Hamburg. 1400 Schüler hörten Ivar Buterfas-Frankenthal zu, als er von seiner Diskriminierung zur NS-Zeit berichtete – und sie warnte.
Heute gebe es eine „größere Unruhe auf den deutschen Straßen als zur Nazizeit“, meint Ivar Buterfas-Frankenthal – und denkt an die Morde in Mölln, Halle und Hanau: „Selbst der Bundestag ist nicht mehr sicher“, sagt der 90-Jährige, der neben seiner Frau Dagmar auf dem Podium der Aula sitzt und ruft: „Wählt kein braunes Gesindel, diese Leute führen nichts Gutes im Schilde.“ Vehement und eindrücklich warnt der Mann vor Übergriffen und Gefahren für die Demokratie – und beeindruckt gut 450 Schüler am Richard-Linde-Weg: „Es darf nicht sein, dass das Wort Jude heute wieder ein Schimpfwort auf den Schulhöfen ist. Seid wachsam!“
Als „letzter Zeitzeuge“ und Opfer des Nationalsozialismus wurde der Hamburger eingeladen, vor der Oberstufe zu sprechen. Es hörten zudem Schüler der Wichern-Schule und des Bornbrook-Gymnasiums zu. Außerdem wurden per Livestream mit vier Kameras sieben weitere Schulen zugeschaltet, darunter das Gymnasium Wentorf , die Gretel-Bergmann-Schule, die Stadtteilschule Lohbrügge und das Hansa-Gymnasium – insgesamt 2800 Ohren waren ihm gewiss: „Meine gute Freundin Heidi Kabel hatte immer Lampenfieber. Ich aber könnte problemlos vor einem gefüllten Millerntor-Stadion sprechen.“
Ivar Buterfas-Frankenthal: „Polizisten schützen unsere Demokratie“
Es sollte seine 1576. Veranstaltung sein. Erst am Vortag habe er vor 300 Polizisten in Osnabrück gesprochen, denn „sie schützen unsere Demokratie und sorgen für Gerechtigkeit“, erklärte der 90-Jährige und weist doch gern darauf hin, welche Rolle die Polizei im Dritten Reich gespielt hatte. Und überhaupt sei so vieles vergessen worden, das dürfe nicht sein: „Die Kinder heute kennen nicht einmal mehr den Namen Albert Speer. Das war doch Hitlers Architekt, der Berlin abreißen und ein neues Germanien schaffen wollte.“
Gegen das Vergessen kämpft Ivar Buterfas-Frankenthal schon viele Jahrzehnte lang an. So auch als Initiator des 1987 gegründeten Förderkreises „Rettet die Nikolaikirche“, wo er beteiligt war, Spenden in zweistelliger Millionenhöhe zu sammeln. Die erhaltende Ruine der Hauptkirche gilt als Mahnmal „den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft zwischen 1933 und 1945“. Der alte Mann grinst: „Auch König Charles wird sie jetzt bei seinem Hamburg-Besuch anschauen. Aber da passe ich nicht hin, auf diesen Jahrmarkt der Eitelkeiten. Ich habe genug Aufmerksamkeit bekommen“, sagt der 90-Jährige, der das 2020 ihm verliehene Bundesverdienstkreuz Erster Klasse am Revers trägt – auch für seinen Einsatz zum Erhalt der Gedenkstätte des KZ-Auffanglagers Sandbostel.
Sein viertes Buch heißt „Von ganz, ganz unten“
Nicht unvorbereitet kamen die Schüler zum Vortrag, in dem der Holocaust-Überlebende sein viertes, jüngst erschienenes Buch bewarb: „Von ganz, ganz unten“ steht vor den 532 Seiten (Mediahouse-Verlag, 32 Euro), die sein komplettes Leben beschreiben – samt Vorwort von Bürgermeister Dr. Peter Tschentscher, der dem Ehepaar dafür dankt, seit 30 Jahren in Schulen und Universitäten vor Populismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus zu warnen.
Ivar Buterfas-Frankenthal wurde 1933 als Sohn von Artisten geboren, er wuchs mit acht Geschwistern in Hamburg auf. Seine Mutter war christlichen Glaubens. Sein jüdischer Vater Felix wurde 1934 ins Konzentrationslager Esterwegen eingewiesen. Kurz nach seiner Einschulung im Jahr 1938 musste er die Schule verlassen, da er „Halbjude“ war: „Ich durfte insgesamt nur sechs Wochen lang zur Schule gehen. Die Nazis haben mir meine Kindheit und meine Jugend geraubt“, sagt er erbost.
Acht Reichsmark für den Judenstern
Die Familie wurde von den Nationalsozialisten in einem „Judenhaus“ untergebracht. Dank der Hilfe eines Freundes der Familie, der bei der Gestapo tätig war, gelang Mutter und Kindern die Flucht. Zunächst wohnten sie in der Tucheler Heide, später in einem zerbombten Keller in Hamburg-Horn. „Es war eine Schande, unsere Mutter musste sogar acht Reichsmark für den Judenstern bezahlen“, erinnert er.
Das Schlimmste aber war, dass ihm die Nationalsozialisten die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen: „Ungültig“ steht quer über dem Ausweis, fortan war er staatenlos und musste sich mit einem „Fremdenpass“ regelmäßig bei den Behörden melden. „Ich war ein Untermensch, ohne feste Wurzeln und ohne soziale Rechte“, erinnert er verbittert diese zweite Diskriminierung.
1964 erlangte er die deutsche Staatsbürgerschaft zurück. Buterfas-Frankenthal arbeitete als Fliesenleger und Neuheitenverkäufer: „Ich verkaufte Dosenöffner und Haarwasser auf den Hamburger Wochenmärkten. Deshalb kann ich so gut reden“, meint er schmunzelnd. 1971 gründete er ein Unternehmen, das sich auf Fassadensanierungen spezialisierte.
Aber 1975 wandte er sich mehr seinem Hobby zu: Der Amateurboxer veranstaltete Boxkämpfe, auch in einem Zelt auf dem Heiligengeistfeld: „Ich hatte 14 Profis, darunter zwei Europameister“, sagt der ehemalige Freund von Max Schmeling: „Aber nach nur zwei Jahren wandte ich mich wieder dem bürgerlichen Leben zu.“
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So lange er es schafft, wolle er mahnen und erinnern, beteuert der 90-Jährige, der stets an der Seite seiner Ehefrau auftritt und seit nunmehr 67 Jahren verheiratet ist. Dagmar Buterfas-Frankenthal hat übrigens eine ebenso unschöne Lebensgeschichte zu erzählen: Ihre christliche Mutter ließ sich auf Druck der Nationalsozialisten scheiden, während ihr Mann gerade als Arzt bei einem Kongress in Amerika war. Bei seiner Rückkehr wurde er sofort verhaftet und im KZ Buchenwald ermordet.