Bergedorf. Jeder achte Erwachsene in Deutschland kann nicht ausreichend lesen und schreiben. Ein Betroffener erzählt, wie sich das anfühlt.

In Deutsch hat er immer nur Fünfen kassiert, da hat sich keiner drum gekümmert: „Wir hatten viele alte Lehrer, die haben uns 32 Schüler halt so durchgeschleift“, erinnert sich Uwe Boldt (64). Nach der Schule schickte ihn das Arbeitsamt zum Hamburger Hafen: „Da hab ich Papiere geschleppt. Was da drauf stand, wusste ich aber nicht. Und die Packlisten habe ich immer von den Kollegen kontrollieren lassen.“ Denn er ist einer von 6,2 Millionen Erwachsenen mit deutscher Muttersprache, die Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben – also jeder Achte. Knapp 60 Prozent sind männlich.

Rechtschreibung und Kommata seien absolute Mangelware, meint er grinsend: „Bis 30 hab ich mich irgendwie durchgemogelt, für den Führerschein brauchte ich zum Glück nur ankreuzen“, sagt Uwe Boldt, der besser lernen konnte, eine Containerbrücke zu fahren oder einen großen Stapler mit 70 Tonnen Eigengewicht. Aber manche Kleinigkeit im Alltag war und ist doch eher hinderlich: „Ist schon blöd, wenn Zucker oder Mehl im Supermarkt plötzlich eine andere Verpackung haben.“ Landkarten lesen indes könne er ganz gut – etwa früh morgens auf der Urlaubsreise nach Dänemark: „Im Dunkeln kann ich mir die Fixpunkte zum Abbiegen besser merken.“

Jeder achte Erwachsene hat Probleme beim Lesen und Schreiben

Zunächst traute er sich nicht und schlich bestimmt viermal an dem Alfa-Mobil vorbei, als es in Lüneburg stand: Dann aber wurde er angesprochen und machte einen Beratungstermin aus. Schließlich gibt es in fast jeder Stadt kostenlose Kurse, um Lesen und Schreiben zu lernen, auch bei der Bergedorfer VHS oder in Billstedt.

Dafür warb das Alfa-Mobil jetzt auch auf dem Bergedorfer Bahnhofsvorplatz. „Wir machen auf Lese- und Schreibangebote aufmerksam. Das zehnjährige Projekt wird bis 2026 mit 180 Millionen Euro von Bund und Ländern finanziert“, sagt Agnieszka Jaworska vom Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung. Sie weiß indes, dass gerade mal 0,7 Prozent aller Betroffenen ein solches Angebot annehmen, zu hoch ist doch die Scham.

Haou Tanou Zongo hat keine Scham, sich Hilfe zu holen: Die Frau aus Burkina Faso will nach 15 Jahren Deutschlernen jetzt noch mehr das Sprechen üben – dabei hilft ihr auch Sohn Cedric.
Haou Tanou Zongo hat keine Scham, sich Hilfe zu holen: Die Frau aus Burkina Faso will nach 15 Jahren Deutschlernen jetzt noch mehr das Sprechen üben – dabei hilft ihr auch Sohn Cedric. © BGZ | strickstrock

Manchmal braucht es einen Bruch im Leben, um sich neu zu orientieren. Wenn man etwa Eltern wird und dem Nachwuchs ein Kinderbuch vorlesen möchte. Oder wenn die Ehefrau stirbt, die jahrzehntelang geholfen hat. Angesprochen werden auch die jährlich 50.000 Jugendlichen ohne Schulabschluss. Und natürlich seien auch Menschen gemeint, die Deutsch als Zweitsprache sprechen – wie Haou Tanou Zongo, die vor 15 Jahren aus Burkina Faso nach Neuallermöhe kam: „Meine Mutter versteht schon gut Deutsch, will aber noch mehr das Sprechen üben“, sagt Sohn Cedric, der eine Ausbildung zum Speditionskaufmann macht.

„Ich habe schon einen Beratungstermin für nächsten Dienstag ausgemacht und treffe die Lohbrüggerin bei der Hamburger Arbeit am Sander Markt“, freut sich Michelle Bunschoten vom kooperierenden Projekt „Neu Start Arbeit“. Ein zweitere Kooperationspartner nennt sich „Neu Start St. Pauli 360 Grad“, der auch sogenannte Sensibilisierungs-Workshops anbietet, etwa für die Mitarbeiter vom Jobcenter, erklärt Marcel Marius Redder: „Menschen haben sehr raffinierte Strategien, um ihre Schwäche zu verdecken. Sie merken sich zum Beispiel die Tastenfolge am Geldautomaten, bestellen in der Kantine einfach ,dasselbe bitte’ oder täuschen bei der Fortbildung eine Sehnenscheidenentzündung an, mit verbundenem Arm.“

Da wäre auch noch das Beispiel von dem Mann, der einen Anamnesebogen beim Arzt ausfüllen soll, er aber seine Brille im Auto vergessen habe. „Dann läuft er schnell zum Auto, in dem seine Frau sitzt und alles ausfüllt“, erfuhr der studierte Psychologe Redder, der zudem von vielen Betroffenen den Wunsch hörte, dass die Fahrkartenautomaten für Bus und Bahn eine Spracherkennung bekommen.

Da ist Hafenfacharbeiter Uwe Boldt inzwischen schon gewieft: „Ich tue einfach so, als würde ich schreiben. Bei Whatsapp kann man nämlich sprechen, und dann werden die Wörter übersetzt und eingetippt.“ Dabei kann der heute 64-Jährige durchaus stolz auf seine Lernerfolge sein – nicht zuletzt darauf, dass er die Lüneburger Selbsthilfegruppe „Wortblind“ mit gegründet hat. Auch in Hamburg gibt es eine solche Selbsthilfe: Das „alpha-Team“ trifft sich an jedem zweiten Freitag um 17 Uhr in der Bücherhalle am Hühnerposten.