Bergedorf. 1927 eingeweihter Verwaltungssitz wird zum Symbol des Selbstbewusstseins der Stadt. Und niemand ahnt, was elf Jahre später passiert.
Tausende Menschen strömen die Wentorfer Straße hinauf am Vormittag jenes 12. März 1927. Darunter 160 geladene Gäste. Die ganze Stadt ist ein einziges Fahnenmeer, die Polizei muss die Wentorfer Straße sperren, damals einzige Hauptstraße von Hamburg nach Berlin. Und alle Schüler haben an diesem Sonnabend ausnahmsweise schulfrei. So feiert Bergedorf vor fast 100 Jahren die Einweihung des Rathauses – seines ersten und bis heute immer noch einzigen.
„Der heutige Tag ist ein Markstein in der Geschichte unserer Stadt“, sagt Bürgermeister Wilhelm Wiesner (SPD) vor erlesenem Publikum im Spiegelsaal, wo sich – angereist per „Automobil“ – auch Hamburgs Bürgermeister Carl Wilhelm Petersen, sein Lübecker Amtskollege Paul Löwigt und Hamburgs Bürgerschaftspräsident Rudolf Ross eingefunden haben. Fast das gesamte Hamburger Parlament ist anwesend, zudem Delegationen der „Schwesterstädte“ Cuxhaven und Geesthacht sowie der Vier- und Marschlande.
Rathaus ist Bergedorf „neues Wahrzeichen“ und Symbol seines Selbstbewusstseins
Die Bergedorfer Zeitung widmet dem Ereignis rund um das „neue Wahrzeichen unserer Stadt“ die wohl erste Titelseite, die ein großformatiges Bild schmückt. Wenn es damals auch nur eine Zeichnung ist. Fast drei Seiten umfassen die Berichte, die unter der Überschrift „Zur Rathausweihe“ stehen. Zudem gibt es eine 28 Seiten starke Sonderbeilage zur sonst nur 16 Seiten dicken Wochenendausgabe. Und natürlich wird in der folgenden Ausgabe noch nachgelegt.
Tatsächlich handelt es sich um einen Meilenstein im Bergedorfer Selbstbewusstsein. In den Jahrhunderten seit der Verleihung der Stadtrechte anno 1215 hat es noch nie ein solches Symbol der Eigenständigkeit gegeben. Lange saß die Stadtverwaltung mit Polizei, Amtsgericht und den über Bergedorf herrschenden Landesherren aus Hamburg und Lübeck im Schloss. Und als das im Ersten Weltkrieg zu eng wurde, war auch nicht mehr drin, als den Leerstand der ehemaligen Hansaschule an der Wentorfer Straße, die spätere Handelsschule, zum „Stadthaus“ zu erklären.
SPD entwickelt das neue Bergedorf mit einem riesigen staatlichen Investitionsprogramm
Dieses Provisorium auch in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre noch immer durchzuschleppen, widersprach vor allem dem Selbstverständnis der Bergedorfer SPD. Die Genossen hatten es sich seit der Wahl „ihres“ Bürgermeisters Wilhelm Wiesner 1919 nämlich zur Aufgaben gemacht, ein sozialdemokratisches Bergedorf zu schaffen, das die Stadt weiterentwickelte und alle ihre Bürger dabei mitnahmen, besonders auch die Arbeiter und die Armen.
„Es war ein riesiges staatliches Investitionsprogramm, was sich die Sozialdemokraten auf die Fahnen geschrieben hatten“, schreiben Christel Oldenburg und Michael Schütze in der SPD-Chronik „Unbeugsam und leidenschaftlich“. Einerseits wurde die Wohlfahrt deutlich ausgebaut mit Armenfürsorge, Medizin, Bildung, Schulspeisungen und sogar der ersten Kindertagesstätte, was die bürgerlichen Parteien und auch die konservative Bergedorfer Zeitung immer wieder scharf kritisierten.
Nie wurde in der Stadt soviel gebaut, wie zwischen 1922 und 1931
Andererseits, so Historikerin Christel Oldenburg: „Im ganzen 20. Jahrhundert wurde im Bergedorfer Kerngebiet nie mehr so viel gebaut, wie in der kurzen Zeitspanne von 1922 bis 1931.“ Der Bauboom ließ moderne Wohnungen auf dem Gojenberg entstehen, um die Arbeiter aus ihren viel zu kleinen Elendsquartieren ohne sanitäre Einrichtungen etwa am Weidenbaumsweg zu holen.
Doch es wurden auch ganz andere Projekte angegangen. So konnte 1926 die neue Feuerwache an der Chrysanderstraße eingeweiht werden, die heute Sitz der Freiwilligen Feuerwehr Bergedorf ist. Im Jahr 1927, gleichzeitig mit dem Rathaus, erhielt das Amtsgericht seinen Neubau an der Ernst-Mantius-Straße. Es wurde in diverse Schulen investiert – und vor allem in eine „Warmbadeanstalt“, von der die Sozialdemokraten schon seit 1890 träumten, damit die Körperhygiene nicht länger vom Geldbeutel abhängig war.
„Warmbadeanstalt“ am Reetwerder – Vorbildlich für ganz Deutschland
Auch an diesem Traum wurde seit dem Ende der Inflation und ihrer Folgen ab 1925 geplant, bevor er schließlich am Reetwerder als Ergänzung und Erweiterung der alten Flussbadeanstalt Bille-Bad tatsächlich realisiert wurde. Am 1. Juni 1929 feierte man die Einweihung des bis heute erhaltenen Backsteinbaus, der damals anstelle von Arztpraxen und Anwaltskanzleien Badewannen mit Warmwasser und sogar Wellness-Angebote für Arbeiterfamilien umfasste.
Die Bergedorfer Zeitung lässt dazu einen „anerkannten Experten für die Errichtung von Volksbädern“ zu Wort kommen: Er kenne „in ganz Deutschland nur noch ein einziges Bad, das dem jetzt hier in Bergedorf geschaffenen, was Zweckmäßigkeit und Schönheit betreffe, an die Seite zu stellen sei – und zwar das städtische Bad in Kaiserslautern.“
Neues Freizeitareal für alle Bergedorfer: Der Park am Schillerufer wird gebaut
Ergänzt wurde das nicht allein um die modernisierte Badeanstalt, sondern gleich um einen ganzen Park: Auf der gegenüberliegenden Seite der Bille legten Bergedorfs Stadtplaner eine große Grünfläche samt Promenadenweg und sogar ein Bootshaus an, in dem man sich für die Freizeit auf dem Wasser Ruderboote und andere schwimmfähige Gegenstände ausleihen konnte. „Bergedorfs Sozialdemokraten schufen mit dieser Anlage ein Refugium für ihre Klientel, aber natürlich auch darüber hinaus in bürgerliche Lager“, fasst Christel Oldenburg zusammen.
Motive dieses Freizeitgedankens finden sich auch beim Rathaus, das zwei Jahre vor seiner Einweihung nämlich nichts anderes war als Bergedorfs größte Villa samt einem Park, der sich von der Wentorfer Straße über den Schulenbrooksweg bis zur August-Bebel-Straße zog. Alles zusammen kaufte die Stadt am 1. April 1925 den Erben des Gummistiefel-Produzenten Hermann Friedrich Messtorff ab.
Stadt kauft die größte Villa Bergedorfs für nur 200.000 Mark
Den Preis von 200.000 Mark schätzte Bergedorfs Stadtbaurat Wilhelm Krüger als sehr günstig ein, weshalb Bürgermeister Wiesner und der Magistrat sofort zuschlug. Auch wenn sich die Stadt dafür noch mit 50.000 Goldmark verschulden musste, wie Olaf Matthes und Otto Steigleder in der Rathausgeschichte „Von der Villa zum Verwaltungszentrum“ schreiben. Sie beleuchten anschließend die unter merkwürdigen Umständen nach Monaten gescheiterte Ausschreibung, die schließlich dazu führt, dass Stadtbaurat Krüger zusammen mit dem Hamburger Architekten Georg Lindner die Bauleitung übernimmt.
In diesem Sommer des baupolitischen Stillstands wächst im etwas verwilderten Park – Messtorff ist schon 1915 verstorben – ein ganz anderes Projekt heran: Vermutlich gleich nach dem Grundstückskauf im April wenden sich Bergedorfs Kleingärtner an die Stadt „mit dem kühnen Gedanken, in Bergedorf eine Gartenbauausstellung zu veranstalten“, heißt es in der Bergedorfer Zeitung vom 29. August 1925. Es ist der Bericht über den Festakt und einen „Presse-Rundgang“ zur Eröffnung der „Gartenbauausstellung Bergedorf“, die bis zum 6. September eine Woche lang in den neu gestalteten „Messtorffschen Park“ lockt.
Eine Gartenschau im künftigen Rathauspark verzaubert die Bergedorfer
Nicht nur die damals rund 20.000 Bergedorfer kommen, Zehntausende weitere reisen aus Hamburg und weit darüber hinaus vor allem mit der Eisenbahn an. Die Stadt veranstaltet aus Anlass der Gartenschau sogar einen Schaufensterwettbewerb, um die vielen Tagesgäste außer für den Park auch für die Schönheit der Bergedorfer Innenstadt zu begeistern.
Bei der Schau selbst, deren Schirmherrschaft Bürgermeister Wilhelm Wiesner übernimmt, gibt es alles zu sehen, was Landschaftsbau, Gartengestaltung, Floristik und Gartenkunst zu bieten haben, was aber auch Obst- und Gemüseanbau, Gewächshaustechnik, Düngemitteltechnik, natürlicher oder chemischer Pflanzenschutz anno 1925 schon können. Neben den Kleingärtnern und ihrem Verband sowie etlichen Gartenbaubetrieben der Region beteiligen sich Hamburgs landwirtschaftliche Forschungseinrichtungen, mancher Herstellen von Gartengeräten, sogar Kleintierzüchter, die Schüler der Hansaschule – und natürlich gibt es auch zwei gastronomische Schankzelte.
Auch die alte herrschaftliche Villa Messtorff blüht noch ein letztes Mal auf
Selbst die alte herrschaftliche Villa wird in die „Gartenbauausstellung Bergedorf 1925“ integriert, wie unsere Redaktion berichtet: „Der Spiegelsaal prangt im Schmuck von rund 20.000 Astern. Der Wintergarten, mit einjährigen Pflanzen und Topfpflanzen reich geschmückt, macht einen märchenhaften Eindruck. Und nun treten wir ins Freie, genießen von der Terrasse den wundervollen Blick über das ganze Ausstellungsgelände bis hinüber zur August-Bebel-Straße.“
Und jetzt wird nur noch geschwärmt: „Wir tauchen das trunkene Auge in das lichte Grün der weiten Rasenflächen, in die reichen Schattierungen der vielgestaltigen Bäume und Sträucher, in die überwältigende farbenprächtige Fülle blühender Sommer- und Herbstblumen, Staudenpflanzen und viel mehr, die auf dem weiten Gelände auf unzähligen Beeten, in Sonder- und Mustergärten schier überreich sich entfalten.“
Beim Umbau der Villa zum Rathaus muss erheblich gespart werden
Weniger schwelgen oder gar finanziell aus dem Vollen schöpfen dürfen Stadtbaurat Wilhelm Krüger und sein Architekt Georg Lindner. Vom Start des Rathausbaus am 17. November 1925 an sind sie ständig dabei, die extrem knappen Kostenvorgaben von Bürgermeister und Magistrat einzuhalten. Deshalb entscheiden sie sich etwa gegen eine typische Hamburger Backsteinfassade und wählen stattdessen den kostengünstigeren weinroten Kratzputz, der später zum Symbol der Bergedorfer Eigenständigkeit wird.
Die eben noch in die Gartenbauausstellung integrierte alte Messtorffsche Villa verschwindet vollständig. Sie wird zu einem nüchternen Verwaltungsbau aufgestockt, um den Rathausturm sowie einen Westflügel für die Bürokratie und einen Ostflügel für die Politik mit großem und kleinem Sitzungssaal ergänzt.
Im neuen Verwaltungsbau bleiben herrschaftliche Räume des Vorgängers erhalten
Im Mittelteil des neuen Rathauses hat Wilhelm Krüger in den nur 16 Monaten Bauzeit allerdings doch repräsentative Schmuckstücke des Vorgängerbaus bewahrt: Der Spiegelsaal, das Bürgermeisterzimmer und das östliche Treppenhaus sind Originale aus der Villa. „Sie bilden heute das besterhaltene historische Innenraumensemble neben dem Hamburger Rathaus“, schreiben Matthes und Steigleder.
Gefeiert wird bei der Einweihung am Wochenende 12./13. März 1925 denn auch der zukunftsweisende Neubau mit seinen überraschend repräsentativen Räumen im Erdgeschoss: „Hier in dem neuen Rathaus hat sich unsere Stadt ein Wahrzeichen geschaffen, ein wohnliches Heim für ihre Verwaltung und eine Stätte, würdig, werte Gäste zu empfangen“, sagt Bürgermeister Wiesner in seiner Rede, die Bläser vom festlich geschmückten Balkon unter dem Rathausturm ankündigten.
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Natürlich hält auch Hamburgs Bürgermeister eine Rede, deren Kern auf der Titelseite der Bergedorfer zu lesen ist: „Bergedorf ist nie lediglich ein Vorort der Stadt Hamburg, sondern stets ein echtes Gemeinwesen aus innerer Berechtigung aus eigener Kraft gewesen und geblieben“, sagt Carl Wilhelm Petersen. So gelte „das neue Rathaus als ein Wahrzeichen der Lebenskraft Bergedorfs“.
Bürgermeister Wiesner schließt seine Einweihungsrede mit einem denkwürdigen Wunsch: „Ich hoffe, dass die Beschlüsse der Stadtverwaltung in diesem Hause stets getragen sein mögen von wahrer Menschenliebe und Gerechtigkeit für jeden Bürger.“ Kaum sechs Jahre später übernehmen die Nazis auch im Bergedorfer Rathaus die Macht – und sorgen zum 1. April 1938 mit dem Groß-Hamburg-Gesetz auch dafür, das Bergedorf von einer eigenständigen Stadt zum bloßen Verwaltungsbezirk Hamburgs wird.