Bergedorf/Lohbrügge. Horrorunfall in Lohbrügge: Urteil vor Amtsgericht erst in zwei Wochen. Welche Zufallsbegegnungen nun zu weiteren Aussagen führten.

Noch kein Urteil im Prozess gegen den Todesfahrer vom 9. August 2021, dafür aber unerwartete Begegnungen und neue Erkenntnisse über den ungünstigen Medikamentenmix beim Angeklagten: Ursprünglich wollte Richter Dr. Sebastian Gößling vom Amtsgericht Bergedorf am Mittwoch, 10. Mai, ein Urteil in Sachen des unter anderem wegen Fahrlässiger Tötung angeklagten Ismail S. sprechen. Der steuerte an jenem Abend jenen Mercedes SUV, der an der Lohbrügger Landstraße Pizzalieferant Hezbullah A. (23) zum tödlichen Verhängnis wurde. Bei dem schlimmen Unfall wurde A. am Straßenrand stehend von dem außer Kontrolle geratenen, tonnenschweren Wagen mitgerissen und erlag später seinen schweren Verletzungen.

Gößling wollte vor der Urteilsverkündung eigentlich nur noch den toxikologischen Befund aus dem Institut für Rechtsmedizin hören. Die Verteidigung mit Rechtsanwältin Constanze von der Meden präsentierte aber unerwartet zwei weitere Zeugen – darunter einen, der wahrlich wundersam auftauchte und an dem Katastrophenabend eine wesentliche Rolle spielte. Deshalb wird es nun erst am 23. Mai einen Richterspruch geben.

Was sagt das Amtsgericht Bergedorf nun zur Fahrtüchtigkeit von Ismail S.?

Sowieso muss das Gericht eine prozessentscheidende Frage beantworten: die nach der Fahrtüchtigkeit des Angeklagten. „Fahrtüchtigkeit ist ein juristischer Begriff“, weiß auch Dr. Alexander Müller und bekräftigt, dass sein rechtsmedizinischer Bericht diesbezüglich keine bindende Kraft besitzt.

So viel jedoch kann der Gutachter aus der rund zwei Stunden nach dem verheerenden Autounfall von S. entnommenen Blutprobe verraten: „Wir haben fünf verschiedene Verbindungen gefunden. Schon jede einzelne ist ein Problem im Straßenverkehr.“ Dabei hebt der forensische Experte insbesondere zwei nachgewiesene Mittel hervor: Oxycodon (Schmerzmittel mit hohem Suchtpotenzial, eigentlich zur Behandlung von Tumorpatienten gedacht) und Zopiclon, ein kurz wirksames Schlafmittel. Ein für Müller „extrem problematischer“ Medikamentenmix, weil motorische und kognitive Fähigkeiten negativ beeinflusst werden.

Dauerschmerzen: 800 Tabletten in 179 Tagen von einem „Rauschmittel“

Beides nimmt Ismail S. schon geraume Zeit ein. Er leidet seit mehreren Jahren unter Cluster-Kopfschmerzen, Schmerzen im Wirbel- und Rückenbereich sowie an den Beinen nach einem früheren Autounfall sowie schlaflosen Nächten. Zudem stresst die Selbstständigkeit im Pflegebereich: Ismail S. und Ehefrau Yonca (33) stecken im Sommer 2021 im doppelten Umzugsstress, sowohl geschäftlich als auch privat. „Ich hatte keine Zeit zum Arzt zu gehen, war 16, 17 Stunden nur für andere da“, erklärt der Angeklagte. Was er dagegen macht? Einen undurchsichtigen Mix an Medikamenten einnehmen – wie es scheint.

Welche Tabletten er am 9. August schluckte, weiß der Altenpfleger heute nicht mehr. Offenbar aber viel zu viel: Insbesondere sein Oxycodon-Konsum scheint außer Kontrolle geraten zu sein. 800 Tabletten einer rauschmittelähnlichen Substanz in nur 179 Tagen – eine „stattliche Dosis auf Grundlage einer dünnen Vorgeschichte“, urteilt Alexander Müller, nachdem Ismail S.’s ehemaliger Arzt aus Pinneberg, Andreas J., ebenfalls nur wenig Erhellendes vor Gericht zu seinem Patienten beisteuern kann. „Ich habe ihn einmal in der Behandlungszeit vom 8. Januar bis 5. Juli 2021 gesehen, sonst kam er an behandlungsintensiven Tagen nur zum Rezept rausholen“, sagt der Allgemeinmediziner aus.

Zufallstreffen an einem Spielautomaten

Was aber die eigentliche Prozessplanung durcheinanderwirbelte, waren die unerwarteten Zeugen: Zum einen versucht Yonca S., Licht ins Dunkle des Tablettenkonsums ihres Mannes zu bringen. Schnell wird klar: Die 33-Jährige weiß zwar, was ihr Gatte nimmt, aber nicht wie viel. Zum anderen ist da der Auftritt von Michael P., und wie er überhaupt zu seiner Zeugenaussage kam. Bis zum Abend vor der Verhandlung kannten sich Maler und Altenpfleger laut ihren Angaben nicht, trafen sich zufällig beim Pizza abholen in einem Lokal am Spielautomaten. Ismail S. habe ihm nach ein wenig Small Talk von dem Gerichtsverfahren am Mittwoch berichtet – und wie es der Zufall will, war P. an diesem schicksalsträchtigen Abend involviert.

Was das Ganze noch kurioser macht: P. ist, obwohl er keine neuen Details zum Unfallgeschehen nennen kann, so etwas wie der heimliche Held des Unfallabends. Der 42-Jährige realisiert die Situation 60 Meter und zwei Fahrzeuge vor ihm schnell, holt den medizinischen Koffer heraus und leistet bei dem schwer verletzten Essenslieferanten Erste Hilfe – leider vergeblich. Auch der Abgang des Ersthelfers vom Unfallort ist ungewöhnlich, erklärt aber gewissermaßen sein bisheriges Unbeteiligtsein am Prozess: „Ich habe einen Polizisten gefragt, ob er meine Jacke öffnen könnte, weil meine Hände voller Blut waren. Meinen Namen habe ich zwar angegeben, wurde aber nicht weiter befragt.“