Bergedorf. Anfang des 20. Jahrhunderts schiebt die Stadt ein gigantisches Wirtschaftsförderungsprojekt an. Dann überschlagen sich die Ereignisse.
Die Meldung ist ein Schock für Bergedorfs Bürgermeister Dr. Lange und die gesamte Wirtschaft der Stadt: „Die an den Kaibauten am Schleusengraben beschäftigten Arbeiter haben die Arbeit eingestellt, weil der Zimmermeister Lohse den für Wasserbauten festgesetzten Lohn nicht zahlen will“, berichtet die Bergedorfer Zeitung am 8. Juni 1900 über den am Tag zuvor begonnen Streik.
Damit steht still, worauf sich Magistrat und Bürgervertretung nach jahrelangen Verhandlungen und Planungen endlich geeinigt haben: der Bau eines modernen Hafens für den aufstrebenden Industrieort. Als Erweiterung der gut 550 Jahre alten hölzernen und damit ständig baufälligen Anlegestelle im Bereich des heutigen Körberhauses soll der Serrahn eine gemauerte Kaistraße erhalten – zum sicheren Entladen der unzähligen Schuten, die Bergedorf über den Schleusengraben ansteuern. Sogar ein hochmoderner Elektrokran mit für damalige Verhältnisse sagenhaften fünf Tonnen Hebekraft ist vorgesehen.
Streik im Hafen – Bergedorfer sind schockiert
Das Vorhaben strapaziert Bergedorfs Finanzen zwar bis an den Rand des Möglichen, aber es ist entscheidend, um die Logistik für die mittlerweile zahlreichen Industriebetriebe auf sichere Füße zu stellen. „Für Bergedorfer Verhältnisse handelte es sich um die erste gezielte wirtschaftspolitische Maßnahme einer wachsenden Stadt, die ihre Zukunft als Industriestandort sichern wollte“, schreibt Historikerin Christel Oldenburg in Ihrem Heft „Bergedorf – eine Hafenstadt“.
Doch nun steht also plötzlich alles still. Und das, noch bevor die Mauerarbeiten der künftigen Serrahnstraße überhaupt beginnen können. „Wie wir hören, geht der Unternehmer von dem Standpunkte aus, dass die Rammarbeiten, bei denen die Arbeiter auf Flößen oder Schuten sich befinden, nicht zu den Wasserarbeiten befinden“, informiert die Bergedorfer Zeitung ihre Leser – und fährt fort: „Heute Nachmittag wird eine Sitzung des Gewerbegerichtes in dieser Sache abgehalten, in der hoffentlich die Streitfrage ihre Erledigung finden wird.“
Bürgermeister Dr. Hans Lange bietet sich als Vermittler im Arbeitskampf an
Und tatsächlich ergreift Bergedorfs Bürgermeister persönlich das Wort, als beide Seiten sich vor dem Richter treffen. „Vor Eintritt in die Verhandlung gab Dr. Lange die Erklärung ab, dass er gern bereit wäre, in dem ausgebrochenen Streit zu vermitteln“, berichtet die Bergedorfer Zeitung am 9. Juni. Doch die Sache soll sich hinziehen: Insgesamt sechs Tage ruhen die Arbeiten am neuen Hafen ganz, denn jetzt treten weitere Gewerke in generelle Lohntarifverhandlungen. Erst als auch die zum 1. Juli 1900 abgeschlossen sind, kann der Hafenbau wieder durchstarten.
Doch das Aufatmen von Bürgermeister und Magistrat soll nur von kurzer Dauer sein: Mitte Juli macht der Behelfsdamm Schwierigkeiten, mit dem das Wasser des Serrahn von den Arbeiten an der Kaimauer ferngehalten wird: „Der Klopfdamm im Schleusengraben ist, nachdem er fertig war, schon zweimal unterspült worden. Und werden jetzt die größten Anstrengungen unternommen, um die schlammigen Stellen zu dichten“, berichtet die Bergedorfer Zeitung am 14. Juli 1900. Ein Problem, das offenbar nie ganz beseitigt werden kann, tritt es doch den ganzen Sommer über immer wieder auf.
Fette Beute für Hobbyfischer dank niedrigem Wasserstand
Das Wasser wird von dampfbetriebenen Pumpen aus dem eingedeichten Bereich geschöpft, wobei der ungewöhnlich heiße, regenarme Sommer das in Form eines sehr niedrigen Wasserstandes der Bille ebenso unterstützt wie die Wasserregulierung durch die Curslacker Schleuse. Sie war schon beim Bau des Schleusengrabens im Jahr 1445 entstanden und bietet die Möglichkeit, den Wasserstand bis hinauf zum Serrahnwehr künstlich aufzustauen oder eben so weit wie möglich abzulassen – was immer wieder für scharfe Kritik der Schiffsführer bei der zuständigen Landherrenschaft sorgt.
Das künstliche Niedrigwasser hat einen kuriosen Nebeneffekt: „Den Fischereipächtern kommt das Auspumpen der Serrahnkuhle sehr erwünscht. Bei einem Zug heute Morgen wurden etwa 70 Pfund meist großer Fische gefangen“, schreibt die Bergedorfer Zeitung am 19. Juli 1900 – und legt in den folgenden Tagen Berichte über Fischzüge im Serrahn mit bis zu 300 Pfund Beute nach. Einziges Problem sind dabei die vielen teils scharfkantigen Gegenstände, die schon damals illegal im Serrahn versenkt werden: Sie zerreißen regelmäßig das Netz der Hobbyfischer.
Magistrat und Bürgervertretung liebäugeln mit einem modernen Kran am Hafen
Im Herbst 1900 scheint die Kaianlage im Rohbau fertiggestellt zu sein, sodass es um die weitere Gestaltung der Anlege- und Verlademöglichkeiten geht. Am 22. September beschließen Bergedorfs Magistrat und Bürgervertretung, in die Mauer wasserseitig die bis heute typischen Treppen einbauen zu lassen. So werde das Betreten der Lastkähne im Vergleich zu den bisher vorgesehenen Steigeisen deutlich vereinfacht.
Auch die Pläne für die Logistik an Land sind jetzt Thema: „Herr Ratmann Baaß gibt die Notwendigkeit der Aufstellung eines Kranes zu, die in Aussicht genommen sein. Wie zudem auch die Anlegung eines Schienengleises zur Verbindung des Hafens mit dem Bahnhofe, welche Frage Herr Jacobi zur Sprache brachte. Es entspann sich noch eine längere Debatte um die Deckung der Summe.“
Schienen sollen den Hafen und Bergedorfs Bahnhof verbinden
Es sollte noch zehn Monate dauern, bis Magistrat und Bürgervertretung 12.000 Mark „auf Anleihe“ freigaben, um den bis heute als Wahrzeichen des Bergedorfer Hafens erhaltenen rund Fünf-Tonnen-Kran anzuschaffen. Von Technik-Historiker Gorch von Blomberg im Lichtwark-Heft von 2022 detailreich aufgearbeitet, wird der Beschluss am 28. Juli 1901 als Teil eines weitreichenden Planungskonzepts für die Serrahnstraße beschrieben: „Nach vorgenommener Pflasterung solle ein Schienenstrang mit Drehscheibe angelegt werden, um so die Kaianlagen mit der Bahn in direkte Verbindung zu bringen“, heißt es in der Bergedorfer Zeitung. Die bereits laufenden Verhandlungen mit der Bahn „versprechen den besten Erfolg“.
Und die Pläne reichen sogar den Schleusengraben entlang bis zum heutigen Wohnquartier Glasbläserhöfe: „Für später sei auch in Aussicht genommen, einen Schienenstrang bis zur Glashütte Hein & Dietrichs zu legen, um die Fabriken mit der Bahn und dem Hafen zu verbinden und so Handel und Industrie zu heben. Vorläufig aber handele es sich darum, nur das Notwendigste zu schaffen.“
Sand aus dem Sachsenwald lässt den Schleusengraben verlanden
Tatsächlich kommt es nie zu dem erhofften direkten Bahnanschluss des Hafens. Immerhin entsteht aber 1909 ein von der Stadt Bergedorf finanziertes „Industriegleis“, das die Fabriken am Kampdeich an die Staatsbahn anschließt.
Gleich nach der Fertigstellung des Hafens muss Bergedorf trotz leerer Kassen noch eine ganz anderes kostspieliges Problem schultern: Weil die Bille Unmengen von Sand aus dem Sachsenwald in den Schleusengraben transportiert, entstehen in diesem Kanal immer wieder für die Schifffahrt gefährliche Untiefen. Das unumgängliche Ausbaggern ist während der Hafenarbeiten aber offenbar sträflich vernachlässigt worden.
„Ordnung für Quai- und Krananlagen am Serrahn“ vom 5. Juni 1902
„Herr Harden führt aus, dass seit 1892 für die Baggerei eigentlich nichts geschehen sei“, berichtet die Bergedorfer Zeitung am 27. Oktober 1901. „Unter anderem der Serrahn sei durch die Abflüsse der Siele und durch Regengüsse verschlammt. Und in der Nähe der Schweinsbrücke (etwa an der Stelle der heutigen CCB-Brücke) bildeten sich Sandberge im Schleusengraben, die eine Gefahr für die Schifffahrt darstellen.“ Zu Beseitigung werden „einstimmig 2000 Mark bewilligt“.
Auch wenn es keine Einweihungsfeier des neuen Bergedorfer Hafens gibt, gilt der 5. Juni 1902 als sein erster Tag. Denn mit diesem Datum tritt die „Ordnung für Quai- und Krananlagen am Serrahn“ in Kraft und spült endlich Nutzungsgebühren in die wegen der immensen Investitionen klamme Bergedorfer Stadtkasse. Trotz des starken Schiffsverkehrs bleibt der Hafen allerdings ein Zuschussgeschäft, weil die Gebühren bewusst sehr niedrig angesetzt sind: Der Magistrat versteht ihn als seine Form der Wirtschaftsförderung – und sorgt mit dem Hafen tatsächlich dafür, dass sich die um 1880 spürbar einsetzende Industrialisierung bis zum Ersten Weltkrieg rasant fortsetzt.
Wachsender Lkw-Verkehr legt Bergedorfs Hafen lahm
Mitte der 1950er-Jahre findet die Geschichte des Bergedorfer Hafens ein jähes Ende: Bergedorfs Stadtplaner führen die Brücke der Bergedorfer Straße/B 5 so niedrig über den Schleusengraben, dass keine Lastkähne den Serrahn mehr erreichen konnten. Vielleicht entspricht das dem Zeitgeist, denn jetzt übernehmen überall Lkw die Facht der Schiffe.
Wie gefragt der Bergedorfer Hafen 1902 hingegen ist, belegt eine Meldung der Bergedorfer Zeitung vom 16. Oktober jenes Jahres: „Der Schiffsverkehr Bergedorfs beschränkt sich nicht nur, wie man vielleicht anzunehmen geneigt ist, auf die Beförderung von Frachten von und nach Hamburg. So lief dieser Tage hier ein Zweimaster-Ewer aus Rendsburg ein, beladen mit Koks für die hiesige Kohlenhandlung von J. Schönwandt, der den langen Wasserweg Kaiser-Wilhelm-Kanal, Elbe, Dove-Elbe, Schleusengraben in vier Tagen zurückgelegt hat. Der Ewer hatte das Glück, von Bergedorf gleich wieder mit voller Ladung auslaufen zu können. Er nahm hier eine für Kiel bestimmte Ladung Falzziegel vom Friedrichsruher Tonwerk auf.“
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Oberhalb der schweißtreibenden Hafenarbeit geben sich die Bergedorfer auf dem Schlossteich übrigens schon im Sommer 1900 dem Freizeitvergnügen hin. Am 15. Mai berichtet die Bergedorfer Zeitung: „Eine Bootsstation ist im Billebassin bei den Anlagen an der Holstenstraße von einem Hamburger Herrn angelegt und gestern eröffnet worden. Eine Anzahl hübscher Boote standen gestern den Fahrlustigen zur Verfügung und waren auch fast immer besetzt. Hoffentlich wird auch in Zukunft die Frequenz eine genügende sein, damit der Unternehmen, welches nur mit Freude begrüßt werden kann, von Bestand bleibt.“