Bergedorf. Die 48-Jährige löst Holger Bork an der Spitze des Amtsgerichts ab. Was sie tut, um die Welt der Verbrechen auch mal zu vergessen.

Die rote Kaffeemaschine verweigert noch ihren Dienst, und manche Umzugskiste ist noch nicht ausgepackt. „Aber mit Blick auf Schloss und Kirche habe ich einen wunderschönen Arbeitsplatz“, schwärmt Jessica Oeser. Fröhlich-flotten Wind bringt die neue Direktorin ins Bergedorfer Amtsgericht an der Ernst-Mantius-Straße. „Endlich weibliche Verstärkung“ hieß es in der Runde mit fünf Männern: Bislang wurden nur die beiden Amtsgerichte in Blankenese und St. Georg von Frauen geleitet.

Dabei war die Berufswahl der 48-Jährigen gar nicht so leicht: Lehrerin oder Bauingenieur wie die Eltern sollten es nicht werden. Architektur und Tiermedizin standen mal ganz oben auf der Liste, aber nach ihrem Schulabschluss in Volksdorf entschied sich Jessica Oeser für die Juristerei: „Der Reiz des Strafrechts ist die menschliche Komponente. Und als Richterin muss ich mich nicht für eine Seite entscheiden, bin nur an Recht und Gesetz und mein eigenes Gewissen gebunden“, beschreibt sie ihre reizvolle Position.

Jessica Oeser leitet jetzt das Amtsgericht in Bergedorf

Der Lebenslauf liest sich überaus geradlinig: 2004 legte sie ihr Staatsexamen ab und ging zunächst ins Harburger Amtsgericht als Vorsitzende einer Zivilabteilung. Dann wechselte sie ins Jugend- und Erwachsenenstrafrecht, seit 2007 war sie als Jugendrichterin Vollstreckungsleiterin für die Justizvollzugsanstalt Hahnöfersand und Vize-Leiterin des Jugendarrestes (ein solcher Arrest gilt als erzieherische Maßnahme, die maximal vier Wochen greift).

2008 wurde Jessica Oeser zur Richterin auf Lebenszeit ernannt. Von 2012 bis 2016 war sie an die Justizbehörde abgeordnet, übernahm darauf die Leitung in Hahnöfersand. Die JVA soll ja bekanntlich bald nach Billwerder verlegt werden – ob die Fälle dann nicht mehr in Harburg, sondern im Bergedorfer Amtsgericht entschieden werden, sei noch nicht festgelegt – „aber ich würde mich freuen“.

Das Interesse begründet sich sicherlich auch mit ihrer Doktorarbeit an der Berliner Humboldt-Universität, der sie sich kriminologisch widmete. Das Thema, für das sie auch in Washington/DC recherchierte: „Einflussmöglichkeiten der Peer Group auf kriminelle/deviante Jugendliche im Rahmen von Präventions- und Resozialisierungsprojekten“. Sie wollte herausfinden, wie man diesen Einfluss positiv nutzen kann.

Gut 70 Menschen arbeiten am Amtsgericht, darunter 15 Richter

Nach weiteren Stationen am Amtsgericht Mitte und am Hanseatischen Oberlandesgericht wechselte sie nun als Direktorin nach Bergedorf, wo sie Holger Bork nach 15 Jahren ablöst. Ihre gut 70 Kollegen hat Jessica Oeser bereits kennengelernt, darunter 14 Richter. Mit „Akte, Hauptverhandlung, Urteil“ ist es jedoch längst nicht getan. Denn hinter jedem Gericht steht eine vielschichtige Organisation – vom Nachlass- und Grundbuchbereich über die Gerichtsvollzieher bis hin zu den „Kostenbeamten“, die zum Beispiel die Abrechnung für Gutachter übernehmen. „Mir wurde gesagt, ich dürfe ein gut laufendes, strukturiertes Gericht übernehme, das zudem sehr kollegial ist. Das hat sich mir schon in der ersten Woche bestätigt“, sagt sie dankbar.

Hunderte Urteile hat sie bereits gesprochen, wobei die Verfahren und Sachverhalte immer komplexer werden, „weil auch die Aufklärung langwieriger und schwieriger wird“. Da darf betont werden, dass „die Kriminalität in Deutschland seit Jahren relativ stark sinkt“.

Ein Willkommensgruß: Jessica Oeser (48), die neue Direktorin am Bergedorfer Amtsgericht, freut sich über den Blumenstrauß ihrer Kollegen.
Ein Willkommensgruß: Jessica Oeser (48), die neue Direktorin am Bergedorfer Amtsgericht, freut sich über den Blumenstrauß ihrer Kollegen. © BGZ | Strickstrock

Zum Glück sehr selten würden Bilder von verletzten Menschen oder missbrauchten Kindern sie auch noch privat beschäftigen: „Da gelingt mir der Abstand. Ich nehme höchstens mal eine fachliche Frage mit nach Hause. Denn mein Freund, der übrigens in Bergedorf geboren ist, arbeitet auch als Richter“, sagt die Frau, die mitten in der Stadt wohnt – und ihren Stadtteil nicht nennen möchte, weil doch schon einigen Berufskollegen blöd nachgestellt wurde.

In der Freizeit mit Pferd und VW-Bus unterwegs

Lieber aber schnuppert sie frische Luft und Stallgeruch: „Ich reite gern und fahre oft zu meinem Pferd, das der Rasse nach ein Spanier ist: Es heißt PRE, das steht für Pura Raza Espanola.“ Der Stall steht im Hamburger Osten: „Da ist Bergedorf ganz praktisch schon auf halbem Weg.“

„Strecke machen“ steht also nicht nur beruflich auf dem Programm: „Vor Corona machten wir am liebsten Fernreisen. Aber jetzt haben wir einen VW-Bus und reisen gern durch Europa“, sagt die 48-Jährige, die sich zuletzt an schöne Wanderwege auf Korsika erinnert.

In solchen Momenten kann sie die Welt der schlimmen Verbrechen gut vergessen – wie etwa den Jugendlichen mit seinen 18 Taten und einem ganzen Umzugskarton voller Akten zu Diebstahl, Raub, Körperverletzung und Betrug. Wenn es nicht gerade Mord oder versuchte Tötung ist, landen übrigens alle Jugendsachen beim Amtsgericht. Nur bei den Erwachsenen ist das anders. Da werden bis zu vier Jahre Haft verhandelt oder im Zivilrecht ein Streitwert bis zu 5000 Euro. Wer mehr auf dem Kerbholz hat, muss sich vor dem Landgericht verantworten.

Daher wird sie den riesigen Radiergummi auf ihrem Bergedorfer Schreibtisch wohl nicht brauchen: „For really big mistakes“ steht drauf. Jessica Oeser jedenfalls hat offenbar alles richtig gemacht. Und ihrer störrischen Kaffeemaschine wird sie auch noch den rechten Weg weisen.