Bergedorf. Das neue Lichtwark-Heft blickt zurück in die jüngere Geschichte. Es geht um Wohnungsnot, starke Technik und eine große Investition.
Es ist wieder an der Zeit, Bergedorfs jüngere Geschichte lebendig werden zu lassen: Wieso könnte die Baugenossenschaft Bergedorf-Bille 2022 ihr 100-jähriges Jubiläum feiern? Welche überraschende Technik steckt im frisch restaurierten Hafenkran am Serrahn? Und warum wurde ausgerechnet in Bergedorfs Betrieben die unglaubliche Zahl von 4500 Zwangsarbeitern eingesetzt?
Detaillierte Antworten gibt das frisch erschienene Lichtwark-Heft 2022, das ab sofort für 8 Euro in allen Buchhandlungen zu haben ist – und beim Kultur- & Geschichtskontor am Reetwerder 17, das auch diese 80 Seiten starke Ausgabe herausgegeben hat. „Wir setzen wieder einige interessante Schlaglichter, die Bergedorfs Vergangenheit menschlich und unser Heute damit ein wichtiges Stück verständlicher machen“, sagt Kontor-Chefin Caroline Bergen.
Neues Lichtwark-Heft blickt zurück auf Bergedorfs jüngere Geschichte
Sie selbst hat unter den sieben Themen des Lichtwark-Heftes einen klaren Liebling: „Ich bin begeistert von der Wanderschaft des Tischlergesellen Julius Putfarken aus Kirchwerder. Er hat sich vor 125 Jahren auf Tour nach Süddeutschland gemacht und seine Erlebnisse in drei Tagebüchern festgehalten.“ Die vom ehemaligen Werksstudenten des Geschichtskontors, Noah Berger, in seiner Bachelorarbeit ausgewerteten Aufzeichnungen „geben sehr persönliche Einblicke in das Leben kurz vor dem Beginn des 20. Jahrhunderts, die ganz viel Wärme in dieses Lichtwark-Heft bringen. Ein echtes Fundstück.“
Ganz ähnlich, wenn auch etwas technischer, verhält es sich mit der Geschichte des historischen Krans am Serrahn. „Das kleine Kraftpaket“ hat Autor Gorch von Blomberg seine Forschung überschrieben, die auf einem Untersuchungsauftrag des Bezirksamts basiert. Auf 16 Seiten blickt auch er zurück in die Zeit der vorletzten Jahrhundertwende, als Bergedorf noch stark von den Ausläufern der Industriellen Revolution geprägt war. Die damals eigenständige Stadt fasste den Beschluss, ihren maroden Hafen am Schleusengraben so umfassend zu modernisieren, dass der bis heute erhaltene komplette Neubau direkt unterhalb des Bille-Wehrs entstand.
Als Hafenkran wurde das modernste bestellt, was es vor 120 Jahren gab
Die modernen, gemauerten Kaianlagen trieben das aufstrebende Bergedorf zwar finanziell fast in den Ruin, doch trotzdem ließ es sich der Rat der Stadt nicht nehmen, als Hafenkran auch noch das Modernste zu ordern, was es vor 120 Jahren gab: Gorch von Blomberg weist nach, dass es sich um einen der ersten Hafenkräne handelt, die mit Elektroantrieb arbeiteten. 1902 hergestellt bei der Düsseldorfer Kranbaugesellschaft Liebe-Harkort, war die Konstruktion aus genietetem Stahl mit fünf Tonnen Hubkraft zudem das stärkste, was es seinerzeit auf dem Markt gab.
Knapp 20 Jahre später wurde Bergedorf von einem ganz anderen Thema geprägt: Das Ende des Ersten Weltkriegs (1914-1918) ließ ein riesiges Elend über die Menschen kommen. Die Versorgung mit Lebensmitteln war denkbar schlecht, zudem viele Familienväter verstümmelt, wenn sie überhaupt zurückgekehrt waren. Besonders dramatisch wurde die Lage auf dem Wohnungsmarkt. Allein in Bergedorf saßen 500 Familien auf der Straße, waren bei der Stadt als dringend wohnungssuchend vermerkt. Doch der Wohnungsbau wurde dem freien Markt überlassen.
Baugenossenschaft sollte gegen Wohnungsnot in Bergedorf wirken
SPD-Bürgermeister Wilhelm Wiesner, seit 1919 im Amt, setzte alles daran, dieses Elend zu beseitigen. Doch er brauchte vier lange Jahre, bis er endlich die Grundlage für etwas gelegt hatte, das heute fest zum Bezirk gehört: Im März 1922 gründete Bergedorfs SPD-Fraktion zusammen mit dem Allgemeinen Gewerkschaftsbund die „Baugenossenschaft Bergedorf“. Sie nahm sofort die Arbeit auf und zeichnete verantwortlich für bis heute erhaltene Neubaugebiete wie den Heinrich-Heine-Weg oder wichtige Teile des ersten Bergedorfer Großprojekts für Wohnungsbau auf dem Gojenberg.
Natürlich kam die „Baugenossenschaft Bergedorf“ zehn Jahre nach ihrer Gründung mit den aufkommenden Nationalsozialisten in Konflikt, war sie in allen Positionen doch ausschließlich mit Sozialdemokraten und Gewerkschaftern besetzt. Welche Folgen das für sie im Dritten Reich hatte und wie es später zur Fusion mit der „Baugenossenschaft Bille“ kam, beschreibt Autor Dr. Holmer Stahncke in seinem Beitrag.
Bis zu 4500 Menschen mussten in Bergedorf Zwangsarbeit leisten
Noch detailreicher ist Christian Römmer beim Thema „Zwangsarbeit in Bergedorf und den Vierlanden“. Der ehemalige Leiter des Kultur- & Geschichtskontors und heutige Archivar der KZ-Gedenkstätte Neuengamme hat neue Dokumente zu diesem lange verschwiegenen Kapitel der Geschichte der Bergedorfer Wirtschaft ausgewertet. Sein Fazit: Praktisch überall wurden Zwangsarbeiter eingesetzt, egal ob in den Fabriken, in der Landwirtschaft oder auch im Handwerk. Bis zu 4500 Menschen mussten in Bergedorf unter teils katastrophalen Bedingungen arbeiten. Sie waren vor allem aus der Sowjetunion und Polen verschleppt worden, stammten aber auch aus den Niederlanden, Frankreich, Belgien und Italien.
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Basis dieser Zahlen sind die jetzt geöffneten Archive des Internationalen Suchdienstes in Bad Arolsen, den die Alliierten bereits 1944 eingerichtet hatten“, sagt Caroline Bergen. „Diese Auswertungen werden Grundlage einer Wanderausstellung sein, die wir gerade mit fast allen Hamburger Geschichtswerkstätten vorbereiten.“ Premiere wird voraussichtlich im Januar oder Februar 2023 in St. Nikolai in der Hamburger City sein. Wann die Ausstellung nach Bergdorf kommt, steht noch nicht fest.
Ausgesuchte Themen des Lichtwark-Heftes stellen wir in den kommenden Tagen vor.