringen und Ostpreußen“, betont Olaf Mensch.
Mindestens 1000 Bahnhöfe hat Olaf Mensch schon besucht und Stellwerke fotografiert, Hemmschuhe, Rampen und Prellböcke. Am spannendsten aber sind für ihn die meist 130 Meter langen Schienen, die – per Gesetz verordnet – alle sechs Meter ein Zeichen haben mussten, das in den Steg gewalzt wurde: HO beispielsweise steht für das Hüttenwerk Oberhausen, FAH für die Friedrich-Alfred-Hütte der Firma Krupp in Rheinhausen. So steht also hinter jedem Walzzeichen ein Werksname.
S49 – Eisenbahnfan versteht diese und andere Zeichen auf Schienen
Wie bitteschön kommt man zu einem solchen Hobby? „Ich stand mal an einem Bahnhof bei Nürnberg und wunderte mich über eine Schiene, auf der Osnabrück stand“, erinnert sich Olaf Mensch – und fand neugierig in Eisenbahnmuseen und -zeitschriften heraus, dass das 1868 gegründete „Eisen- und Stahlwerk zu Osnabrück“ Bessemer Stahlschienen herstellte und in starker Konkurrenz zu den Unternehmen im Ruhrgebiet und Georgsmarienhütte stand. Dazu findet sich oft der Hinweis S49. Das heißt, dass ein Meter Schiene genau 49 Kilogramm wiegt.
Dazu erklärte ihm ein Freund, dass stets auch die Jahreszahl der Lieferung eingewalzt ist, damit eine Gewährleistung zurückzuverfolgen ist: XG stand also für zehn Jahre Garantie. „Das galt aber nicht für stark belastete Kurven und nicht für Tunnel, in denen die Rauchgase der Dampfloks waberten. Außerdem nicht für Bahnhöfe, an denen viel gebremst und beschleunigt wird.“
Erste Bahnstrecke führte 1835 von Nürnberg nach Fürth
Die ersten Schienen waren aus schnell zerbrechlichem Gusseisen und höchstens 7,5 Meter lang – damit sie auf den Pferdefuhrwerken transportiert werden konnten. „So war das auch bei der ersten Bahnstrecke im Jahr 1835, die sechs Kilometer von Nürnberg nach Fürth führte“, weiß Olaf Mensch.
Genau studieren lassen sich alle Erklärungen unter www.walzzeichen.de, wo der Leser auch in die Zeit der deutschen Königreiche und Fürstentümer geführt wird, als es noch 200 Eisenbahngesellschaften gab. „Ich wollte 100 Jahre Fertigung nachweisen und habe das mühelos geschafft“, sagt der 79-Jährige stolz und erfuhr, dass manche Schiene ein schräges Walzzeichen bekam: Bei „Phönix 1855“ etwa steht der Buchstabe N verkehrt herum. Olaf Mensch erfuhr: „Damals konnten manche Fräser nicht lesen. Bei Phönix in Eschweiler hat man ihnen deshalb später Schablonen gegeben.“
Die Deutsche Bahn kauft heute im Ausland
175 Schienenlieferanten habe es einst gegeben, „davon mindestens 13 aus dem Ausland“, verweist er etwa auf Importe aus polnischen und tschechischen Stahlwerken. Es sei schon schade, dass in Deutschland die letzten Schienen im Jahr 2013 bei der Thyssen Schienentechnik in Duisburg produziert wurden – aus hochfestem Stahl mit gehärteter Lauffläche. „Seither aber gibt es in Deutschland keinen Schienenhersteller mehr. Die Deutsche Bahn kauft im Ausland, etwa in Österreich“, erzählt Olaf Mensch.
Er selbst ist inzwischen ein gefragter Fachmann, der auch bei Modellbahnclubs Vorträge über Walzzeichen hält. Ab und zu nimmt er den 17-jährigen Louis mit auf den Dachboden, wo eine Märklin-Schmalspuranlage steht mit 22 Metern Außenkreis: „Die habe ich 1992 angefangen, jetzt ist die H0 auch beleuchtet“, erzählt der Senior, der seinem jungen Freund auch „ganz nebenbei“ aus seiner Lebensgeschichte berichtet. Und die war ebenso hart und wenig geradlinig.
Auch der Lebensweg von Sammler Olaf Mensch ist ungewöhnlich
Als die Eltern sich nach dem Krieg scheiden ließen, wuchs Olaf in Heimen auf, war auch zwei Jahre lang im Bergedorfer Kinderheim an der August-Bebel-Straße und besuchte die Jungenschule an der Spieringstraße. Danach wurde er Schornsteinfeger und betreute sechs Jahre lang das Bergedorfer Villenviertel – vom Möörkenweg bis zur August-Bebel-Straße: „Da war ich auch alle sechs Wochen bei Kurt Körber. Auch bei Frau Wagner an der Wentorfer Straße, der die Bergedorfer Zeitung gehörte. Und immer sehr gern habe ich mich bei der Kundschaft festgeklönt. Später in Blankenese durfte ich mal mit Heidi Kabel Kaffee trinken“, erinnert er sich.
Als jedoch der Schwefel aus den Ölheizungsanlagen ihm nicht mehr guttat, wurde er Leiharbeiter. Als Kraftfahrer etwa lieferte er auf Werften Stahlmatten und Eisenträger aus. Der Mann war flexibel: Später wurde er Vertreter für Strumpfhosen, verkaufte auch Farbspritzanlagen und zu guter Letzt Geldschränke: „Alle Hamburger Schulen brauchten Geldschränke, auch die Verkehrsämter für ihre Blanko-Führerscheine. Edeka war ebenso Kunde wie viele Juweliere, etwa Cartier in München.“
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In jener Zeit wohnte der Außendienstler mit seiner dritten Frau und seinem dritten Kind am Duwockskamp – und fand noch genügend Zeit für ein Ehrenamt: „Ich war beim Bergedorfer THW. Wir haben an Bushaltestellen Schnee geschippt, die Deiche erhöht und sind mit Hilfsgütern nach Russland und Litauen gefahren“, erzählt der Mann, der 33 Jahre lang beim Technischen Hilfswerk war, zuletzt – wie soll es fast anders sein – als Zugführer.